Vorgelesen Die wichtigsten Bücher der Woche

Was denkt so ein Räuber im Anblick der Gefahr? Die Literatur kennt Antworten
Foto: © Rafael Marchante / Reuters
Joseph Karol Smith: "Der Wolf"
(Aus dem Englischen von Frank Heibert, Berlin Verlag, 157 Seiten, 19,90 Euro)
Sie könnten einem mittelalterlichen Bestiarium entsprungen sein: der gierige Wolf, der listige Fuchs, der stolze Schwan. Aber was Joseph Karol Smith mit diesen Tieren veranstaltet, das ist viel mehr als eine moralische Versuchsanordnung, wie man sie aus gängigen Fabeln kennt.
Der titelgebende Wolf dieser Novelle ist nämlich ein spekulativ und rhetorisch hochbegabtes Tier. Es erzählt seine eigene Geschichte, übrigens von einem absurden Standpunkt aus, den man nicht benennen darf, weil er die Pointe des Dramas bildet.
So viel aber sei verraten: Dieser vierbeinige Killer zieht halbtot vor Hunger durch einen winterlichen Wald, scheitert beim Versuch, eine Hirschkuh zu reißen, und muss sich deshalb auf die Hilfe eines Fuchses einlassen. Der wiederum stellt als Beute einen prächtigen Schwan in Aussicht. Man muss nur noch diese Bergschlucht finden, wo das Tier gefangen ist ...
Für seinen animalischen Erzähler findet Smith eine so suggestive Sprache, dass man der Illusion streckenweise erliegt: So wird es im Bewusstsein eines Raubtiers aussehen, das sich selbst als Herrscher über Leben und Tod erlebt. Und so muss sich die Tragödie eines Wesens gestalten, das durch Schmerz und andere ungekannte Empfindungen aus seiner Welt zu fallen droht.
Ist "Der Wolf" also eine Parabel? Eine Spekulation über die vom Willen zur Macht gelenkte Existenz und wie sie aus den Fugen gerät? Ja, aber er ist vor allem ein Beweis für das paradoxe Verfahren der Literatur: Erst wenn sie ganz raffiniert und artifiziell wird, kann sie uns Natur vorgaukeln. Ein herrliches Spiel! Daniel Haas
George Grosz: "Ein kleines JA und ein großes NEIN"
(Sein Leben von ihm selbst erzählt. Schöffling, 416 Seiten, illustriert, 34,90 Euro)
Nirgends erschienen die Spekulanten und Krisengewinnler der Weimarer Republik widerwärtiger als auf den Bildern von George Grosz (1893-1959). Keinem hat sich das Schwein, das in jedem Menschen stecken soll, so hingebungsvoll offenbart. Dass Grosz auch ein brillanter Schreiber war, ist weniger bekannt, kann jetzt aber dank der Neuausgabe seiner Autobiografie mit Gewinn überprüft werden.
Grosz liefert ein grandioses Sittenpanorama vom Kaiserreich über den Krieg und die Weimarer Jahre bis ins amerikanische Exil. Voller literarischer Skizzen nach dem prallen Leben, das in den Goldenen Zwanzigern reiche Prasser und deren Kritiker symbiotisch vereinte. Wunderbar die Beschreibung der Dada-Aktionen oder der Dialog zwischen reichem Mann und Künstler:
"'Hach, Erwin, saach mir ma wat janz Ekelhaftes, wat janz Beleidijendes!'
'Du ehrloser Kapitalist!'
'Hach - noch einmal - hach is det süß! Erwin, hier is'n Blankoscheck. Jede Summe. Jede Summe ...'"
Ihn habe das "gleichsam in zwei Teile" zerfallen lassen, schreibt Grosz: "In Wirklichkeit war ich damals jeder, den ich zeichnete - der reiche, fressende, Champagner trinkende, vom Schicksal begünstigte Mensch ebenso wie der, der draußen im strömenden Regen die Hand aufhielt. Mit anderen Worten: Ich nahm am Leben teil." In keiner anderen Autobiografie begegnet einem Zeitgeschichte derartig intensiv und plastisch wie beim großen Neinsager George Grosz.
Ulrich Baron
Michael Crichton: "Gold"
(Aus dem amerikanischen Englisch von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann, Blessing Verlag, 365 Seiten, 19,95 Euro)
Der vor einem Jahr verstorbene Michael Crichton wird als Meister des Technologie-Thrillers im Gedächtnis bleiben und als Schriftsteller, der die Dinosaurier wiedererweckte. Doch sein "Jurassic Park" war auch unverkennbar von der Spannungsliteratur des 19. Jahrhunderts, vor allem von Arthur Conan Doyles "The Lost World" (1912), geprägt. Er fände Abenteuer sehr anziehend, sagte Crichton einmal: "Es muss etwas aus der Kindheit sein, ein Drang, das Gefühl wieder zu erschaffen, zehn oder elf Jahre alt zu sein."
So darf man sich nicht wundern, dass postum ein Piratenroman aus der Karibik erscheint - inklusive Riesenkraken, Menschenfressern und Giftpfeilen. Doch auch darin steckt technische Detailarbeit, wenn es etwa gilt, langsam brennende Lunten aus frischen Rattendärmen herzustellen. Oder wenn der korrupte Gouverneur von Jamaika bei der Morgentoilette seine ergrauende Haarpracht mit einer "Paste aus Olivenöl, Asche und zerstoßenen Regenwürmern" zu retten versucht. Leider stinkt die so erbärmlich, dass er sie "weniger häufig, als er eigentlich sollte", verwendet.
Natürlich würde sich dieser gewissenhafte Mann nie mit gesetzlosen Piraten abgeben. Wohl aber mit ehrbaren Freibeutern mit Lizenz zum Kapern. Vor allem mit Kapitän Hunter, der einen Plan zum Überfall auf eine spanische Festung entwickelt hat. Das ist nicht der Höhepunkt von Crichtons Schaffen, aber doch ein schöner und finaler Anschluss an die ersten Begegnungen mit spannenden Büchern. Ulrich Baron