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Ukraine: Neue Werte braucht das Land

Foto: Emilio Morenatti/ AP/dpa

Krim-Krise und Maidan-Revolution Die Ukraine übersteht auch diese Zerreißrobe

Der Westen befürchtet eine Spaltung der Ukraine entlang ihrer ethnischen Grenzen, einen Bürgerkrieg sogar. Allerdings führt die ukrainische Krankheit nicht zum Tod - das Land knirscht, aber es bricht nicht auseinander. Ändern muss es vor allem sein Wertesystem.
Von Yaroslav Hrytsak

Seit 20 Jahren debattieren sowohl Ukrainer als auch russische und westliche Politiker, Wissenschaftler und Publizisten die Frage, ob der Ukraine die Spaltung in einen westlichen und einen östlichen Teil drohe. Die These, dass sich die Ukraine spalten werde, hat zuerst die CIA in ihrer Analyse der politischen Situation in der Ukraine 1993 aufgebracht. Sie äußerte damals die Prognose, dass die Ukraine direkt auf einen Bürgerkrieg zwischen dem ukrainischsprachigen Westen und dem russischsprachigen Osten zusteuere, gegen den der Krieg im zerfallenden Jugoslawien sich wie ein Nachmittagspicknick ausnehmen würde.

Im Sommer 1994 fanden die Präsidentschaftswahlen statt. Zum Teil bestätigten sie die Prognosen der CIA: Die Wahlergebnisse entsprachen exakt der Trennlinie zwischen dem Westen, der für den vorherigen Präsidenten Leonid Krawtschuk gestimmt hatte, und dem Osten, der seine Stimme Leonid Kutschma, dem Präsidenten der Jahre 1994 bis 2004, gab. Die Karte mit der Trennlinie fand später Eingang in Samuel Huntingtons Werk "Kampf der Kulturen". Sie diente ihm als Illustration seiner wichtigsten These: Dass es in den Konflikten der Zukunft nicht um Auseinandersetzungen zwischen Nationen, sondern zwischen Zivilisationen gehen werde.

In Huntingtons Vorstellung gehört der Westen der Ukraine der westlichen katholischen Welt an, während der russischsprachige Osten der orthodoxen östlichen Zivilisation zugehört, die Ukraine selbst sei ein klassisches Beispiel eines gespaltenen Landes (cleft country).

Jede Zerreißprobe unbeschadet überstanden

Entgegen allen Prognosen der CIA ist es nach den Wahlen 1994 weder zu einem Bürgerkrieg noch zu einer Spaltung des Landes gekommen. Diese Situation hat sich nach 1994 noch ein paar Mal wiederholt. Am stärksten traten die Konflikte während der Präsidentschaftswahlen 2004 und der sich daran anschließenden Orangenen Revolution hervor. Auch damals schien die Ukraine kurz vor der Spaltung zu stehen, dieses Mal standen sich "Juschtschenkos Ukraine" und "Janukowitschs Ukraine" gegenüber. Zum Glück hat die Ukraine auch diese Zerreißprobe heil und unbeschadet überstanden.

Die Ukrainer haben sich an derartige Prognosen bereits gewöhnt, so ähnlich wie sich ein kranker Mensch an die Diagnosen seines Arztes gewöhnt. Allerdings führt die ukrainische Krankheit nicht zum Tod, das Land knirscht, aber es bricht nicht auseinander. Zu dieser Einschätzung sind Soziologen bereits 1994 gekommen, als sie die innerukrainischen Gräben genauer untersucht haben. Spätere Untersuchungen haben diese Einschätzung bestätigt. Auch ich bin mit meinen Kollegen aus Donezk zu keiner anderen Einschätzung gekommen. Seit 20 Jahren führen wir vergleichende Untersuchungen zu Lwiw und Donezk durch. Das sind die Städte, die die beiden politisch entgegengesetzten Regionen in der Ukraine repräsentieren. Wir kamen zu dem Ergebnis, dass die Unterschiede zwischen den beiden Städten dramatisch sind, aber nicht tragisch. Trotz starker Unterschiede verbindet beide Städte der Wunsch, in einem Land zu leben.

Seit Beginn der neunziger Jahre gibt es in der Ukraine Meinungsumfragen, in denen unter anderem folgendes erfragt wird: "Wenn das Referendum vom 1. Dezember 1991 über die Unabhängigkeit der Ukraine heute wiederholt werden würde, würde das Ergebnis gleich ausfallen?" Seit jener Zeit hat es bis zum heutigen Tag kein einziges Jahr und keinen einzigen Monat gegeben, in dem die Mehrzahl der Ukrainer die Idee der nationalen Unabhängigkeit abgelehnt hätte, selbst in den Zeiten der größten Krisen wie 1994 und 2004.

Diese Einstellung der Ukrainer zur nationalen Unabhängigkeit und staatlichen Souveränität ihres Landes wird leider immer wieder gern vergessen.

