Trauer um Nobelpreisträger Russlands Spitzenpolitiker würdigen Solschenizyn

Russlands Kulturwelt trauert, die Politik trauert mit: Nach dem Tod Alexander Solschenizyns würdigen Menschenrechtler und Kreml-Fürsten, Ex-Kommunisten und Orthodoxe den vielseitigen, umstrittenen Nobelpreisträger. Er habe das Denken von Millionen Menschen verändert, lobt Michail Gorbatschow.

Moskau - Russland trauert um Literaturnobelpreisträger Alexander Issajewitsch Solschenizyn: Der frühere Dissident werde in die Geschichte eingehen als einer der ersten, die die Brutalität und Unmenschlichkeit des Stalin-Regimes öffentlich und rigoros angeprangert haben, sagte der ehemalige sowjetische Präsident Michail Gorbatschow. Der Beitrag Solschenizyns zum Sturz des Totalitarismus sei "nicht hoch genug zu schätzen", sagte Gorbatschow nach Angaben der Agentur Interfax. Der Schriftsteller sei ein Mann mit einem "einzigartigen Schicksal" gewesen, dessen Name in der russischen Geschichte lebendig bleiben werde. Seine Werke hätten "das Bewusstsein von Millionen Menschen" verändert.

Der Nobelpreisträger von 1970 war in der Nacht zum Montag an plötzlichem Herzstillstand im Alter von 89 Jahren in Moskau gestorben. "Er hat bis zum Ende seines Lebens dafür gekämpft, dass Russland seine totalitäre Vergangenheit hinter sich lässt, eine würdige Zukunft hat und zu einem freien und demokratischen Land wird. Wir schulden ihm viel", sagte Gorbatschow.

Bundeskanzlerin Angela Merkel würdigte Solschenizyn als "großen und bedeutenden Schriftsteller". Die Kanzlerin habe mit großer Betroffenheit auf die Nachricht vom Tod des 89-Jährigen reagiert, sagte der stellvertretende Regierungssprecher Thomas Steg in Berlin. In einem Kondolenzschrieben an den russischen Präsidenten Dmitri Medwedew habe Merkel Solschenizyns Bedeutung als ein Mahner und Moralist, als unerschrockener Kämpfer gegen Willkür und für die Menschenrechte hervorgehoben.

Merkel habe "in den vergangenen Jahren, Jahrzehnten, sehr intensiv das Leben und das Werk von Alexander Solschenizyn verfolgt. Sein Schicksal hat sie tief berührt", sagte Steg. Solschenizyn habe nach Auffassung der Kanzlerin einen herausragenden Beitrag zur Weltliteratur geleistet.

Der russische Präsident Dmitrij Medwedew, Regierungschef Wladimir Putin, die Vertreter verschiedener Parteien und Organisationen der Familie des Schriftstellers sprachen ihr Beileid aus. Auch der französische Präsident Nicolas Sarkozy bekundete seine Trauer. Der Vorsitzende der Menschenrechtsorganisation Memorial, Arseni Roginski, würdigte den Regimekritiker als Gründer der Bewegung für die Aufarbeitung der Stalin-Verbrechen in Russland. Ohne die Werke des weltweit geschätzten Schriftstellers sei eine Rehabilitierung der Opfer heute nicht möglich. "Er hatte nie Angst davor, mit seinem Kampf und seiner Meinung alleine dazustehen", sagte Roginski. Dagegen kritisierte Kommunistenchef Gennadi Sjuganow, dass die Arbeiten des Autors nicht immer objektiv gewesen seien.

Für sein Land das Beste gewollt

"Ich denke, dass seine Bewertung der frühesten sowjetischen Epoche doch tendenziös und einseitig war", sagte Sjuganow. "Natürlich sind die Bewertungen mit seiner persönlichen Tragödie verbunden, aber dem Leben und den Heldentaten des ganzen Volkes, dem schöpferischen Potential dieses großen Landes darf man nicht sein persönliches Schicksal aufdrücken", teilte Sjuganow mit. Gleichzeitig würdigte der Kommunistenchef Solschenizyn als "talentierten Menschen", der für sein Land das Beste gewollt habe. Die Kommunisten sind im russischen Parlament vertreten.

Die russisch-orthodoxe Kirche, der Solschenizyn stets eng verbunden war, würdigte ihn als großen Vordenker für künftige Generationen. Der tiefgläubige Nobelpreisträger habe ein reiches Erbe an Gedanken für die Zukunft Russlands hinterlassen, sagte der Sprecher des Moskauer Patriarchats, Wsewolod Tschaplin. Der frühere Sowjetdissident habe Politik und Gesellschaft nicht nur kritisiert, sondern auch praktische Wege für ihre Entwicklung aufgezeigt.

"Alexander Issajewitsch bleibt für heutige und künftige Generationen ein Musterbeispiel an innerer Freiheit und menschlicher Würde", sagte Tschaplin. "Er war in der Lage, mit den Machthabern im eigenen Land, im Westen und mit dem Volk zu sprechen. Dabei hatte er nie Angst, auf Unwahrheiten einzugehen. Er machte sich nie gleich mit irgendeiner Mode oder öffentlichen Meinung", führte der russisch-orthodoxe Geistliche aus.

Als Hauptwerk des Nobelpreisträgers Solschenizyn gilt der Dokumentarroman "Archipel Gulag", der Stalins Opfern ein literarisches Denkmal setzte.

Putin hatte Solschenizyn im Juni vergangenen Jahres mit dem russischen Staatspreis ausgezeichnet. Millionen von Menschen verbinden den Namen Solschenizyn "mit Russlands Schicksal selbst", sagte Putin. Den mit umgerechnet 144.000 Euro dotierten Preis nahm Solschenizyns Frau Natalja entgegen, weil der damals schon gebrechlich wirkende Autor nicht an der Zeremonie teilnehmen konnte. Seine Dankesrede ließ er über eine Videobotschaft einspielen.

Zuletzt hatte sich Solschenizyn seit Monaten nicht mehr öffentlich gezeigt. Obwohl er seit Jahren keine Journalisten mehr empfing, machte Solschenizyn Mitte 2007 für den SPIEGEL eine Ausnahme: In einem umfangreichen Interview sprach er damals über die verhängnisvolle Geschichte Russlands, das Versagen von Gorbatschow und Jelzin und seine Enttäuschung über den Westen.

Solschenizyn wird an diesem Mittwoch auf dem Friedhof des Moskauer Donskoi-Klosters beigesetzt. Diese Begräbnisstätte habe sich der Schriftsteller vor fünf Jahren selbst ausgesucht, teilte ein Sprecher des Moskauer Patriarchats mit. In der Kathedrale des Klosters werde der Leichnam Solschenizyns für die Totenmesse aufgebahrt. Auf dem Friedhof des Ende des 16. Jahrhunderts gegründeten Mönchsklosters wurden in der Vergangenheit vor allem Vertreter des russischen Adels begraben.

Der Schriftsteller war der älteste lebende Literaturnobelpreisträger. Er hinterlässt seine Frau Natalja, die auch seine Sprecherin war, sowie seine drei Söhne Jermolai, Ignati und Stepan. Alle drei leben in den USA.

sto/dpa/AFP/AP

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