
Hörbuch "Unerwartet Marseille": In der Ferne liegt die Freiheit
Hörbuch von Peter Kurzeck Frühlingsgefühle mit Franz Kafka
Der Fahrtwind auf einer sommerlichen Tour bei offenem Fenster im Citroën DS 19. Oder das Flirren des Lichts im vorbeiwischenden Grün beidseits der Strecke: Mehr will dieser Erzähler nicht, denkt man manchmal beim Hören dieser CD. Den Zauber des Flüchtigen möchte Peter Kurzeck vermitteln, wenn er episodisch vom Reisen erzählt, von der Sehnsucht nach dem Süden, vom euphorischen Aufbruch am frühen Morgen, dem ungläubigen Staunen am Ziel: "Unerwartet Marseille".
Doch ein Autor wie Peter Kurzeck, der mit seinem gigantischen Romanzyklus "Das alte Jahrhundert" nichts weniger plant als "Die ganze Gegend erzählen. Die Zeit" und mit diesem schier uferlosen Projekt seit mindestens 15 Jahren völlig aussichtslos ringt, will eigentlich immer mehr. Andererseits muss es Kurzeck, der mit seltener Radikalität lebt, um zu schreiben, und schreibt, um die Fülle seiner Lebenseindrücke in Worte zu fassen, fast wie die Verwirklichung kühnster Produktionsträume vorkommen, wenn er zu Kaffee und Kuchen vors Mikro geladen wird, um wie bereits in seinem zum "Hörbuch des Jahres" ausgezeichneten "Ein Sommer, der bleibt" (Supposé Verlag, 4 CDs, 34, 80 Euro) in völlig freier Rede seinen Erinnerungen nachzugehen.
Das Vergnügen am Erzählen ist jederzeit spürbar, wenn der 69-jährige Autor seine Hörer an der Uni Siegen mitnimmt, auf eine sentimentale Tour in seine Jugend, in eine herrliche, ferne Zeit, da - man mag's kaum schreiben - "die Sommer immer länger und nicht nur länger, sondern auch besser" zu werden versprachen. Und mehr als einmal scheint es so, als entfalte jener Plattentitel von Crosby, Stills, Nash & Young, den der Erzähler wiederholt mit fast konspirativer Ehrfurcht nennt, seine leitmotivische Zaubermacht im mündlichen Vortrag: "Déjà Vu".
Traumwandlerische Retrotour
Verblüffend vertraut wirken diese Erinnerungsbilder, wenn Kurzeck in seinem wie aus der Zeit gefallenen Singsang, in dem das kakanische Erbe seiner böhmischen Herkunft anklingt, die Stationen seiner Retrotour ansteuert - und wunderbar präsent ist sein Staunen: über die Schönheit der Fischweiber von Marseille, die stolz ihre Ersparnisse als Goldschmuck am Körper tragen. Über die bekiffte Coolness kanadischer Hippies, die auf einer Sandbank vor Saint-Maries-de-la-Mer lagern, und die unfassbar lässige Handbewegung, mit der sie die völlig ungewisse Dauer ihrer Indientrips zu umreißen pflegen.
Beschwingt hüpft Kurzeck vom einen zum andern und fängt dabei Erinnerungssplitter auf, die gerade in ihrer Beiläufigkeit wie gegenwärtig leuchten: Der knirschende Kies der Kurpromenade von Meran vor dem Hintergrund der rauschenden Passer, der die Vorstellung aufdrängt, nur kurz den Kopf wenden zu müssen, um den Schatten Franz Kafkas vorbeihuschen zu sehen. Das fast weißblonde Haar einer jungen Schwedin, an einer Tankstelle im Nirgendwo auf der Strecke zum Nordkap. Ein Hotelzimmer in Prag und eine zarte Romanze im legendären Frühling 1968.
Wenn Kurzeck dann den Namen Jan Palach ausspricht, senkt er die Stimme, als habe er gerade erst von der Selbstverbrennung des Studenten auf dem Wenzelsplatz gehört und müsse die schreckliche Nachricht weiter verbreiten. Das war im Januar 1969, und in der Beklommenheit über die Verzweiflungstat gegen den sowjetischen Einmarsch schwingt die Erschütterung jener glücklichen Gewissheit mit, von der seine Reiseerzählungen stimuliert sind: dass der Erzähler im Einklang mit den Zeitläuften in ein besseres Leben aufbrechen könne. Dass es diese Gewissheit einmal gegeben hat in seinem Leben, darauf besteht Kurzeck mit Nachdruck.
"Ich weiß" beginnt er insistierend seine Zeitreise - und dann beschwört dieser wetterfühlige Euphoriker der Vergangenheit in einem Satz die stete Versommerung der Natur, der Gesellschaft und der Gefühle herauf, die ihn "vielleicht 1964 schon, vielleicht 1965, ganz sicher aber 1966" in einen permanenten Erregungszustand versetzt habe. Eine grandiose Selbstbehauptung im poetischen Luftreich verwehter Imaginationen. Und dann zeigt sich, dass Kurzeck mit dieser Stegreiferzählung doch viel mehr will als Reminiszenzen zum beschwingten Reigen zu fügen. Und dass die Feier vergangenen Glücks zugleich einen Abschied von der Welt seiner Kindheit und Jugend bedeutet.
Denn damit das oberhessische Staufenberg, in dem das Flüchtlingskind Kurzeck aufwuchs, zum Zentrum von Kurzecks Werk werden konnte, musste der Künstler als junger Mann das Städtchen erst einmal verlassen; und es ist ein so komischer wie magischer Moment, wenn die Kirchenglocke des Orts die Stunde zum Aufbruch schlägt und den Erzähler anspricht. "Sie sagte: ,Einmal warst du ein Kind und wie alt bist du jetzt.'"
Wer so was hört, muss einfach aufbrechen, und wohin das führen kann, zeigt Kurzeck, wenn er zum Abschluss seiner freien Erzählung eine Passage aus "Vorabend" liest, seinem 1000-seitigen Meisterwerk , mit dem er die bäurisch-proletarische Lebenswelt bundesrepublikanischer Provinz in ein unerschöpflich nuanciertes Porträt Staufenbergs gefasst hat.
Man muss nicht immer wieder den Vergleich mit Prousts "Recherche" bemühen, um Kurzecks Rang als Erzähler zu taxieren - und das mögliche Scheitern beim Lesen dieses Mammutwerks diskret anzudeuten. Doch wer sich auf der Suche nach der verlorenen Zeit zum Staufenberg Kurzecks aufmacht, ist auf dem richtigen Weg.