Vladimir Sorokin Wunderdrogen fürs russische Gehirn

Russlands Literaten üben sich in Antiutopien. In Vladimir Sorokins Roman "Der himmelblaue Speck" wird die gleichnamige Substanz aus Schriftsteller-Hirnen gewonnen. Die Wundermasse steht für russische Geisteskraft und ist Superdroge, Heilmittel und Parodie zugleich.
Von Simone Kaempf

Würde man per Zeitkapsel einen russischen Revolutionär aus dem Jahr 1954 in die Gegenwart katapultieren und dem Ärmsten das Buch "Der himmelblaue Speck" zum Lesen vorlegen: Er würde die Welt nicht mehr verstehen. Nicht unsere Welt wohlgemerkt, sondern seine eigene. Denn der Roman handelt zwar vornehmlich davon, wie im Jahr 2068 in einem Genlabor eine Superdroge gezogen wird: fluoreszierender, himmelblauer Speck, der thermisch unveränderlich ebenso zur Stromerzeugung wie zur Superdroge taugt. Doch dieser Speck wird ins stalinistische Moskau der fünfziger Jahre gezaubert, und dort sind die Nachkriegsszenerien, die Physiognomien der Politiker und Ideologien radikal ins Gegenteil verkehrt - der skandalumwitterte Schriftsteller Vladimir Sorokin macht eben nichts lieber als die historischen Verhältnisse auf den Kopf zu stellen.

In seinem Jahr 1954 hat Hitler den Krieg gewonnen, duzt sich mit Stalin. Man trinkt zusammen Wodka, Hitler treibt es mit Stalins Tochter, Stalin hat Analsex mit einem Lustknaben - aber letztlich sind alle nur auf der Jagd nach den blauen Speckseiten, die aus der Zukunft geschickt wurden. Die seltsame Droge wird im Jahr 2068 in der Versuchsstätte Genlab-18 gewonnen - aus den Klonen berühmter klassischer Autoren wie Dostojewski, Tolstoi, Tschechow oder Nabokov, in denen sich der Stoff während des Schreibens bildet.

Mit Klonliteratur selbst ist auch der Roman gespickt: In eingeworfenen, fiktiven Geschichten der rekonstruierten Literaten steigert Sorokin die sprachlichen Manierismen seiner Originale, dass einen der Wiedererkennungseffekt erschaudern lässt. So ist die Welt des Romans eine Vergangenheit mit anschließender Antiutopie. Die Essenz der geistigen russischen Energie ist darin Heilmittel und Parodie zugleich. Der Super-Fixer Stalin spritzt sich die Wundermasse schließlich ins Gehirn, worauf es zur Größe des Universums abwächst - so endet auch die revolutionärste literarische Geisteskunst ganz harmlos, lautet die Botschaft Sorokins. Dass der Schriftsteller sein eigenes Kunsthandwerk zum Teufel schickt, macht seine Besonderheit aus.

Sein Misstrauen gegen die Macht der Sprache, die der 45-Jährige Schriftsteller für von Natur aus ideologisch hält, mag ein Erbe achtziger Jahre sein, als er zu den Kreisen der Moskauer Konzeptualisten gehörte. Man bezog zum Schein angepasste Positionen, um deren Hohlheit wirkungsvoller vor Augen zu führen. In dem Roman namens "Roman" lieferte er eine ironische Parodie auf die russische Literatur des 19. Jahrhunderts mit dem Idyll eines gütigen Volks und aufgeklärten Gutsbesitzern. Sein erstes Buch "Norma", zwischen 1979 und 1984 geschrieben, beginnt mit Verhaftung eines Schriftstellers der sich weigert, antisowjetische Literatur herauszugeben.

Auch lange Zeit nach Zusammenbruch der Sowjetunion polarisiert Sorokin. Kritiker nennen ihn einen "Monsterautor" oder wahlweise einen Kranken, der sich behandeln lassen sollte. "Ist er gesund, dann soll er für seine Schmiererei vor Gericht stehen", schrieb eine russische Literaturzeitschrift im vergangenen Jahr. Doch unter jungen Moskauern hat sich "Der himmelblaue Speck" wie auch Viktor Pelewins "Generation P" zum gierig gelesenen Manifest entwickelt. Beide ziehen die gleiche Bilanz eines Jahrhunderts: eine antiutopische Wahnwelt, in der man die Wurzeln zur Tradition mit dem Skalpell sauber durchtrennt hat. In Pelewins Romans ist der Held ein gescheiterter Dichter, dem die neue Welt des Moskauer Kapitalismus noch fremd und unbekannt ist wie ein weißes Blatt Papier. Als Werbetexter schafft er es, die Dinge zu benennen. Er ist so gut, dass er Politikern die Worte in den Mund legen darf. Sie sind nur Computeranimationen aus der staatlichen Werbestelle für die Acht-Uhr-Nachrichten - das Fernsehen ist die Instanz, die Politik und Konsum am laufen hält. Was am Ende bleibt, ist eine große Ratlosigkeit.

Vladimir Sorokin: "Der himmelblaue Speck"; DuMont, Köln; 434 Seiten; 48 Mark.
Viktor Pelewin: "Generation P"; Volk und Welt, Berlin; 328 Seiten; 42 Mark.

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