SPIEGEL Bestseller – Mehr Lesen mit Elke Heidenreich »Jetzt kommt die nächste tolle Professorin«
Gerade neulich haben wir in dem Roman von Bonnie Garmus, »Eine Frage der Chemie«, eine wunderbare Chemie Professorin kennengelernt, Elisabeth Zott, die sich gegen die neidischen und sie unterdrückenden Kollegen mit Witz wehrt. Und wir haben uns alle in Elisabeth Zott verliebt. Und jetzt kommt die nächste tolle Professorin. Diesmal heißt sie Elisabeth Finch und sie unterrichtet an einer Abendschule in London Erwachsene in Sachen Kultur und Geschichte. Julian Barnes neuer Roman heißt so: »Elizabeth Finch«. Er ist bei Kiepenheuer Witsch erschienen und er ist nicht so süffig wie andere Romane von Julian Barnes. Obwohl immer süffig, ist er auch gar nicht. Da kann auch mal was daneben gehen. Aber er ist ein Autor, den man liebt und den man beachten sollte. Und dieses Buch ist, was man wohl kühl und sophisticated nennt. Es zerfällt in drei Teile. Im ersten Teil erzählt er von dieser Lehrerin Elizabeth Finch. Die ist klug, die trägt Faltenröcke und flache Schuhe. Sie ist ein bisschen altmodisch, aber sie besticht durch Geist und Witz. Und sie unterrichtet eben Erwachsene. Und der Roman beginnt damit, dass sie sich ihren Schülern vorstellt. Ich möchte Ihnen diesen Anfang, der so wunderbar ist, jetzt vorlesen. Jetzt brauchen Sie mal ein bisschen Geduld, wenn Sie mir mal einfach anderthalb Minuten in Ruhe zu. Ist schließlich Weihnachten. Da muss man auch mal zur Ruhe kommen. Sie stand vor uns, ohne Notizen, Bücher oder Anzeichen von Nervosität. Das Pult war mit ihrer Handtasche belegt. Sie schaute in die Runde, lächelte, schwieg und dann begann sie. Sie haben sicher gesehen, dass dieses Seminar den Titel Kultur und Zivilisation trägt. Seien Sie unbesorgt. Ich werde Sie nicht mit Tortendiagrammen bombardieren. Ich werde Sie nicht mit Fakten vollstopfen wie eine Gans mit Mais. Das hätte nur eine geschwollene Leber zur Folge, und das wäre ungesund. Nächste Woche bekommen Sie von mir eine Leseliste, die in keiner Weise verpflichtend ist. Es gibt keinen Punkteabzug, wenn Sie sie links liegen lassen. Und auch keine Pluspunkte für beharrliche Lektüre. Meine Lehrveranstaltung richtet sich an erwachsene Menschen, was sie ja zweifellos sind. Die beste Art der Bildung ist, wie schon die Griechen wussten, das kollaborative Lernen. Ich bin aber kein Sokrates, und sie sind keine Platons, falls das der korrekte Plural ist. Dennoch werden wir einen Dialog führen. Dabei und da sie nicht mehr in der Grundschule sind, werde ich keine pflaumenweichen Ermunterungen und kein billiges Lob verteilen. Es kann gut sein, dass ich für einige von Ihnen nicht der beste Lehrer bin im Sinne eines Lehrers, der am besten zu ihrem Naturell und ihrer Denkweise passt. Ich erwähne das im Voraus für diejenigen, bei denen das so sein wird. Natürlich hoffe ich, dass Sie das Seminar interessant finden und sogar Spaß daran haben werden. Rigorosen Spaß meine ich. Das ist kein Widerspruch. Und ich erwarte meinerseits Rigorosität von Ihnen. Flotte Sprüche sind hier fehl am Platz. Mein Name ist Elisabeth Finch. Ich danke Ihnen. Und dann lächelte sie wieder.