Erst Wertewandel, dann Reform

Seit einigen Jahren vertrete ich zusammen mit vielen Kollegen die Meinung, dass die Ukraine weniger ein Problem mit ihrer Identität als vielmehr mit ihren Werten habe. Wie auch immer die Identitäten aussehen mögen, die stabile politische Gemeinschaft gefährden sie nicht. Aber die Werte, die die meisten Ukrainer, ganz gleich ob im Westen oder Osten des Landes, teilen, verhindern die Durchführung radikaler politischer und wirtschaftlicher Reformen. Es sind die Werte der sogenannten geschlossenen Gesellschaft, in der Angst und Misstrauen dominieren und in der die Menschen nur ein Ziel kennen - sich und ihre Angehörigen vor Veränderungen zu schützen.

Deswegen ist es die wichtigste Aufgabe für jeden verantwortungsvollen Politiker, für jede verantwortungsvolle Partei, sowohl als Regierungspartei als auch als Oppositionskraft, das Werteklima zu ändern. Die dominierenden Werte ändern sich in erster Linie durch ein Wirtschaftswachstum, das allen Ukrainern zugute kommt. Dieses Wirtschaftswachstum kann allerdings nur verstetigt werden, wenn auch die gesamtkulturellen Faktoren mit in den Blick genommen werden. Hierzu gehört unter anderem das, was die Deutschen unter Vergangenheitsbewältigung verstehen.

Die fast zwanzigjährige Erfahrung (1991-2010) mit mehr oder weniger Demokratie ist ein wichtiger Faktor, der für den Wertewandel verantwortlich ist. Wie tief die politischen Krisen in der Ukraine auch gewesen sein mögen, bis vor kurzem endeten sie alle mit einem Kompromiss und, abgesehen von den Präsidentschaftswahlen 1999, mit einer Machtübernahme durch die Opposition. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Ukraine signifikant von Russland.

Ein Ergebnis ist unter anderem die Herausbildung einer neuen Generation der 18- bis 25-jährigen, der Generation der ukrainischen Unabhängigkeit. Sie ist aufgewachsen in einer Atmosphäre der politischen Freiheit und hat heute mit ihren Altersgenossen in Polen, Spanien und Deutschland mehr Gemeinsamkeiten als mit den Ukrainern zwischen 50 und 59 Jahren. Diese Generation steht insgesamt der Idee der europäischen Integration aufgeschlossener gegenüber, und hier sind die regionalen Unterschiede wesentlich geringer.

Europa übersieht, um was es eigentlich geht

Vor diesem Hintergrund war die Machtübernahme von Janukowitsch im Jahr 2010 ein trauriger Systembruch. Deswegen bestand von Anfang an die Möglichkeit, dass seine Macht nichts weiter als eine kurze Episode in der ukrainischen Geschichte werden würde.

Es ist nicht möglich, die Ereignisse auf dem Euro-Maidan vollkommen zu verstehen, wenn man die Werte nicht mit einbezieht. Nicht umsonst nennen die Maidan-Anhänger ihren Protest Revolution der Würde. Der Revolution gingen bewusste und durchaus konsequente Versuche der Intellektuellen voraus, den Diskurs der Opposition von den Identitäten hin auf die Werte zu lenken.

Häufig werden diese Einstellungen als europäische Werte bezeichnet. Das ist natürlich in gewisser Weise ein irreführender Begriff, denn im Grunde genommen handelt es sich um allgemeingültige Werte. Man findet sie in der Occupy-Bewegung und in der brasilianischen Jugend, die gegen ihre Regierung protestiert oder bei den Demonstranten auf dem Taksim-Platz in Istanbul. Aber in der Vorstellung vieler Menschen, besonders der jungen Ukrainer, werden diese Werte in erster Linie mit Europa in Verbindung gebracht.

Die bittere Ironie der Situation liegt darin, dass Europa, sowohl unter den EU-Bürokraten, als auch unter vielen europäischen Analytikern diesen Werteaspekt der ukrainischen Revolution übersieht. Politiker, Bürokraten, Sozialwissenschaftler und Journalisten reden weiterhin nur über Identitäten, es geht dann um die aktive Rolle der ukrainischen rechten Nationalisten auf dem Maidan oder eine drohende Spaltung des Landes. Und mit dieser Haltung spielen sie, so fürchte ich, dem Kreml in die Hände, der gern nicht nur die Krim, sondern auch den Donbass unter seine Fittiche nehmen würde.

Jaroslaw Hrytsak, Jahrgang 1960, ist Historiker, Publizist, Professor für Geschichte an der Katholischen Universität Lwiw. Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe.

Dieser Text ist eine gekürzte Fassung des Aufsatzes "Revolution der Würde" aus dem Band "Majdan! - Ukraine, Europa" mit Texten zahlreicher Intellektueller zur Situation in der Ukraine. Das Buch erscheint am 12. März bei edition.fotoTAPETA (hier bei Amazon  vorbestellen).

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