Vorgelesen Die wichtigsten Bücher der Woche

Verschollen im Haschischqualm: Sibylle Mulot reiste mit Hans-Georg Behrs Nachkriegs-Nomaden um die Welt. Auch der neue Roman von Jonathan Coe ist eine Geschichte vom Glück, das möglich erschien, aber nie wirklich wurde - Ulrich Baron war davon trotzdem sehr beglückt.

Jonathan Coe: "Der Regen, bevor er fällt"
(Aus dem Englischen von Andreas Gressmann, DVA, 300 Seiten, 18,95 Euro)

Kurz vor ihrem Tod hat die alte Rosamond eine Geschichte auf Band gesprochen. Die Kassetten sind für Imogen, die Enkelin ihrer Cousine bestimmt. Sie sollen der jungen Frau erklären, warum sie als Kind ihr Augenlicht verloren hat. Es ist die Geschichte zweier Mütter, die sich für die Lieblosigkeit, in der sie aufwachsen mussten, an ihren Töchtern gerächt haben. Was, so verkürzt, pathetisch und weit hergeholt klingt, hat der 1961 in Birmingham geborene Jonathan Coe in eine wunderbare Erzählung voller feinster Zwischentöne verwandelt – eine melancholische Geschichte vom Glück, das möglich erschien, aber nie wirklich wurde.

Rosamond beschreibt Imogen eine Reihe von Bildern, die sich zu einem Album zusammenfügen, das ihre Familienchronik und auch ein halbes Jahrhundert britischer Geschichte umfasst. Sie erzählt der Blinden, was auf diesen Bildern zu sehen ist, und auch, was sich hinter ihnen verbirgt: Ihre eigene, zunächst mädchenhafte Schwärmerei für ihre Cousine Beatrix. Ihre vergeblichen Versuche, deren ungeliebter Tochter und Imogens späterer Mutter Thea ein Heim zu geben. Und die Tragödie, die Imogen das Augenlicht raubte.

Rosamond hat ins Leere hineingesprochen. Imogen ist verschollen, doch nachdem die Erzählerin Rosamonds Aufzeichnungen angehört hat, scheint sich der Kreis dieser Schicksale kurz an einem Punkt zu schließen, wo das Unglück keine Macht hat. Auf diesen unmöglichen Punkt spielt auch der paradoxe Titel an, der einen Regen beschwört, der noch keiner ist. Als Imogens Mutter selbst noch ein Kind war, hat sie gerade den zu ihrem "Lieblingsregen" erklärt, denn: "Es kann einen doch auch etwas glücklich machen, das es gar nicht wirklich gibt, oder etwa nicht?" Ulrich Baron

Hans-Georg Behr: "Fast ein Nomade"
(Zsolnay Verlag, 208 Seiten, 17,90 Euro)

"Was möchtest du denn mal werden?" - "Nomaaade!" sagt das Kind in Hans-Georg Behrs erstem autobiografischen Roman "Fast eine Kindheit" (2002). Dieses Kind, geboren 1937 wie der Autor, lebt während des Zweiten Weltkriegs auf dem Schloss seines durchlauchtigsten Großvaters in Österreich, hat aber einen reichsdeutschen Nazi zum Vater, einen hohen Goldfasan, der bei den Nürnberger Prozessen gehängt wird. Mutter überfordert, Kind stottert und wird schließlich ins Klosterinternat abgeschoben...

Frech und bescheiden gelang es Behr, der von seinem Helden immer nur in der dritten Person sprach ("das Kind", "man"), echte Gefühle und erborgte Zeitgeschichte miteinander zu vermählen: Er fabelt sich in höchste Nazi-Kreise hinauf, zu Onkel Josef und Tante Magda (Goebbels), Onkel Hermann (Göring) und all den anderen. Aber den in Nürnberg gehängten berühmten Nazi-Vater gibt es historisch nicht, und auch der Großvater konnte bisher noch nicht identifiziert werden. Münchhausen lässt grüßen.

