US-Analyse "Arme Milliardäre" Wie Barack Obama die Rechte stark macht

Vizepräsidentschaftskandidat Ryan, Mitt Romney: Vordenker der neuen Rechten
Foto: SHANNON STAPLETON/ REUTERSSeltsame Dinge passieren in Amerika: Da implodiert ein überdrehter Finanzmarkt und reißt Kredite und Ersparnisse mit sich ins Nichts - doch der Volkszorn trifft nicht die Banker, sondern den Staat, der eingreift, um Schlimmeres zu verhindern. Da droht Millionen von unversicherten Bürgern mit jeder schweren Krankheit auch die Armut und Verelendung - doch Politiker, die daran etwas ändern wollen, werden Freiheitsfeinde genannt. Da siegt ein Schwarzer bei den Präsidentschaftswahlen - doch seine Gegner bezeichnen ihn als Nazi.
Und während hierzulande selbst Liberale an der Unfehlbarkeit des Marktes zu zweifeln beginnen, scheint der amerikanische Glaube an Laisser-faire und Deregulierung ungebrochen, auch wenn ein paar hundert Leute aus Protest darüber zu Dauercampern geworden sind. Wie konnte das passieren?
Diese Frage versucht das Buch "Arme Milliardäre!" von Thomas Frank zu beantworten. Bekannt wurde der Historiker, als er 2005 in dem Buch "Was ist mit Kansas los?" untersuchte, wie der amerikanische Bundesstaat in kaum hundert Jahren von einer Bastion der bäuerlichen Linken zur Hochburg von George W. Bush werden konnte. Die Kultur habe die Wirtschaft als Wahlmotivation einkommensschwacher Amerikaner ersetzt, so in etwa Franks These. Das Feindbild des "kleinen Mannes" sei heute nicht mehr der raffgierige Kapitalist, sondern der linksliberale Eierkopf. Denn der wolle nicht nur den Reichen ihr Geld nehmen, sondern auch den Armen ihren Gott, ihre Waffen und ihren Spaß.
Drei Fehler der Demokraten
Kein Wunder, dass sich Arm und Reich gegen die Linken verbünden. Nicht zuletzt wegen solcher Analysen steht Thomas Frank im Ruf, ein "Michael Moore für denkende Menschen" zu sein, wie ihn die "New York Times" nannte. Frank ist ein Empörter, doch seine Untersuchungen sind lesenswert. Er ist ein Polemiker, aber kein Propagandist.
In "Arme Milliardäre!" widmet sich Thomas Frank nach dem seltsamen Erfolg des George W. Bush nun dem noch seltsameren Erfolg der Tea-Party-Bewegung, den er vor allem in Versäumnissen der Demokraten begründet sieht. Barack Obamas erster Fehler als neugewählter Präsident war demnach, einzelne Großbanken und Konzerne vor dem Ruin zu bewahren. So habe er den Verdacht genährt, "Big Business" und "Big Government" steckten unter einer Decke.
Der zweite Fehler war, dass Obama für seine Gesundheitsreform die Ärztelobby, Pharma- und Versicherungsfirmen an den Tisch holte. Statt eine staatliche Versicherungsagentur zu gründen, die mit privaten Anbietern konkurriert, beschloss Obama nur eine allgemeine Versicherungspflicht. Die gefühlten Gewinner, so Frank, seien die Versicherungsfirmen, denen die Staatsgewalt neue Kunden in die Arme treibt - und so einmal mehr als Freund der Konzerne und Feind des "kleinen Mannes" erscheint.
Ungeahnte Aktualität
Der dritte und größte Fehler war schließlich, dass die Demokraten keine eigene Ideologie formulierten, um auf die Kritik ihrer Gegner zu antworten. Während das Volk nach kategorischen Ansagen dürstete, verrannten sich die Demokraten in Details und wirkten wie Technokraten. Klüger wäre es demnach gewesen, die Interessen des "kleinen Mannes" gegen jene der Lobbyisten auszuspielen, Großbanken zu zerschlagen, die Regulierung des Finanzmarktes zu verschärfen und zugleich die von George W. Bush beschnittenen Bürgerrechte wiederherzustellen: Friede den Hütten, Krieg den Villen der Vorstandsvorsitzenden!
Leider leidet Franks analytische Schärfe unter seiner Polemik. Das beginnt schon da, wo er seinen politischen Gegner auszumachen versucht. Immer wieder schreibt er von der "Neuen Rechten". Mal meint Frank damit die Tea-Party-Bewegung, mal mehr als das. Doch was genau? Schließlich ist "Neue Rechte" ein Begriff, der jedes Jahrzehnt aufs Neue in Position gebracht wird - und zunehmend an Präzision verliert. In den Nachkriegsjahren nannte man konservative Jungintellektuelle so, später bezeichnete man geläuterte Linke ganz ähnlich als "Neokonservative", und dass es in Frankreich und Deutschland ebenfalls eigene "Neue Rechte" gibt, macht es nicht weniger verwirrend.
Die über Jahrzehnte gewachsene außerparlamentarische Infrastruktur aus konservativen Denkfabriken und Stiftungen wird von Frank erwähnt, die Parteiführung der Republikaner ebenso, doch wer hier wem nützt oder schadet, bleibt im Detail oft unklar. Zwar darf man von einem Buch mit rund 200 Seiten und einem sarkastischen Titel wohl keine präzisen Analysen erwarten. Doch auch Franks Gewissheit, dass die Demokraten durch eine linkspopulistische Politik die amerikanische Entsolidarisierung aufhalten und durch eine resolute Rhetorik die konservative Desinformation übertönen können, scheint fraglich.
Um zu verstehen, was Europäern an den USA oft rätselhaft bleibt, ist "Arme Milliardäre" dennoch hilfreich. Zu ungeahnter Aktualität verhilft dem Buch, dass Thomas Frank als Vordenker der "Neuen Rechten" neben dem (inzwischen abgesetzten) Fernsehmoderator Glenn Beck und der (längst verstorbenen) Schriftstellerin Ayn Rand auch den Politiker Paul Ryan ausmacht. Der verfasste vor einigen Jahren ein Manifest gegen die Verflechtungen von Regierung und Großkonzernen.
Heute hält das Paul Ryan jedoch nicht davon ab, die Spenden der Konzerne anzunehmen, um als Vize von Mitt Romney für die Regierung zu kandidieren.
Zuletzt auf SPIEGEL ONLINE rezensiert: Rainald Goetz "Johann Holtrop", Emmanuel Carrères "Limonow", Ulf Erdmann Zieglers "Nichts Weißes", Richard Fords "Kanada", Michael Frayns "Willkommen auf Skios" und Juli Zehs "Nullzeit".