Zum Tod von Toni Morrison Die Sprachgewalt

Graffiti-Porträt von Toni Morrison: Ihre Wirkung ist unübersehbar
Foto: Benoit Tessier / ReutersEs ist bedrückend, noch einmal Toni Morrisons Nobelpreisrede zu lesen, am Tag der Meldung ihres Todes. Weil sofort klar ist, wie machtvoll Sprache ist - und wie sehr ihr drängendes, hellsichtiges Wort vermisst werden wird.
Und so liest man die Fabel, die sie damals 1993 vortrug, und erschrickt, denn es ist, als kommentiere sie das Heute. Im Kopf den widerwärtig schäumenden Hass, den Menschen mit ihren Worten derzeit ohne Zögern ausspucken, der so hartnäckig klebt, ätzt, so viel verrottet, wo er landet. Und er landet überall.
Die Fabel also. "Es war einmal eine alte Frau", hebt Morrison in jener Dankesrede an, weise sei sie und blind, sie stelle sich die Frau vor als Tocher von Sklaven, schwarz, Amerikanerin, sie lebe allein in einem kleinen Haus am Rande der Stadt. Ein paar junge Leute kommen, erzählt Morrison, einer fragt: "Der Vogel, den ich in der Hand habe: Ist er tot oder lebendig?"
Die Frau ist still. Sie seufzt. Dann sagt sie: "Ich weiß nicht, ob der Vogel, den du in in der Hand hast, tot oder lebendig ist, aber ich weiß, er ist in deinen Händen, in deinen Händen."
Dieser Vogel, erzählt Toni Morrison, steht für die Sprache: Weil es unsere Verantwortung ist, wie wir mit ihr umgehen.

Zum Tod von Toni Morrison: Das Gewissen Amerikas
Es gibt ein Schreiben vor und nach Toni Morrison. Sie änderte alles: die Gezeiten, den Aggregatzustand, die Identität allen Erzählens. Sie stieß die Türen weit auf für ein bis dato marginalisiertes Erzählen über Trauma, Verlust und die Verzweiflung, keinen Ort zu haben, an dem man frei ist, man selbst zu sein. Weil man von vorneherein anderen Geschichten unterworfen ist. Als Schülerin, erzählte sie einmal, "war mir das Ausgelöschte, das Abwesende, das Schweigen allzu bewusst in den Geschichtsbüchern - ein Schweigen, das ich als Zensur empfand. Geschichte, so schien mir, handelte von diesem Schweigen."
Das Schreiben, die Geschichten, das Worte-in-Sätze-Reihen: Es war für Morrison somit immer ein Sichtbarmachen. Von allem, was bislang übersehen war, nicht im Licht, wie inexistent. "Den 60 Millionen und mehr" hat sie "Menschenkind" gewidmet, wohl ihr berühmtester Roman. Jenen Menschen aus Afrika und ihren Nachkommen, die in der Sklaverei umkamen. Die geisterhafte Präsenz von bislang Ungesagtem, von Figuren, die sich Tod und Leben entziehen, gehört bei ihr immer dazu.
Wie in "Menschenkind", mit einer der eindrücklichsten Geisterfiguren der Literatur. Hinter "Beloved" steht die Geschichte einer brutalen Entscheidung: Eine Mutter tötete ihr zweijähriges Kind, sie wollte ihm die Sklaverei ersparen. Dann taucht eine junge Frau auf - wie ein Echo der Vergangenheit. Ein unfassbares Bild für das Trauma der Sklaverei in der amerikanischen Gesellschaft, das bis heute nicht verblasst ist.
