Vorgelesen Die wichtigsten Bücher der Woche

Sag zur Leiche leise "Sorry": In Zoran Drvenkars Thriller agiert nicht nur der Ermittler unprofessionell, sondern auch der Erzähler, findet Ulrich Baron. Jenny Hoch musste sich erst warmlesen, bis sich die Raffinesse von Stefan Mühlsdorfers Debütroman entfalten konnte.

Zoran Drvenkar: "Sorry"
(Ullstein, 398 Seiten, 19,90 Euro)

Eigentlich eine sehr zeitgemäße Geschäftsidee - eine Agentur, die sich für die Vergehen ihrer Auftraggeber entschuldigt. Reuige Bankmanager müssten jetzt dort Schlange stehen, um sich von ihren Gewissensnöten freizukaufen. Doch in Zoran Drvenkars Roman kommen den Agenturgründern zwei Männer in die Quere, die kein Pardon geben wollen. Wenig später haben die vier die Leiche einer zu Tode gefolterten Frau in ihrem Kofferraum, derer sie sich nicht mit einem schlichten "Sorry" entledigen können. Und das ist nur der Anfang eines mörderischen Kampfes, dessen Hintergründe und Protagonisten der Roman erst gegen Ende ganz enthüllt.

Es geht dabei um Kindesmissbrauch, um Verrat, um Opfer, die zu Tätern, und Täter, die zu Opfern eines späten Rachefeldzugs werden. Doch so recht will das nicht überzeugen, denn die Gestalten dieses Romans tun sich schwer, die Rollen, die sie darin spielen sollen, glaubwürdig umzusetzen.

Da wird der Mörder vom Erzähler durch die vertrauliche Anrede "Du" exponiert, während die schwarze Eminenz des Romans als "Der Mann, der nicht da war" vorgestellt wird. So merkt man, dass der Erzähler mit diesen beiden noch viel vorhat, aber nicht gleich alles verraten will.

Dass er dabei über Leichen geht, ist bei Thrillern ja nichts Ungewöhnliches, aber dass er sie dauernd ein- und ausgraben lässt, zerrt doch erheblich am Realitätssinn des Lesers. Vor allem, wenn dann auch noch ein Polizeihund am wieder einmal leeren Grab nicht anschlägt und auch den als Behelfssarg benutzten Schlafsack ignoriert. Das ist unprofessionell, und dieser Vorwurf gilt nicht nur dem Hund. Ulrich Baron

Stefan Mühldorfer: "Tagsüber dieses strahlende Blau"
(Deutscher Taschenbuch Verlag, 238 Seiten, 14,90 Euro)

Das Leben in Suburbia ist die Hölle - auch wenn es von außen betrachtet wie das Paradies aussieht: gepflegte Vorgärten, schmucke Häuschen, reizende Kleinfamilien. Ein klassischer Stoff mit viel Problempotential, mit dem sich der frühere PR-Berater und Redakteur Stefan Mühldorfer in eine lange Erzähltradition reiht.

Doch anders, als etwa Richard Yates es in seinem vor Kurzem mit großer Starpower verfilmten Ehedrama "Zeiten des Aufruhrs" vorführt, geht es Mühldorfer in seinem Debütroman "Tagsüber dieses strahlende Blau" nicht um das eruptive Aufbegehren gegen eine erstickende Vorstadthölle. Er erzählt vielmehr von der lautlosen Implosion eines alltäglichen Lebensentwurfs.

Aus Sicht des Versicherungsmaklers Robert Ames verspricht dieser Freitag ein Tag wie im Bilderbuch zu werden: Sonne, blauer Himmel, ein wenig Arbeit - und dann steht ein weiteres wunderbares Wochenende bevor, das er mit seiner Frau und dem gemeinsamen Sohn zu verbringen gedenkt. Doch dann wirbeln einige an sich harmlose, aber hier schicksalhafte Begebenheiten seine Pläne kräftig durcheinander. Solange, bis der Ich-Erzähler einsehen muss, dass sein bisheriges "normal erfolgreiches Leben" wohl vor allem eine Selbsttäuschung war.

Man muss bereit sein, dem Gedankenfluss der Hauptfigur bis in die verästelten, bisweilen seichten Windungen zu folgen, um die Raffinesse der Erzählkonstruktion zu erkennen. Denn sein mittelalter, mittelerfolgreicher und mittelsympathischer Erzähler hat sich hinter einem Wall von Gemeinplätzen verschanzt. "Man muss die Dinge auf sich zukommen lassen" ist sein Credo. Sein Innerstes wirkt wie von einer dicken Schicht Frischhaltefolie umwickelt, vom dauerhaften Sauerstoffmangel ist es ganz fahl geworden. Zu verfolgen, wie es mühsam freigelegt wird, ist dann doch ein ungewöhnliches Leseerlebnis. Jenny Hoch

Lukas Hartmann: "Bis ans Ende der Meere"
(Diogenes, 489 Seiten, 21,90 Euro)

Solche Einladungen gibt es heute nicht mehr. Ob er sich vorstellen könne, Captain James Cook auf seiner dritten Reise zu begleiten, hat man den Maler John Webber gefragt. Ihm bleiben nur ein paar Wochen bis zur Abfahrt. Er stürzt sich ins große Abenteuer und lässt die wenigen Menschen, die ihm etwas bedeuten, in London zurück

Die Reise wird vier Jahre dauern. Cook wird sie nicht überleben, doch die Admiralität wird alles tun, um seinen Mythos zu bewahren. Der Maler soll helfen: "Machen Sie ihn weiß!", befiehlt man Webber, aber der hat Cook ganz anders erlebt: "In Wirklichkeit war alles, was er trug, verblichen, ob blau oder rot." "Bis ans Ende der Meere" ist nicht nur der Roman einer abenteuerlichen Reise, sondern auch eine Erkundung jener verblichenen Zwischentöne, die den Charakter des Seehelden ausmachten.

Cooks Weltumsegelungen zählen zu den größten und faszinierendsten Kapiteln der Seefahrtsgeschichte und führten von Tahitis Traumstränden bis in die Eismeere der Arktis und Antarktis. Malend sucht Webber der fremden Welt und ihren Menschen näher zu kommen - verliebt sich in die Südseeprinzessin Poetua, deren Bild er mit nach Hause nehmen wird.

Unergründlich aber erscheint die Seelenlandschaft seines Captains. Cook ist ein aufrechter, doch unbarmherziger Mann, der seinen Auftrag mit unerbittlicher Strenge durchsetzt und dafür auch das Leben seines todkranken Bordarztes opfert. Am Ende malt Webber ihn so, wie es die Admiralität wünscht. Doch seine trauernde Witwe will von diesem offiziellen Abbild nichts wissen: "Das ist nicht mein Mann", sagt sie, und diese Ablehnung gilt wohl nicht nur dem Bild, sondern auch ihrer Rolle als "Witwe eines nationalen Helden", die man ihr aufzwingen wird. Lukas Hartmann zeigt unbeschönigt, welchen Preis Cooks Entdeckungsfahrten gefordert haben. Ulrich Baron

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