Neuer Roman von Thomas Pynchon 11. September in vier Buchstaben

Pynchon-Thema Spähprogramm: Microsoft wie Greenpeace aussehen lassen
Foto: DPA/ GoogleDas Cover glänzt nachtschwarz, ein paar Lichter blinken. Der Blick in eine New Yorker Hochhausflucht bei Dunkelheit, halt, nein, ein Computerraum mit Servertürmen - und die Titelbuchstaben schieben sich hindurch wie Flugzeuge in Zeitlupe.
Schon ist man mittendrin. Im typischen Verwirrspiel des US-Autors Thomas Pynchon und im Setting seines neuen Romans. "Bleeding Edge", der auf auf Deutsch im Herbst 2014 bei Rowohlt erscheint, setzt ein im New York des Frühjahrs 2001 und endet Anfang 2002, als sich die ganze Welt verändert hat, weil Terroristen Passagiermaschinen ins World Trade Center gelenkt haben. Durch das 500-Seiten-Buch zieht einen im Turbotempo die private Betrugsermittlerin Maxine Tarnow, Mutter zweier Jungs, fast geschieden vom Spekulanten Horst, die einem Mord nachgeht und im Betrugswirrwarr landet - oder andersherum.
So genau weiß man das bei Pynchon nie, Story ist für seine Texte ein dehnbarer Begriff, die Figuren bleiben oft blass - doch ausgerechnet Pynchon, der Autor mit der hyperventilierenden Phantasie, dessen Storys immer ein federndes Gewebe aus Verschwörungen und Täuschungsmanövern sind, wurde diesmal vor Erscheinen von der Realität überholt. Von Edward Snowden.
Gut und Böse verschwinden in der Aschewolke
Der Plot, der "Bleeding Edge" diffus zusammenhält, spielt mit dem Kosmos der Verschwörungstheorien um 9/11. Eines aber wirkt real: Die Softwarefirma hashlingrz, "die Microsoft wie Greenpeace aussehen lässt", und deren Spähprogramm "Promis", das in Pynchons Buch an die NSA verkauft wird. So genannte Bleeding-Edge-Technologie, nicht ausgereift, Benutzen auf eigene Gefahr.
Pynchon geht fundamental anders vor, als die anderen Schriftsteller, die den Anschlag literarisch verarbeitet haben. Nicht so direkt wie John Updike in "Terrorist", einem Text über Selbstmordattentäter, anders als Philip Roth, der in "Exit Ghost" das traumatische Nachbeben einfing, anders als jene, die zeigten, wie alles explodierte, am eindringlichsten wohl Jonathan Safran Foer in "Extrem laut und unglaublich nah".
Das alles braucht Pynchon nicht. Bei ihm ist der 11. September erst nach zwei Dritteln dran. Maxine Tarnow erfährt von den Anschlägen, weil sie unterwegs zur Arbeit an einem Kiosk haltmacht. "Oh-oh" - mehr nicht. Sie geht heim, macht CNN an, das Ganze versteckt in einem Absatz, in dem Pynchon wie immer aufs Tempo drückt, bloß nicht stillstehen. Die blitzschnell dahergeplapperten Dialogwitze hören auch danach nicht auf.
Der Pynchon-Sound ist ideal, um eine Welt abzubilden, deren klare Gut-Böse-Einteilung sich ein für alle Mal in einer Aschewolke aufgelöst hat. Es gibt von allem zu viel: der ungeordneten Kakophonie von Gedankenfetzen, dem großartigen Milieu-Slang, dem Bamm-Bamm-Bamm an Wortwitzen, die unübersetzbar sind, den Dialogen, die ständig in Ellipsen oder Fragezeichen enden, so dass alles in der Schwebe bleibt.
Untypische Inseln im Getöse
Die Art, wie Pynchon alles vorantreibt, entspricht diesem apokalyptischen Durcheinander: Man weiß nicht, wo man zuerst hinschauen soll. Ein einziges lautes Wimmelbuch, unmöglich, alles zu dechiffrieren, zwischen Verweisen auf die antike Dichterin Sappho, die Discothek Studio 54 und die Schauspielerin Barbara Stanwyck, den Rapper Jay-Z und Ikea, Darth Vader, "Denver Clan" und die Musicals von Andrew Lloyd Webber. Ein Stück Postmoderne.
Diese Nebelkerzenschreibe passt zu ihm, dem Mister Mysterious der Weltliteratur, von dem fast nur Schwarz-Weiß-Fotos existieren und zu dessen neuem Buch bei Youtube ein selbstironischer Promofilm zu sehen ist, dessen Echtheit selbstverständlich nicht garantiert werden kann. Mit Mitte 70 hat er diesmal nur vier Jahre seit dem letzten Roman, "Natürliche Mängel", gebraucht - es waren auch schon 17.
Und doch ist etwas anders als bei seinen anderen, sehr viel historischeren Stoffen: Es ist, als habe der Autor das alles selbst gesehen, damals, in den Tagen, Wochen, Monaten nach 9/11. Denn da sind untypische Inseln im Getöse: Wenn er einzelne Szenen heranzoomt, die Geräusche gedämpft, und Maxine Tarnow nur jene Feuerwache wahrnimmt, an der sie vorbeigeht, mit Blumen vor dem Tor, und Nachbarn bringen den Männern was zu essen.
Dennoch: Wer Trost erwartet, soll zu anderen Post-Terror-Büchern greifen. Wer lesen will, wie sich alles zwischen Verschwörung und Gelächter, Realität und Fiktion auflöst, ist bei Pynchon richtig.
Als ob die Ironie schuld wäre an den Ereignissen des 11. September, weil sie das Land vom Ernst abgehalten und so sein Verhältnis zur Realität geschwächt habe, meint eine Freundin Maxines, als irgendwann nur noch Dokus und Biopics im Fernsehen laufen. Alles werde jetzt nur noch wörtlich genommen.
Überall - nur nicht bei Pynchon.
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