Vorgelesen Die wichtigsten Bücher der Woche

Kinderschänder im Internet - kein ganz taufrischer Krimi-Stoff, konstatiert Ulrich Baron, lobt aber Helene Tursten dafür, dem Thema neue Aspekte abzugewinnen. Außerdem: ein großer Bürgerroman aus Moskau. Sibylle Mulot verfällt einem aufregenden Suchbild.

Grigori Rjaschski: "Moskau, Bel Étage"
(Roman. Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. Kiepenheuer & Witsch. 400 Seiten, 22,95 Euro)

Die Bel Étage ist das schönste, das Prunkgeschoss großbürgerlicher Stadthäuser. Was da 1903 "in den stillen Winkel der Trjochprudny-Gasse" unweit der Patriarchenteiche bezogen worden war, hätte es nach 1917 im nunmehr kommunistischen Moskau eigentlich nicht mehr geben dürfen.

Doch auch die Sowjets brauchten Kapazitäten wie den Architekten Semjon Mirski - Akademiemitglied und Erbauer dieses Jugendstilbaus, den seine Familie über Generationen bewohnen wird.

Von seinem Selbstbewusstsein zeugt das Bild einer "Frau mit Gitarre". Das hatte ihm ein aufstrebender Künstler 1914 in Paris geschenkt, nachdem Mirski dessen Entwurf für eine Skulptur fachmännisch überarbeitet und dem "begabten Künstler Pablo" mit einer freundlichen Widmung zurückgegeben hatte. "Dem begabten Architekten Semjon Mirski zur Erinnerung. Pablo Picasso", steht auf der Rückseite der Leinwand.

Ob nun erfunden oder vorgefunden: In dieser Anekdote klingt ein bürgerliches Selbstbewusstsein nach, das sich vor der Sowjetisierung in stille Winkel wie die Trjochprudny-Gasse zurückzog. Hier lebte man Tür an Tür mit der neuen Nomenklatura, die Altmieter eiskalt verschwinden ließ. Hier hielt Mirskis Frau Rosa ihre russisch-jüdische Familie als Mutter, Großmutter und Urgroßmutter zusammen - über Stalinismus und Krieg, Umbrüche und Einbrüche hinweg.

Grigori Rjaschski hat Filme produziert und Drehbücher verfasst, bevor er, wie schon seine Cousine Ljudmila Ulitzkaja, mit dem Schreiben von Romanen begann. Angelehnt an seine eigene Familiengeschichte, beschreibt er das Fortdauern einer Tradition, die jene überlebt hat, die ihr baldiges Aussterben prognostiziert hatten.Ulrich Baron

Helene Tursten: "Das Brandhaus"
(Roman. Aus dem Schwedischen von Lotta Rüegger und Holger Wolandt. btb, 335 Seiten, 19,95 Euro)

Ein mumifizierter Toter in einem Abbruchhaus und zwei ermordete Mädchen: Im jüngsten Krimi der 1954 in Göteborg geborenen Helene Tursten überschneiden sich zwei Fälle. Der eine reicht in die Zeit des Zweiten Weltkriegs zurück, als der gerade gegründete Sicherheitsdienst Schwedens mit seinen geheimen Operationen begann. Der andere spielt in der Gegenwart. Ein Serienkiller nimmt via Internet Kontakt zu seinen minderjährigen Opfern auf, indem er sich als 17-jähriger Schönling präsentiert, sie aushorcht und sich ihr Vertrauen erschleicht.

Einen klassischen Fall von "Internet-Grooming" nennt der Computer-Experte der Göteborger Polizei diese Taktik, und schon bald warnt die Boulevardpresse vor dem "Pädophilen-Eldorado Internet". Ganz neu ist dieses Thema im Kriminalroman nicht mehr, doch mit der Kombination beider Fälle gewinnt Helene Tursten ihm neue Aspekte ab.

Jener alte Mord, der zunächst wie ein überflüssiges Anhängsel der Jagd nach dem Mädchenmörder wirkt, erweist sich schließlich als subtiler Kommentar zur aktuellen Überwachungs-Hysterie beim Thema Internet. Nicht alle schwedischen Sicherheitspolizisten nämlich hielten sich seinerzeit an die Gesetze, die sie mit ihren geheimen Operationen hätten schützen sollen.

Die Sicherheit, die staatliche Überwachung bietet, ist trügerisch und kann familiäre Fürsorge nicht ersetzen. Am Ende fühlt man sich an einen Satz aus Fritz Langs Kindermörder-Klassiker "M" von 1931 erinnert, den eine Berliner Mutter dort aus dem Off ausspricht: "Man muss halt besser uffpassen uff de Kleenen!"Ulrich Baron

Tim Parks: "Träume von Flüssen und Meeren" (Roman. Aus dem Englischen von Ulrike Becher. Kunstmann Verlag. 510 Seiten, 24,90 Euro)

Der Roman handelt von Wissenschaftlern, einer ganzen Familie von Biologen-Anthropologen-Medizinern, angenehm und intelligent zu lesen. Im Mittelpunkt stehen Helen, Armenärztin in Entwicklungsländern, und ihr Mann Albert, der sich in interessante, aber etwas abseitige anthropologische Studien verstrickt hat. Schauplatz ist Neu Delhi, Indien.

Gleichzeitig versucht der einzige Sohn John, ein junger Genetiker in London, nach dem Tod seines Vaters endlich nachträglich in die ferne, abweisende Musterehe seiner Eltern einzudringen. Er fliegt zur Beerdingung nach Delhi, aber seine Mutter hat wie immer anderes im Kopf. Alles, was John in Indien Lobendes über seinen verstorbenen Vater hört, reizt und ärgert ihn, während der Leser von diesem posthumen Suchbild vielleicht am meisten fasziniert ist: Albert wird beklemmend lebendig.

Indien, diese unvertraute Umgebung, stürzt John in eine tiefe Krise, in der auch seine kapriziöse Freundin Elaine in London und seine Großeltern eine Rolle spielen, auf die er plötzlich angewiesen ist. Obwohl er "noch so klein" gewesen war, als er bei ihnen die Ferien verbrachte: "Er kam mit dem Taxi, spielte, wurde verwöhnt, guckte Fernsehen, langweilte sich und wurde dann wieder in ein Taxi gesetzt."

Der lakonische kühle Ton macht schnell süchtig und sinkt schnell wieder ab. Zwei Knalleffekte am Schluss sorgen aber dafür, dass man noch länger über Verschiedenes nachdenkt.Sibylle Mulot

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