Vorgelesen Die wichtigsten Bücher der Woche
Jean-Marie Gustave Le Clézio: "Das Fieber"
(Erzählungen. Aus dem Französischen von Rolf und Hedda Soellner. Piper Taschenbuch 5457, 223 Seiten, 8,95 Euro)
"Nüscht" sei vom frisch gekürten Literaturnobelpreisträger derzeit lieferbar, meinte ein entnervter Kritiker, nachdem die Stockholmer Jury ihre überraschende Entscheidung verkündet hatte. Inzwischen aber häufen sich die eilends nachgedruckten Bücher des 1940 in Nizza geborenen Le Clézio. Die 1964 in Frankreich erschienenen Erzählungen bieten einen raschen Einstieg in sein eigenwilliges Werk.
Wer Jean-Paul Sartres Roman "Der Ekel" (1938), die Werke eines Camus und der "nouveau romanciers" gelesen hat, wird in diesen frühen Stücken manches wiedererkennen: die Penetranz, mit der sich die Welt ihren Protagonisten aufdrängt, aber auch die Übermacht der Form gegenüber dem Inhalt. Was an Sartre und Camus faszinierte, ist hier zur Manier geworden.
"Am liebsten wäre ich gar nicht zur Welt gekommen", verkündete Le Clézio im Vorwort. Diese Welt lässt er seinen Gestalten mit Licht und mediterraner Hitze, mit urbanem Lärm und Gestank, mit Autos und Menschenmassen und der "blödsinnigen Betriebsamkeit" ihrer Arbeitstellen so unerträglich auf den Leib rücken, dass der Held der Titelgeschichte "Das Fieber" zwischen Berserkerwut und Ermattung hin und her taumelt. Quälend detailversessen erlebt der Erzähler von "Mir scheint, das Schiff nimmt Kurs auf die Insel" ein Dasein, aus dem er am Ende verschwindet.
Lyrik, Romane, Novellen, glaubte Le Clézio 1964, seien "seltsame Anachronismen, auf die so gut wie niemand mehr hereinfällt". Das war ein Irrtum, und sein Frühwerk erscheint heute als antiquierter Avantgardismus. "Verstehen Sie, man muss die Landschaft aufschreiben", sagt der Erzähler von "Die Welt ist lebendig" "Stück für Stück, ohne etwas zu vergessen". Das Ergebnis waren Texte, aus denen solches Aufschreiben die Handlung verdrängt hatte - mühsam zu lesen, leicht zu vergessen. Ulrich Baron
Pascale Hugues: "Marthe & Mathilde. Eine Familie zwischen Frankreich und Deutschland"
(Deutsch von Lis Künzli, Rowohlt, 288 Seiten, 19,90 Euro)
Es ist der französischen Journalistin und Deutschlandkorrespondentin Pascale Hugues hoch anzurechnen, dass sie aus diesem Stoff keinen Kitschroman gemacht hat. Sondern pure, saubere "faction". Nun sitzt man vor einem Sachbuch, das sich wie ein Roman liest, und flennt.
Hugues hatte zwei Großmütter, beide 1902 geboren, beide 2001 gestorben. Beide waren von klein auf "Kamaradle" gewesen, wohnten im selben Haus in Colmar. (Später würden sich zwei ihrer Kinder miteinander verheiraten und Pascale Hugues zeugen). Nur eben - die eine war Deutsche (Marthe), die andere Elsässerin (Mathilde). Und schon fahren wir Karussell: vier Nationalitäten in vierzig Jahren! Erbfeind rechts, Erbfeind links, hin-her-hin-her.
Ich schalte hier die Anekdote von Herrn Wach ein, die nicht im Buch steht: im deutschen Elsass als "Heinrich Wach" geboren, französisch zu "Henri Vache" geworden; wieder deutsch zu "Heinrich Kuh"; wieder französisch "Henri Küh" (wie Cul, der Hintern), und wären die Deutschen noch mal gekommen, er wäre als "Heinrich Arsch" gestorben.
