Vorgelesen Die wichtigsten Bücher der Woche

Uns bleiben die Texte: die von den Nazis ermordete Autorin Irène Némirovsky (1903-1942)
Foto: AFP
Irène Némirovsky: "Leidenschaft"
(Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer, Knaus, 117 Seiten, 14,95 Euro)
Was für ein Roman! Nur 117 Seiten lang, und doch ist die Geschichte von Colette und ihrer Halbschwester Brigitte auf engstem Raum eine weitgespannte Phänomenologie der Leidenschaften und wie diese durchs Zusammenspiel sozialer Konventionen und persönlicher Schwäche zu etwas anderem werden: zu Resignation, Angst und Selbstbetrug.
Es gibt einen Ehebruch, einen Mord, die Aufklärung des Verbrechens - aber das sind nur die äußeren Stationen dieses Textes. Entscheidend ist, wie der Erzähler, der bejahrte Lebemann Sylvester, selbst in das Szenario verstrickt ist, wie er mitgewirkt hat am Netz der Illusionen und Halbwahrheiten, in dem sich die Leben der Figuren verfangen hat.
Und immer wieder kommen die Erinnerung, ihre Tücken und Unwägbarkeiten zur Sprache. Das ist das eigentliche Thema dieses Buchs: dass wir unser Leben in der Rückschau entwerfen und diesen Selbstbildern doch grundsätzlich misstrauen müssen. "Vermutlich habe ich sie von Anfang an aus zu großer Nähe betrachtet", sagt Sylvester über eine frühere Geliebte. "Wie alles, wonach einen gelüstet. Kennen Sie die Form und Farbe der Frucht, die Sie zum Munde führen? Es scheint so, als hätte man die Frauen, die man geliebt hat, vom ersten Tag an aus der Entfernung eines Kusses gesehen."
Mut, Scharfsinn und ein überragendes stilistisches Talent zeichnen diese Autorin aus. In den zwanziger Jahren war sie ein Star des literarischen Frankreichs, doch ihre Karriere wurde von den Nazis jäh beendet: Sie deportierten die jüdische Autorin 1942 nach Auschwitz und ermordeten sie. Ihre Texte fielen der Barbarei zum Glück nicht zum Opfer. Ein schwacher, aber kostbarer Trost. Daniel Haas
Martin Kubaczek: "Sorge. Ein Traum"
(Folio Verlag, 288 Seiten, 22,50 Euro)
Mit solch zeremonieller Höflichkeit ist wohl selten ein Spion zur Hinrichtung geleitet worden wie der Titelheld dieses Romans. Das ist nicht verwunderlich, weil es in den meisten Spionage-Geschichten darum geht, solch ein Ende zu vermeiden. Der deutsche Kommunist Richard Sorge (1895-1944) aber war eine historische Figur, und die springen dem Tod nicht von der Schippe. Im sowjetischen Auftrag spionierte er in den höchsten politischen Kreisen Tokios die japanischen und deutschen Kriegspläne aus.
Auf den Spuren dieses Meisteragenten wendet sich Martin Kubaczek Fragen zu, die ein Thriller kaum stellt: Wie macht man sich mit einer fremden Kultur vertraut, wie lebt man darin als Fremder, dessen Auftrag es ist, alle Vertrautheit und alles Vertrauen zu missbrauchen? An der Schwelle zum Tod durchlebt Sorge hier noch einmal seine Zeit als Agent und seine Liebe zu einer jungen Japanerin, scheint gar im letzten Moment zu entkommen. Aber dieses alternative Leben ist, wie der Untertitel andeutet, nur ein Traum.
Martin Kubaczek hat lange in Japan gelebt. Wenn er einen Wintertag beschreibt, hat das die kühle Klarheit einer Tuschezeichnung. Wenn ein Vogelschwarm in der Ferne verschwindet, gleicht er einer "Handvoll Mohn, die jemand in den Himmel wirft". Spannung entsteht hier aus Bildern heraus, durch die man in eine fremde, vergangene Welt blickt. Mit derselben Präzision weiß Kubaczeks "roter Asket mit Playboy-Manieren" über ein Schachbrett hinweg die Kriegstaktik und Strategie seines Gastlandes darzustellen, wo man ihm in der Wirklichkeit die Schlinge über den Kopf ziehen wird. Behutsam und demütig, wie es die Höflichkeit gebietet. Ulrich Baron
Yrsa Sigurðardóttir: "Die eisblaue Spur"
(Aus dem Isländischen von Tina Flecken. Fischer Taschenbuch 18343, 341 Seiten, 8,95 Euro)
Eine Frau allein im Bürotrakt einer Bergbau-Expedition. Draußen die grönländische Nacht. Vor dem Fenster eine Bewegung, vor dem Haus sitzt ein Hund. Kein Schoßtier, sondern einer jener Schlittenhunde, die sehr rabiat sein können. Lauert er auf sie? Oder will er sie warnen?
Wenig später wird die Frau vermisst gemeldet wie zwei ihrer Kollegen auch. Verständlich, dass der Rest der Crew nicht mehr nach Grönland zurück will. Weil der Bergbaufirma deshalb eine Konventionalstrafe droht, reist die Reykjaviker Anwältin Dóra Guðmundsdóttir mit einem kleinen Team an die dünn besiedelte Ostküste der Gletscherinsel. Die Einheimischen reagieren feindselig. Offenbar haben die Bohrteams der Firma Bergtækni den Schauplatz eines alten Unglücks entweiht. Aber wer ist dessen Hüter, und wer ist hier bereit über Leichen zu gehen?
Fräulein Smilla hat eine Nachfolgerin gefunden, die sich für Schnee nur mäßig interessiert. Denn nicht nur für Islands Krimiautoren liegt Grönland gewissermaßen vor der Haustür, sondern auch für dessen Ingenieure. Und genau das war die 1963 geborene Yrsa Sigurðardóttir, bevor sie mit dem Schreiben begann. Hier vereinen sich Erzähltalent und persönliche Erfahrung. Und eine eisblaue Spur lockt ins Unbekannte, wo wilde Hunde und Lebensformen lauern, die höchst bedrohlich sind. Ulrich Baron