Michael-Chabon-Roman Die Kirche des Vinyls

Autor Chabon: Figurenensemble aus Männern mit Hang zum Popkultur-Nerdtum
Foto: Jennifer ChaneyDie Telegraph Avenue führt von der Universitätsstadt Berkeley, in deren Kühlschränken vor allem Tempeh und Bio-Obst lagern, in die schwarze Arbeiterstadt Oakland. Es hätte keinen perfekteren Schauplatz für Michael Chabons neuen Roman geben können, der vom alten und neuen Amerika handelt, von schwarzer Subkultur und Sozialgeschichte, von Nostalgie und Kapitalismus. Mitten auf dieser Telegraph Avenue liegt ein Plattenladen namens Brokeland Records.
Es ist natürlich nicht einfach irgendein Plattenladen. Es ist ein Ort der Nostalgie. Er ist das Baby von Archy und Nat, den ungleichen Besitzern des Ladens, einem schwarzen Philosophen in Glitzer-Anzügen und einem weißen, jüdischen Hitzkopf. Er ist eine Anlaufstelle für all die Besessenen, die sich nichts Wertvolleres vorstellen können als die seltene Pressung einer alten Jazz-Platte. Er ist, wie es im Roman heißt, eine Kirche des Vinyls.
Doch der treuen Gemeinde aus Stammkunden und Nachbarn droht die Apokalypse. Gilbert Goode, ein ehemaliger Football-Star und der fünftreichste Schwarze Amerikas, plant, in der Telegraph Avenue ein riesiges Einkaufszentrum zu eröffnen. Mit einer ganzen Etage für Musik und einer riesigen Vinyl-Platten-Auswahl. Dazu kommen private Sorgen. Archy wird bald Vater werden, und immer wenn ihm die Schwangerschaft seiner Frau einfällt, überschwemmt ihn eine Panik über das nahende Ende seiner Alte-Männer-Jugend. Archys Frau, die als Hebamme arbeitet, zweifelt nach einer medizinischen Katastrophe während einer Hausgeburt an ihrem Job und sowieso an Archys Treue und seinen Vater-Fähigkeiten.
Archys Vater, der einst seine Familie im Stich gelassen hat, ist ein ehemaliger Kung-Fu-Film-Star, der auch zu unlauteren Mitteln greifen würde, um sein Comeback zu erleben. Der Pianist aus Archys Band, der für Archy hingegen wirklich wie ein Vater war, wird unter seiner eigenen Hammond-Orgel begraben und hinterlässt einen Papagei. Und Archys außerehelicher Sohn, dessen Existenz er vierzehn Jahre lang verdrängt hat, taucht aus dem Nichts (beziehungsweise aus Texas) auf.
Das ist der dramaturgische Rahmenbau für Chabons großartiges Figurenensemble, das mit Ausnahme von Archys und Nats Ehefrauen hauptsächlich aus Männern mit Hang zum Popkultur-Nerdtum besteht: Plattensammlern, Cineasten, kiffenden Sammelkarten-Messe-Besuchern, einem Bestatter mit Black-Panther-Vergangenheit und Sitz im Stadtrat und natürlich dem King of Bling - Archys und Nats Vermieter, der ebenfalls auf der Telegraph Avenue ein Geschäft für Goldankauf betreibt und dem der halbe Häuserblock gehört.
Messie oder Messias?
Sie alle stattet Chabon in verschachtelten Sätzen großzügig mit Beschreibungen, Vergleichen, Biografien, Wesenszügen, Vintage-Anzügen oder Kung-Fu-Trainingsklamotten und Ansichten zur Musikgeschichte aus. Gefühlt gibt es in diesem Buch kein Paar Turnschuhe, das nicht bis auf die Schnürsenkelfarbe beschrieben wird. Das verleiht dem Buch an manchen Stellen eine Schwerfälligkeit und eine Pedanterie, die weder dem Witz Chabons noch dem lässigen Grundgefühl seines Settings gerecht wird.
Und so kann man nie ganz sicher sein, ob man bei einem literarischen Messie gelandet ist, der sich von keiner Formulierung trennen kann, oder bei einem literarischen Messias. Denn nur letzterer könnte so etwas fertigbringen wie den dritten Teil des Buches - denn der besteht nur aus einer einzigen Szene, erzählt in einem einzigen Satz über 16 Seiten. Er beginnt in der Wohnung des verstorbenen Pianisten und folgt dessen Papagei beim Flug in die Freiheit aus dem Fenster. In der wortwörtlichen Vogelperspektive geht es über die Stadt hinweg, in der Erpressungen geplant und Babys zur Welt gebracht werden und Nats Sohn zum ersten Mal Liebeskummer hat. Das ist sensationell gut gemacht. Eine Szene wie ein langer Kameraschwenk. Das literarische Äquivalent zum One-Shot-Musikvideo, etwa wie "Wannabe" von den Spice Girls. Auch wenn Archy und Nat diesen Vergleich aus musikgeschmacklicher Perspektive natürlich niemals gutheißen würden.
Michael Chabon: Telegraph Avenue. Aus dem amerikanischen Englisch von Andrea Fischer. 592 Seiten, Kiepenheuer & Witsch. 24,99 Euro. Erscheint am 10.4.2014 ( Buch und Kindle Edition bei Amazon erhältlich)