Das ist der Anfang dieses wunderbaren Buches. Und alle diese Schüler tun sich nicht sehr leicht mit Elisabeth Finch. Aber Neil, der Ich-Erzähler, verliebt sich quasi in dieses etwas altmodische, geheimnisvolle Wesen. Und er ist begeistert. Und er schildert uns nun in Teil eins des Buches genau, worum es geht. Es geht vor allem ums Einüben von Denkweisen, um Denken, um Argumentieren, um eine Meinung zu vertreten. In diesen Zeiten woken ständigen beleidigt sein, wäre das vielleicht auch mal wieder eine schöne Übung. Es geht auch um ein glückliches und unglückliches Leben. Was können wir ändern? Was haben wir selbst in der Hand? Was können wir nicht ändern? Und wie können wir uns mit dem, was wir nicht ändern können, aussöhnen? Und es geht auch darum, wie Geschichte, selbst wenn sie Hunderte von Jahren vergangen ist, noch heute unser persönliches Leben beeinflusst. Wäre zum Beispiel, so lehrt es Elisabeth Finch, der Kaiser Julian, nicht 300 noch was nach Christus so jung gestorben, dann hätte er das Christentum wieder abgeschafft. Davon hielt er nämlich gar nichts. Er sagte, die ganzen heidnischen Religionen und der Hellenismus hatten im Diesseits unheimlich viel Spaß, und dann war man tot, und ein Jenseits gab es nicht. Und dann kamen die mürrischen Christen und sagten: Nein, im Diesseits Hiob, aus der Bibel. Plagen über Plagen aber im Jenseits werden wir dann belohnt. Und der Julian Barnes lässt den Neil über das Christentum und seine Intoleranz, nachdem ihnen das Elizabeth Finch gelehrt hat, einmal kurz nachdenken. Und er sagt: man stelle sich die letzten 15 Jahrhunderte ohne Religionskriege vor, vielleicht sogar ohne religiöse und rassistische Intoleranz. Man stelle sich eine nicht von der Religion behinderte Wissenschaft vor. Man denke sich all die Missionare weg, die indigenen Völkern ihren Glauben aufzwangen, während die Soldaten in ihrem Gefolge deren Gold stahlen. Man stelle sich den intellektuellen Sieg der Überzeugung vor, der die meisten Hellenisten anhingen, dass alles, was im Leben Freude bietet, in diesem, unserem kurzen Aufenthalt auf Erden zu finden sei und nicht in irgendeinem absurden Himmelreich, nachdem wir tot sind. Das gefällt mir alles sehr, sehr gut. Und diese Welt ohne Gott, die, wie sie geworden wäre, mit Julian, dem Abtrünnigen, dem Apostaten Julian, Julian Apostata hat man ihnen auch genannt. Über die schreibt er im zweiten Teil des Buches eine Abhandlung. Das macht er, weil ihn das Thema interessiert und weil er nach dem Tod von Elisabeth Finch deren ganzen Papiere und deren Bibliothek geerbt hat. Und er sucht danach nach ihr, was war ihr wichtig an diesen Dingen? Und er schreibt also über die Dinge, die sie ihn gelehrt hat. Im dritten Teil spürt er dann dieser Frau nach. Er sucht auch die alten Schüler auf, die sie unterrichtet hat. Und er will alles über sie wissen, weil er sie doch wahnsinnig geschätzt hat und sie sein Leben beeinflusst hat. Und das alles ist ein bisschen sehr gelehrt und klug und auch ziemlich spröde. Es hat keine große Erzählopulenz. Es ist klar, es ist streng. Es ist so eine Art philosophischer Abriss quer durch die Jahrhunderte, gemischt mit ein bisschen Verliebtheit und einem bisschen Rätselraten und seufzend schönes Bekenntnis von Neil über Elisabeth: in ihrer Gegenwart war ich klüger. Das ist ein schöner Satz. Der neue Roman von Julian Barnes: »Elisabeth Finch« wird gerade zu gleichen Teilen verrissen und gelobt. Sie merken, ich gehöre zur Fraktion, die hier lobt, denn beim Lesen werde ich klüger. Und das ist ja keine schlechte Sache. Der letzte Satz lautet: Wenn Sie jetzt ein ironisches Lachen hören, dass ist meins.
