Therapie-Roman Denkerwucht gegen Sexsucht
Als Irvin D. Yalom ein Kind war, fuhr er zweimal in der Woche in die Zentralbibliothek von Washington D.C. Nur ein Regal war für ihn dort von Interesse: das mit den Biografien. Ein Jahr lang las sich der Sohn russischer Einwanderer durch die Geschichten fremder Leben, von A wie John Adams bis Z wie Zoroaster. Yalom wurde Psychiater und Professor in Stanford und lebte erst sehr viel später seine immer schon währende Liebe zur Belletristik aus. "Einen Roman zu schreiben, ist das Beste, was ein Mensch tun kann", sagt er. Heute schreibt Yalom Romane, in denen große Denker eine tragende Rolle spielen.
In seinem dritten Buch "Die Schopenhauer-Kur" führt der US-Amerikaner seine Leser wieder direkt ins therapeutische Behandlungszimmer. Da kennt sich der Herr Professor im Ruhestand bestens aus, wovon man sich bereits in seinen vorherigen Romanen "Die rote Couch" (1998) und "Und Nietzsche weinte" (2001), überzeugen konnte. Beides erfolgreiche Bücher der von Yalom kreierten literarischen Gattung "teaching novel", Romanen also, die ihre Leser einerseits unterhalten und andererseits weiterbilden möchten. Sie wurden bisher in zwanzig Sprachen übersetzt, "Und Nietzsche weinte" führte mehr als vier Jahre die israelische Bestseller-Liste an.
Der emeritierte Professor ist außerdem Verfasser zahlreicher psychologischer Publikationen wie zum Beispiel "Theorie und Praxis der Gruppenpsychotherapie" oder "Existentielle Psychologie". In den USA gilt Yalom neben Oliver Sacks ("Awakenings. Zeit des Erwachens") als der Kultautor der Psychiatrie-Szene.
In Yaloms neuestem belletristischen Werk erfährt der angesehene Arzt und Psychiater Dr. Julius Hertzfeld nach einer Routineuntersuchung, dass er einen bösartigen Hauttumor hat und bald sterben wird. Niedergeschmettert von der Diagnose sucht der 65-Jährige Zuflucht in der Literatur. Eins seiner Lieblingswerke, Nietzsches "Also sprach Zarathustra", ermutigt ihn, weiterhin als Therapeut zu arbeiten. Die Antwort auf Zarathustras literarische Sinnfrage ist für Dr. Hertzfeld nämlich eindeutig: Er möchte sein bisheriges Leben bis in alle Ewigkeit so weiter führen.
In seiner wiedergefundenen Euphorie beschließt er sogar, seinen größten beruflichen Misserfolg, den ehemaligen Patienten Philip Slate, aufzusuchen. Hertzfeld hegt ein wenig die Hoffnung, er habe mit seiner damaligen Therapie doch etwas bei seinem Patienten bewirkt. Jener Philip Slate war vor mehr als zwanzig Jahren zu ihm in die Praxis gekommen, weil er sexsüchtig war. Slate konsumierte Frauen wie andere Menschen Alkohol und fand doch keine Befriedigung dabei.
"Gewöhnlich fungiert Sex für ihn wie Valium", schrieb Hertzfeld damals in die Patientenakte. "Sobald er Sex gehabt hat, ist ihm den ganzen Abend über friedlich zumute und er kann in Ruhe lesen". Drei Jahre lang kam Philip Slate regelmäßig zur Einzeltherapie und war danach trotzdem noch genauso sexbesessen und rastlos wie vorher.
Zwanzig Jahre später trifft Julius Hertzfeld dann auf einen Slate, der behauptet, er selbst habe sich von seiner Sexsucht geheilt, und zwar durch die Lektüre des ausgewiesenen Pessimisten Arthur Schopenhauer. Dieser sei ein perfekter Therapeut für ihn gewesen. Slate ist mittlerweile selbst Philosophischer Berater und hat vor, als Therapeut zu arbeiten, wofür er allerdings noch einen Supervisor benötigt: Dr. Hertzfeld. Der schlägt Philip einen Handel vor: Supervision gegen Gruppentherapie.
"Die Schopenhauer-Kur" behandelt gleich mehrere komplexe Themen. Es geht um Philosophie versus Psychotherapie, Psychotherapie versus Bibliotherapie, also die Selbstheilung durch die Lektüre philosophischer Werke - und natürlich immer wieder um Schopenhauer (1788 - 1860), sein Werk und dessen Bedeutung für die Gegenwart. Das hört sich nach akademisch schwerer Kost an, aber Yalom gelingt es durch seinen mühelos-lockeren Stil, den Leser zu fesseln. Wer sich mit den Schopenhauer nicht so gut auskennt, bekommt hier einen ersten Eindruck vom einsamen Philosophen, der den Pessimismus zum Denkprinzip erhob. Dabei stört es nicht im Geringsten, dass der Autor bei einem anderen, dem Schopenhauer-Biografen Rüdiger Safranski, ausgiebig stibitzt zu haben scheint.
Dem 74-jährigen Yalom ging das Schreiben diesmal nicht leicht von der Hand. Er hatte Schreibblockaden: Schopenhauer "war einer der isoliertesten und einsamsten Menschen, die mir bekannt sind. Wie kann man einen Plot für ihn finden?", fragte er sich. Seine ursprüngliche Idee, Schopenhauer in Beziehung zu einem Jesuiten zu setzen, verwarf der Autor wieder und schrieb das gesamte Buch noch einmal um: "Es funktionierte nicht", sagt er, "und ich gab die ganze Idee auf". Herausgekommen ist ein beachtliches (Lehr-)Werk, dem es auf unterhaltsame Art gelingt, psychologische Praxis mit der Philosophie Arthur Schopenhauers zu verbinden, eine für die Literatur heilsame Verbindung von Intellekt und Lust am Erzählen.
Irvin D. Yalom: "Die Schopenhauer-Kur". btb-Verlag, 448 Seiten, 21,90 Euro.