Pascale Hugues hat sich daran gemacht, das Leben ihrer dreisprachigen Großmütter unter wechselnden politischen Schikanen bis in die Alltagsverästelungen nachzuzeichnen. Dabei setzt sie sich tapfer in mehr als einen Fettnapf, auch mit französischem Fett. Sie will die Wahrheit. Ihr gelingt die Rekonstruktion einer sehr speziellen Familien- und Freundschaftsgeschichte im Brennpunkt historischen Wahnsinns. Sibylle Mulot
Jochen Schmidt: "Schmidt liest Proust"
(mit CD, Verlag Voland & Quist, 608 Seiten, 19,90 Euro)
Bekannt ist Jochen Schmidt als Meister auf der Kurzstrecke des gesprochenen Wortes. Auf der von ihm mitbegründeten Berliner Lesebühne "Chaussee der Enthusiasten" liest er jede Woche seine hinreißend komischen Verlierer-Geschichten. Doch nun hat der Ostberliner mit dem pfundschweren Kompendium "Schmidt liest Proust" einen großen Etappensieg auf der Langstrecke errungen.
Mehrere humoristische Textsammlungen (u.a. "Meine wichtigsten Körperfunktionen") und ein Roman ("Müller haut uns raus") säumen den entbehrungsreichen Weg dorthin, aber die Mühe hat sich gelohnt. Denn so radikal subjektiv, so scheinbar naiv und so sympathisch vermessen hat sich wohl vorher noch nie jemand mit Marcel Prousts dreibändigem Klassiker "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" angelegt.
Genau 182 Tage lang hat Schmidt täglich 20 Seiten des Werkes gelesen und seine Parallel- und Quergedanken in einem Blog veröffentlicht. Aus dieser enormen Textmasse hat er nun ein 600-Seiten-Buchbrickett geformt.
Nach dem Motto "Man muss großen Autoren folgen, egal, wohin sie gehen" spürt Schmidt den sich bisweilen ausufernden Gedankenströmen des französischen Großschriftstellers nach, fügt in seiner typischen lakonischen Art Eigenes hinzu und sortiert die "Materialmasse" in Kategorien wie "Unklares Inventar", "Verlorene Praxis" oder in einen "Katalog kommunikativer Knackpunkte".
Schmidt erwischt sich während der Lektüre beim Nasebohren oder Bizeps-Ertasten, kommt zur Erkenntnis: "Mit der Madeleine ist es allerdings wie mit der Mona Lisa, weil man so viel darüber gehört hat, enttäuscht sie einen fast zwangsläufig." Und dennoch liest er mit wachsender Begeisterung für die Proustsche Weltsicht weiter. Der Untertitel des Buches ist also gewiss nicht untertrieben: "Quadratur der Krise". Jenny Hoch
Jo Nesbø: "Schneemann"
(Aus dem Norwegischen von Günther Frauenlob, Ullstein, 489 Seiten, 19,95 Euro)
Der Körper, den der Osloer Kommissar Harry Hole zum Entsetzen der Nachbarskinder in Stücke hackt, ist nur aus Schnee. Aber der gefrorene Mann, dessen Nase jemand durch eine Karotte ersetzt hat, ist es nicht. Er ist ein frühes Opfer eines Serienmörders, der eine Vorliebe für junge Mütter und talentierte Polizisten hat. Sein schauerliches Markenzeichen formt er aus Schnee - einem Stoff, der gemeinhin für Unschuld steht - nicht für Hass.
Der 1960 geborene Jo Nesbø hat diesen Killer dort versteckt, wo kaum jemand nach ihm suchen wird. Das ist zwar nicht ganz so unfair wie in Agatha Christies Roman "The Murder of Roger Ackroyd", wo am Ende der Ich-Erzähler überführt wird, aber ein wenig gemein ist es schon. Holes Vorgesetzte präsentieren voller Stolz einen falschen Täter nach dem anderen und suchen deshalb bald nicht nur einen Mörder, sondern auch einen Sündenbock.
Wieder einmal zeigt sich Nesbø als Meister der falschen Fährten und Kippfiguren und durchbricht die Routinen des seriellen Krimis.
Wenn nach dem ersten Schnee dieses Jahres wieder jene eiskalten Typen mit Kohleaugen und Karottennasen auftauchen, wird man sie mit gemischten Gefühlen betrachten.
Es könnte ja sein, dass selbst Harry Hole den falschen "Schneemann" erwischt hat. Ulrich Baron