Wär es jetzt ein bisschen deftiger haben will, deftig und unterhaltend, der lese Tessa Hadley »Freie Liebe«. Das Buch ist bei Kampa erschienen und es spielt in den 60er Jahren, wo die freie Liebe ja propagiert wurde. Wir sind in einem Vorort von London. Ein kleines, nettes Häuschen, ein Mann, der in der Politik arbeitet, eine Hausfrau, die sich in der Küche immer eine Schürze umbindet und immer auch aufpasst, was die Nachbarn denken. Zwei nette, wohlerzogene Kinder, ein gepflegter Garten, kurzum das ganze spießige Glück. Und eines Abends kommt ein junger Mann namens Nick zum Essen. Er ist Anfang 20. Unsere Leute, Phyllis heißt sie, sind so Mitte 40. Und er ist der Sohn von Freunden, die gesagt haben: kümmert euch mal ein bisschen um den, der verlottert uns so. Er kommt also zum Essen, benimmt sich schlecht und Phyllis staunt über ihn. Und dann passiert etwas: In einer dunklen Ecke packt er sich plötzlich die Hausfrau und küsst sie. Phyllis ist hübsch und ihn lockt das irgendwie. Freie Liebe, er küsst sie einfach. Und das ändert alles. Dann kommt der schöne Satz: So hatte sie noch nie einer geküsst. Das heißt, in Phyllis erwacht in dem Moment die Leidenschaft. Eine Leidenschaft, die sie noch nie erlebt, die sie nie gekannt hat. Bei ihrem Mann nicht und auch sonst nicht. Und das ändert ihr ganzes Leben. Sie fährt in die Stadt und sucht ihn auf in seiner verlotterten WG. Sie schläft mit ihm. Sie fangen eine Affäre an und sie haben sich wirklich gern. Er mag diese ältere Frau. Er lernt von ihr. Sie lernt vor allem von ihm. Und sie lernt ein ganz anderes Weltbild. Sie lernt die jungen Vietnam-Demonstranten kennen. Ihr Mann ist für den Krieg. Die sind alle dagegen. Sie kifft. Sie hat ein ganz anderes Leben. Und wir ahnen natürlich, dass ältere Frau und so junger Mann nicht gut gehen kann. Und es geht auch nicht gut. Aber das ist gar nicht das Thema des Buches. Sie bleiben enge Freunde, auch als sie sich trennen. Er lernt natürlich eine Jüngere kennen und ist weg. Und sie nimmt sich eine billige Wohnung, sucht sich einen Job und will ihr eigenes Leben so weiterleben. Die ist überhaupt nicht unglücklich. Ihr war klar, dass er irgendwann geht. Und dann kommt ihr Mann und sagt: Ich verzeihe dir alles, du kannst wieder zurückkommen nach Hause. Und sie sagt: Ich denke gar nicht dran. Und wir denken an Adorno. Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Sie sagt: Ich hatte das falsche Leben, ich will mein eigenes Leben leben und ich habe ganz viel gelernt und ich kann nicht zurück in diesen alten bürgerlichen Kram. Und das finde ich eine ganz tolle Botschaft. Und es ist von Tessa Hedley ganz großartig erzählt, ist ein richtiger Schmöker, aber klug und man hat was davon. Und jetzt gucken wir mal, ob auf der richtigen Bestsellerliste auch nicht die falschen Bücher sind. Und dann machen wir eine kleine Weihnachtspause und ich esse nur Marzipankartoffeln und lese für Sie und bin dann Anfang Januar wieder da mit neuen Büchern. Adieu, Feliz Navidad!
Auf Platz zehn gibt es das angeblich beste Geschenk gegen Alltagsstress: »Komm zu nix – Nix erledigt und trotzdem fertig« bietet Gute-Laune-Storys mit tröstlichem Inhalt. Comedy-Autor Tommy Jaud hat sein tägliches Scheitern in Buchform gepackt. Was in puncto Verkaufszahlen meist ein erfolgreiches Konzept ist.
Einen Platz runter auf der neun landet die Liebesgeschichte, erzählt aus drei Perspektiven, mit dem bilingualen Titel »It starts with us – Nur noch einmal und für immer«. Sie ist der zweite Teil des Beziehungsdramas der Protagonisten Lily, Ryle und Atlas und stammt aus der Feder der US-Bestsellerautorin Colleen Hoover. Wer den Anfang der Reihe verpasst hat: Teil eins heißt »Nur noch ein einziges Mal«. Wer will, kann sich schon einmal Gedanken machen, wie der Titel von Teil 3 lauten wird.