Die Sklaverei in den Knochen
Toni Morrison hat dafür gesorgt, dass darüber gesprochen und geschrieben werden kann. Als Cloe Ardelia Wofford 1931 geboren in Ohio, studierte sie an der renommierten Cornell Universität, fängt alleinerziehend an, als Lektorin bei Random House zu arbeiten. So wie sie in ihren vielen Jahren dort half, Autorinnen und Autoren of Color und deren Werk in den USA sichtbar zu machen, so gelang ihr dies um ein Vielfaches mehr mit ihrem eigenen Schreiben. Sie war 39, als 1970 ihr erster Roman "The Bluest Eyes" erschien. Zehn weitere folgten, dazu neun Bände mit Essays, politisch, literarisch, gesellschaftlich - der letzte, "The Source of Self-Regard", "Der Ursprung von Selbstachtung", erst Anfang des Jahres.
Ihre Wirkung ist in der Literaturgeschichte unübersehbar. Ob mit ihrer ersten Geschichte über das schwarze Mädchen Pecola Breedlove, vergewaltigt und geschwängert vom eigenen Vater, das sich nichts sehnlicher wünscht als blaue Augen zu haben wie die Weißen. Ob mit Sethes Tat in "Menschenkind" oder den Frauen von "Paradise", die von einer Gruppe Männern ermordet werden: Ihre Romane sind nicht per se politisch, keine Plädoyers, keine Anklagen. Sie erzählt: von Menschen in den USA. Aber von jenen, die die Geschichte der Sklaverei in sich tragen, in ihren Knochen, ihren Herzen, Generation um Generation. Ihre Figuren, die Schauplätze, die Zeitebenen sind so reich, dass - nun gut, vielleicht doch ein Plädoyer - jede pauschale Gruppendefinition ad absurdum geführt wird. Dass sich alle mit ihnen identifizieren können, egal wo und wie man das Glück oder Unglück hatte aufzuwachsen.
Genau deshalb ist Toni Morrisons Werk als Ganzes so singulär. Es hatte eine Wirkung wie die gesamte Bewegung der "Harlem Renaissance" zusammen. Weil sie, noch dazu anhand vielseitiger Frauencharaktere, zeigte: Schaut, diese Figuren sind schwarz, sie gehören zur Black Community in diesem Land, sie tragen die Wunden und die Erniedrigung von Sklaverei und Rassismus in sich. Das alles ist Teil ihres Seins, ja. Es prägt sie, aber sie sind viel mehr als das. Das war und ist einzigartig. Zumal mit einem Ton, der von brutal bis dringlich, von sanft bis voller Komik alles kann, mitunter in einem Absatz.
Sprache kann Gewalt sein - und Macht
Dass sie 1993 den Literaturnobelpreis bekam, als erste schwarze Schriftstellerin, ist Ausdruck davon: ein lautes Zujubeln, ein Tribut an sie und ihre historische Wirkung. Für die Literatur und die Menschheit. Sie war überzeugt, dass Sprache sterben kann, wenn man achtlos mit ihr umgeht - und es unser aller Job ist, dies zu verhindern. Verschwinden Nuancen, Komplexitäten, übernimmt das Bedrohende: "Unterdrücker-Sprache ist mehr als die Wiedergabe von Gewalt", sagte sie in ihrer Preisrede, "sie ist Gewalt; macht mehr als die Grenzen von Wissen abzubilden; sie begrenzt Wissen." Besser lässt sich die Logik von Rassismus kaum fassen.
Gerade ist in den USA eine Doku über sie im Kino angelaufen. "The Pieces I Am", heißt er, "Die Teile, die mich ausmachen", "Die Teile, die ich bin". So war sie in ihrem Schreiben, so ist ihr Schreiben: mit Versatzstücken spielend, die Lücken mit Erzählen füllend, variierend. Denn Sprache kann Gewalt sein und Macht, erzählt uns Morrison in ihren Büchern. Und macht uns vor, wie man diese Sprache mutig als Gegenmittel benutzt - zur Befreiung.
Die Schriftstellerin starb am Montagabend im Alter von 88 Jahren. Zahlreiche Prominente gaben ihrer Trauer öffentlich Ausdruck. In ihrem letzten SPIEGEL-Gespräch sagte sie, Donald Trump habe "den schrecklichen Teil Amerikas entfesselt".