Linke Politik Auf der Suche

Julia Fritzsche
Foto: Julia Schärdel/ Edition NautilusEigentlich liegt der Beschiss offen zutage: Während der vergangenen zwanzig Jahre wurde Hartz IV erfunden, die Gesundheitsversorgung zusammengestrichen, die Altersvorsorge privatisiert und der Pflegenotstand verstetigt. Dazu dann das Mantra, unablässig wiederholt: Die Heimat ist bedroht, Flüchtlinge raus, Grenzen dicht, wenn die Fremden nicht wären, ginge es allen besser. Wie leicht selbst Gutsituierte Gefühle von Bedrängung und drohendem Statusverlust - ob begründet oder beschworen - auf Schwächere umleiten, ist immer wieder erstaunlich. In der Fantasie eines homogenen Volks werden die Gegensätze zwischen Herrschenden und Beherrschten übertüncht. Und es werden Gruppen definiert, die man verachten darf.
Die linke Antwort auf den rasanten Marsch nach rechts fällt bislang nicht durchschlagend aus. Glaubt man der Journalistin Julia Fritzsche, liegt das daran, dass "linke Erzählungen" momentan nicht überzeugen. "Links" wird heute vor allem mit Minderheitenpolitik assoziiert. Und wenn die nicht mit der sozialen Frage verbunden wird, ist sie kompatibel mit dem neoliberalen Versprechen: Solange man arbeitet und sich verausgabt, darf man alles sein. Wer sich aber nicht mehr verausgaben will oder kann, droht, ins Bodenlose zu fallen - ob schwarz oder weiß, männlich oder weiblich, queer oder hetero.
Eine adäquate linke Antwort auf den Neoliberalismus wie auch auf den Diskurs der Neuen Rechten liegt nun allerdings nicht in der Verabschiedung von Minderheitenpolitik, sondern, schreibt Fritzsche in ihrem Buch "Tiefrot und radikal bunt", in einer Politik, die beides verbindet - "vielfältige selbst gewählte kollektive Identitäten" und Ideen "für eine neue ökonomische Ordnung". Leben und Arbeit müssten "an Bedürfnissen statt an Profitabilität" ausgerichtet werden, das ist die simple zentrale Forderung. Die ist weder mit dem neoliberalen noch mit dem rechten Diskurs kompatibel.

Demonstration von streikendem Pflegepersonal an der Berliner Charité
Foto: imago/ Seeliger"Tiefrot und radikal bunt" beschreibt exemplarisch die Versuche von Pflegerinnen und Pflegern des Berliner Virchow-Klinikums, Kollegen für einen Streik zu gewinnen, und verbindet den Pflegenotstand mit der Idee der "Care Revolution": Die Ökonomisierung und gleichzeitige Entwertung von als weiblich konnotierten Tätigkeiten wird kritisiert und eine Entlohnung gefordert, die sich am gesellschaftlichen Wert von Arbeit orientiert.
Die Erfahrungen sozialer Kämpfe
Eine Qualität der Arbeit Julia Fritzsches liegt darin, dass sie soziale Kämpfe mit Überlegungen zur einer anderen Ökonomie verbindet. Der Kampf eines kolumbianischen Dorfs gegen die Landnahmeversuche eines Kohletagebauunternehmens wird verbunden mit Überlegungen zu kommunal organisierten Wirtschaftsweisen und Klimaschutz, die Arbeit einer Münchner Flüchtlingsinitiative mit der Idee der Solidarischen Städte, die Slut-Walk-Demonstration mit einer Idee von Queerness, die mehr als eine selbst gewählte sexuelle Identität meint, weil sie die "kapitalistische Arbeitsteilung torpediert".
Es geht in "Tiefrot und radikal bunt" um die Erfahrungen sozialer Kämpfe, aus denen heraus sich so etwas wie eine zeitgemäße linke Erzählung entwickeln soll. Wenn man diverse Nachtschichten hintereinander plus Überstunden in einem kaputtgesparten Krankenhaus abgerissen hat, kann man über ein Konzept wie etwa die Vier-in-einem-Perspektive noch mal ganz anders nachdenken. Dann erscheint die gesellschaftliche Aufteilung von sechzehn Stunden Wachzeit in vier mal vier Stunden für Erwerbsarbeit, Familienarbeit, Gemeinwesensarbeit und Zeit für persönliche Entwicklung möglicherweise nicht mehr nur utopisch, sondern auch recht vernünftig und bedenkenswert.
Tiefrot und radikal bunt: Für eine neue linke Erzählung (Nautilus Flugschrift)
Preisabfragezeitpunkt
07.06.2023 11.28 Uhr
Keine Gewähr
Die Formulierung "linke Erzählung" im Buchtitel legt nahe, dass den Kampf gewinnt, wer rhetorisch besser aufgestellt ist. Der Rückgriff auf Elisabeth Wehlings kontrovers diskutiertes Framing-Konzept ist aber zum Glück nicht sonderlich bestimmend. Einen ausgearbeiteten Plan, der vorgibt, wie die Linke sich rhetorisch aufstellen sollte, erspart "Tiefrot und radikal bunt" dem Leser.
Eher knüpft das Buch in seiner Suchbewegung an die Erzählungen sozialer Erfahrungen an. "Wie viele Lebensbereiche wollen wir der kapitalistischen Logik unterordnen - alle, wenige oder keine?", fragt Fritzsche grundsätzlich. Die Antwort fällt dann eher vage aus. Die notwendigen Veränderungen betreffen "mindestens die Daseinsvorsorge wie Gesundheit, Bildung, Ernährung, Wohnen, Energieversorgung und Mobilität - profitorientierte Industrien und ein paar Rolex-Uhren kann es am Ende zur Not auch noch geben".
"Tiefrot und radikal bunt" lässt sich als eine Skizze von Problemen, Möglichkeiten und Ideen in Zeiten einer immer raumgreifenderen rechten Metapolitik lesen. Der Eindruck, dass es nicht um die Systemfrage geht, sondern darum, "kapitalistische Prinzipien auf vielen Ebenen zurückzudrängen", drängt sich auf; ergänzt um das Wissen darum, wie elementar wichtig es ist, ohne Angst verschieden sein zu können.
Wie sich der strukturell verankerte Zwang zur Profitmaximierung aushebeln lassen soll, lässt Julia Fritzsches Buch allerdings offen. Oder anders formuliert: Das muss aus der Bewegung heraus entschieden werden.