Ängste, Schlaflosigkeit, Liebeskummer - und vieles dergleichen mehr: »Kummer aller Art« der Kölner Schriftstellerin Mariana Leky steigt um zwei Plätze auf die acht. Die aus Kolumnen gewachsene Sammlung humorvoller Geschichten scheint ebenfalls ein vorweihnachtlicher Bestseller zu sein - perfekt als häppchenweise Lektüre für die Zeit zwischen den Jahren.
Und wer wissen will, wie es um Kommissar Gereon Rath bestellt ist – darf an dieser Stelle Halt machen. Der neunte Teil der Romanserie, die als »Babylon Berlin« verfilmt wurde, spielt im Jahr 1937 und Autor Volker Kutscher tischt eine Menge neuer und alter Protagonisten auf. Überraschung: Der von den Behörden für tot gehaltene Rath hat in New York den Absturz des Zeppelins »Hindenburg« überlebt! Alles weitere bleibt ebenfalls spannend. »Transatlantik« diese Woche auf Platz sieben.
Auf der sechs gibt es einen weiteren langlebigen Kommissar: Harry Hole ist zwar nach dem Mord an seiner Frau vollkommen am Ende, doch er macht in Band 13 trotzdem gnadenlos weiter. Gerade erst hat er sich in Los Angeles beinahe zu Tode gesoffen, da ereilt ihn ein Anruf aus Oslo: zwei junge Frauen wurden ermordet. Ein Immobilienhai steht unter Verdacht und heuert Harry Hole als Privatdetektiv an, um seine Unschuld zu beweisen. »Blutmond« heißt der aktuelle Thriller des Norwegers Jo Nesbø - mit Sicherheit unter dem einen oder anderen Weihnachtsbaum wiederzufinden.
Und wer auf dieser Liste nicht fehlen darf: Der Jurist und Autor Ferdinand von Schirach. Schon sechzehn Wochen lang pendeln seine kleinen Geschichten über große Themen unter dem Titel »Nachmittage« auf den oberen Plätzen. Liebe, Leben und Tod – die autobiographisch angehauchten Skizzen dazu diese Woche auf der Fünf.
Ebenfalls beständig auf den oberen Rängen unserer Liste: »Einsame Nächte«, der jüngste Krimi der Bestseller-Grande Dame Charlotte Link. Es ist der vierte Teil der Kate-Linville-Reihe. Wir befinden uns im Nordosten Englands, wo Ermittlerin Linville einen völlig undurchsichtigen Mordfall lösen muss. Eine Spur führt zu einem sogenannten Cold Case. Von Schnee und Kälte durchzogen: ein Krimi, der gleichzeitig viel übers Alleinsein erzählt - auf Platz vier.
Und von der Vorwochen-vier auf die drei schafft es diese Woche wieder die US-Amerikanerin Bonnie Garmus. Ihr Debutroman »Eine Frage der Chemie« wird bereits seit mehr als acht Monaten gekauft, geliebt, gefeiert. Wer die Geschichte von Elizabeth Zott noch nicht kennt – hat an dieser Stelle nicht aufgepasst.
Einen Mini- Anstieg von einem Platz schafft es die Husumerin Dörte Hansen. In »Zur See« lernen wir Familie Sander kennen, die seit fast 300 Jahren auf einer kleinen, fiktiven Nordseeinsel lebt. Alle Familienmitglieder sind eng mit der Insel verbunden, leben aber komplett nebeneinander her - bis ein Wal auf der Insel strandet. Welch eine Wendung Hansen der Geschichte damit beschert – darf nachgelesen werden, auf Platz zwei.
Und die Vorwochen-Eins ist auch die aktuelle Eins: »Mimik«, der Psychothriller von Bestsellerautor Sebastian Fitzek. Eine düstere und verzwickte Kriminalgeschichte um die Mimikresonanz-Expertin Hannah Herbst. Sie soll helfen, einen Mordfall zu lösen, leidet aber nach einer OP unter Gedächtnisverlust, was merkwürdige Folgen hat. Wie es ist, wenn man sich selbst nicht mehr trauen kann – darum geht es in diesem, sagen wir mal, besorgniserregenden Fall.