Im zeitlich anschließenden, jetzt erschienenen "Fast ein Nomade" flüchtet der nun 14-Jährige 1951 aus der Klosterschule nach Wien und will Künstler werden. Sofort nimmt ihn die Akademie der bildenden Künste mit offenen Armen auf. Zwar nur als Maskottchen mit Schlafplatz in einer Abstellkammer, aber Hitler schaffte nicht mal das. Von Magnifizenz persönlich erhält er ein Bröckchen Haschisch - nicht sein erstes, aber ein besonders gutes. Er färbt sich die Haare grün, fährt mit dem Fahrrad zu Hermann Hesse nach Montagnola und kommt gerade zurecht, als sich der Dichterfürst im Abendsonnenschein eine Morphinspritze setzt. Bei Brecht dagegen - nur Zigarren. Und Frauen.

Dann reist der Held mit Empfehlungsschreiben seines Fürst-Großvaters versehen gen Osten, nach Pakistan, Indien, Afghanistan und Nepal. Er genießt die Gastfreundschaft dortiger Fürsten (die alle mit dem Großvater studiert haben), betrachtet Land und Leute durch den Rauch unzähliger "sympathischer Zigaretten" und erzählt dies alles wieder nach bewährtem Muster in der dritten Person, plausibel-verdreht, anschaulich und witzig. Später lebt er in London, bewahrt für John (Lennon), Ringo, George und Paul große Mengen Drogen in der eigenen Wohnung auf, wird Journalist und trifft schließlich in einem Kreuzberger Kinderladen auf den netten Jan-Carl (Raspe?), der ihn zu einer Liebesnacht verführt - nicht seiner ersten, aber einer besonders schönen.

All dies könnte sich natürlich auch ganz genau so zugetragen haben. Fakt oder Flunkern, das ist hier schon wieder nicht die Frage. Als Prä-Hippie, Weltreisender, Provokateur, Theaterautor, Psychologe und Journalist verfasste Behr in den siebziger Jahren farbige Sachbücher - darunter ein Haschisch-Kochbuch - setzte sich in den achtziger Jahren mit dem organisierten Verbrechen auseinander und kämpfte zeitlebens für die Legalisierung von Cannabis. Im vorliegenden Buch bricht die Nomadenzeit um 1970 ab. Eine weitere Fortsetzung werden wir vermutlich nicht mehr bekommen; der in Hamburg lebende Autor erlitt vor einiger Zeit einen schweren Hirnschlag. "Fast eine Kindheit" und "Fast ein Nomade" sind sein Vermächtnis. Behrs Unvollendete. Sibylle Mulot

Simon Beckett: "Leichenblässe"
(Deutsch von Andree Hesse, Wunderlich, 415 Seiten, 19,90 Euro)

Der Zahnarzt, der zu Beginn des Romans in der Frühlingssonne von Tennessee liegt, wird keinem Patienten mehr wehtun. Sein Fleisch hat sich bereits aufgelöst. Er ist an einem Herzinfarkt gestorben und hat seine sterblichen Überreste einem gerichtsmedizinischen Freiluftlabor hinterlassen, wo Verwesungsprozesse studiert werden. Diese "Body Farm" hat vor Jahren schon Patricia Cornwell zu einem gleichnamigen Roman mit ihrer Leichenbeschauerin Kay Scarpetta inspiriert, und auch der Brite Simon Beckett hat seinen Helden Dr. David Hunter jetzt in diese segensreiche Institution geschickt.

Kurz zuvor wäre Hunter beinahe selbst ein Fall für den Leichenbeschauer geworden, und auch Tom Lieberman, sein Mentor auf der Body Farm, ist gesundheitlich schwer angeschlagen. Zu schwer für die Serie rätselhafter Leichenfunde, mit der ein psychopathischer Mörder seine fachliche Kompetenz auf die Probe stellen will.

Duelle zwischen Serienmördern und Forensikern gehören mittlerweile zum Standardrepertoire diverser Scarpetta-Klone, aber Beckett ringt dieser Konstellation eine spannende Handlung und eindrucksvolle Szenen ab. Und eine brillante Schlusswendung, die auf eine teuflische Zielgerade führt. Bei der Verfolgungsjagd tief in Tennessees Hinterland, das eigentlich viel zu schön ist für Leichenfarmen, blitzt ein Indiz aus einem früheren Fall auf, das man schon längst vergessen hatte. Und es führt auf die Spur des Mörders: Ein paar Augen, so unmenschlich blau, dass man sie an einem sonnigen Tag aus einer Meile Entfernung erkennen kann. Ulrich Baron

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