Stasi-Drama "Die Lüge" Genährt am Busen der DDR

Die Agenda des Einschleichers: In "Die Lüge" erzählt Uwe Kolbe von einem Stasi-Mann, der die Kunstszene überwacht - und, angelehnt an die eigene Biografie, eine Geschichte von Vater und Sohn, die sich der Enge der Diktatur durch erotische Eskapaden entziehen.
Von Thomas Andre
Autor Uwe Kolbe: Uwe Johnson auf Speed

Autor Uwe Kolbe: Uwe Johnson auf Speed

Foto: Gaby Gerster

Der Vater heißt Hildebrand, der Sohn Hadubrand, die Rufnamen sind Hinrich und Harry. Es ist keine germanische Sage, sondern ein deutsches und demokratisches Republikstück, das in Uwe Kolbes Roman "Die Lüge" erzählt wird. Mit einem Stoff, wie er so nur in der Geschichte der DDR gefunden werden kann - noch dazu ist er autobiografisch: Harry Einzweck ist Komponist und frühes Halbgenie, gefördert von einer der zentralen Kunstgestalten des sozialistischen Landes - und unter Beobachtung gehalten vom eigenen Vater, der ein mit Spezialaufgaben versehener Kulturfunktionär ist. Hinrich Einzweck ist ein Stasi-Mann, der die Kunstszene beobachtet. Keineswegs klandestin, im Gegenteil weiß gerüchteweise jeder in Berlin und Sachsen, wo der Roman größtenteils spielt, von der Agenda des Einschleichers, der auch nicht davor zurückscheut, Ehefrauen in das Unternehmen Bespitzelung einzuspannen.

Woran man sieht, dass die Geschichte der DDR auf eine Weise immer auch ein Familienroman war. Uwe Kolbe, 1957 in Ostberlin geboren, machte sich bereits in jungen Jahren als Lyriker einen Namen, ehe er 1988 in den Westen ausreiste und nach Hamburg übersiedelte. "Die Lüge" ist sein erster Roman, er spielt in den Jahren zwischen 1976 und 1984 und ist angelehnt an Kolbes eigene Lebensgeschichte. Sein Vater war bei der Stasi. Auch er half mit bei der großangelegten Begutachtung und Zensur der Kunstwerke, die idealerweise in der Literatur sozialrealistische Romane und in der Musik sozialromantische Opern sein sollten.

Wer sich nicht angreifbar machen will, hält sich ans Abstrakte und rettet sich in die Avantgarde. Kolbes Alter Ego ist ein Künstler, der nach Freiheit strebt, aber auch sein Auskommen in der DDR haben will. Sein spielerischer Umgang mit den Darstellungsformen bringt ihm einen Rüffel der Behörden ein. Die Ausreisewelle lichtet auch auch die Reihen des Kunstmilieus, das Kolbe wortreich beschreibt - aber Harry Einzweck bleibt. Und zwar auch, nachdem er sich in einem Brief an die Mächtigen für ein "tabuloses Gespräch" über die gesellschaftlichen Belange ausgesprochen und dadurch weiteren Argwohn auf sich gezogen hat.

Eine milde Form der Erziehung ist das Belehren über Paragrafen wie den der Staatsverleumdung, aber eine Vorladung bei der Staatsanwaltschaft wird pragmatisch absolviert, der Aufforderung des weiblichen Gegenübers umstandslos nachgekommen: "Ich war gebannt von ihrer grauen Kostümjacke, deren Schnitt ihre beträchtlichen Brüste in Form zweier Pyramiden nachformte. Sie schaute streng, und ich unterschrieb die Belehrung."

Loyalitätsfalle Antifaschismus

Der Busen der DDR nährt einen wie ihn, der die falschen Grenzen nicht überschreitet. Erotische Libertinage ist eine Möglichkeit der Selbstentfaltung in den beengten Verhältnissen, in die sich Vater und Sohn beide flüchten. Der Vater ist auf das Wohlwollen der hierarchisch Höherstehenden angewiesen; Kolbe beschreibt sie als privilegierte Stasi-Würstchen, denen im Zweifel die Spesenabrechnungen wichtiger sind als die große Idee.

Ehe sie am Schluss literarisch verschmelzen, gibt es schon eine nicht zu leugnende Nähe zwischen Vater und Sohn, die sich eher herzlich als vorsichtig gegenüberstehen. Dabei ist die grundsätzliche Gegnerschaft doch ein Humus, auf dem Lügen wachsen. Sie leben beide ganz kommod, auf verschiedenen Seiten, in einem Klima des permanenten Misstrauens um sich herum, der Roman transportiert dieses in vielen Szenen. Erzählt wird "Die Lüge" aus beiden Perspektiven. In konzentrischen Kreisen umrundet Kolbe die Sphären der Kunst und der Macht, die sich immer wieder treffen. Dabei erzählt er schnörkel- und atemlos, beinah spröde, manchmal auch umständlich. Wie Uwe Johnson auf Speed, könnte man sagen. Kolbe will es dem Leser nicht zu einfach machen, seine Prosa hat keinerlei Liebreiz und kennt keine falsche Harmonie. Damit spiegelt sie den Stoff.

Bleiben oder gehen: Das waren die Alternativen in einem Land, in dem die Loyalitätsfalle Antifaschismus lange Zeit funktionierte. Anders als Sascha Anderson, eine der zentralen Figuren der Künstlerszene in Prenzlauer Berg, der nach der Wende als IM enttarnt wurde und auch Kolbe aushorchte, arbeitete dieser nicht für die Staatssicherheit. Im Buch schildert er einen Anwerbeversuch, dem Harry Einzweck widersteht.

An anderer Stelle seines Romans gibt Kolbe den Standpunkt des Ich-Erzählers preis: Der berichtet vom Jahr 2000 aus von den Vorgängen in dem untergegangenen Land. Das Erinnern ist eine schmerzhafte Angelegenheit, und man darf zwischen Autor und Figur mehr als nur eine Wesensähnlichkeit vermuten, wenn die verschiedenen Grade der Ablehnung rekapituliert werden, mit denen man der DDR begegnete. Einmal besucht der Protagonist einen Dissidenten und Gefährten von einst, im Nachhinein erscheint jenem sein eigenes Verhalten bei diesem Wiedertreffen von nicht entschuldbarer Blasiertheit: "Gefängnis und Ausreise bei ihm, und Hereinschnuppern in die Westluft mit einem hübschen Visum im Ostpass bei Herrn Einzweck - mehr war dazu nicht zu sagen. Ich hätte hier nicht stehen, hätte die ganze Reise nicht unternehmen dürfen."

So ist "Die Lüge" vor allem ein Buch über die Vergeblichkeit, unehrlich zu sein im Hinblick auf die eigene Haltung. Oft sind es die anderen, die im Nachhinein eine Art Wunsch-Ich darstellen.

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