Vorgelesen Die wichtigsten Bücher der Woche

Deutsche Kriegsheimkehrer im August '48: "Erlebnisbedingte Störungen"
Foto: Charles Hewitt/ Getty Images
Svenja Goltermann: "Die Gesellschaft der Überlebenden. Deutsche Kriegsheimkehrer und ihre Gewalterfahrungen im Zweiten Weltkrieg"
(DVA, 592 Seiten, 29,95 Euro)
Aus Eroberern wurden Verlierer, Versager: Der aus der Gefangenschaft kommende, verwirrte und aggressive Spätheimkehrer ist in der deutschen Literatur oft dargestellt worden. Goltermann hebt die Tragödie ganzer Generationen nun zum ersten Mal auf eine breite historische Basis.
Da kamen sie, abgemagert und traumatisiert - und konnten sich im Nachkriegsdeutschland nicht zurechtfinden. Sie wurden von ihren Angehörigen zum Arzt oder Psychiater geschickt. Dort sprachen sie, vielleicht zum ersten Mal, über ihre Traumata, suchten Hilfe, Verständnis, Absolution, Belohnung. Aber ihre Krankheit (das Posttraumatische Belastungssyndrom) gab es noch gar nicht: Ein "psychisch gesunder Mensch", hieß es schon im Ersten Weltkrieg europaweit, sei auch "psychisch unbegrenzt belastbar", er erhole sich rasch. Blieb er krank, sei er automatisch schon vor dem Krieg "anlagebedingt" labil oder krank gewesen, mithin kein Entschädigungsfall.
Nach dem Zweiten Weltkrieg galt unverändert: Dem körperlich intakten und "nur" psychisch Arbeitsunfähigen stand keine Rente zu. Hartnäckige Bittsteller wurden als Renten-Simulanten oder erblich Geisteskranke betrachtet.
Aus den Akten und Zeitdokumenten dieser Heimkehrer, ihrer Ärzte, Psychiater und Juristen hat Svenja Goltermann diesen heute vergessenen Teilaspekt deutscher Geschichte sorgfältig rekonstruiert. Erst ab 1960 bröckelte, unter dem Druck internationaler Entschädigungsforderungen für KZ-Überlebende, die offizielle Lesart von der "grenzenlosen psychischen Belastbarkeit" des Gesunden.
Langsam setzte sich in Wissenschaft und Sozialrecht die Erkenntnis der "erlebnisbedingten (schweren) Störungen" durch. Die Gesellschaft war für das, was sie ihren Menschen zumutete, eben doch verantwortlich, somit regresspflichtig. Diese schon fast kopernikanische Wende im ganzen Nachkriegsdenken nützte den kranken Veteranen nichts. Zu deutlich stand jetzt im Fokus der Aufmerksamkeit, dass sie ja nicht nur Opfer, sondern auch Täter gewesen waren. Sibylle Mulot
Alissa Walser: "Am Anfang war die Nacht Musik"
(Piper, 253 Seiten, 19,95 Euro)
Ihrem ersten Roman hat Alissa Walser zwei historische Gestalten gewidmet: Im Wien der Mozart-Zeit bemüht sich der berühmte Arzt und Magnetiseur Franz Anton Mesmer um die junge Pianistin Maria Theresia Paradis, die seit ihrem dritten Lebensjahr blind ist. Wie eine Wachspuppe erscheint ihm seine Patientin - bleich unter der Last einer grotesken Perücke: "Ein Haargebirge. Ein Pudergespenst."
Haare und Puder verbergen die Narben früherer Behandlungen, die Mesmers Vorgänger dem Mädchen mit Messern, Schwefel und Quecksilber zugefügt haben. Augen und Gesicht zucken manchmal "wie ein irre gewordener Automat". Einiges deutet darauf hin, dass ihre Erblindung die Folge eines frühen Traumas ist. Niemand scheint deshalb berufener, dem gepeinigten Wunderkind zu helfen, als der einfühlsame, musisch begabte Mesmer, der wie ein Vorläufer Sigmund Freuds wirkt. Aber seine Konkurrenten warten nur darauf, über den Wunderdoktor herfallen zu können.
Walser erzählt dies in einer Sprache, die zugleich Text und Begleitmusik ist, bald harmonisch heiteres Fluidum, bald von der rauen Wirklichkeit zu Dissonanzen gebrochen. Denkt etwa der Doktor frühmorgens an "eine Harmonie, die höchstens der Ausgeschlafene empfindet", ruft ihn sofort ein "Ist er nicht" in den Alltag zurück. Das gibt dem Erzählen bei aller Tragik eine fast schon Mozart'sche Leichthändigkeit. Ulrich Baron
Lincoln Child: "Nullpunkt"
(Deutsch von Axel Merz, Wunderlich, 397 Seiten, 19,95 Euro)
Nach der langjährigen Zusammenarbeit mit seinem Kollegen Douglas Preston, die 1995 mit dem Millionenseller "Das Relikt" begonnen hatte, startete Lincoln Child im Jahre 2008 mit "Wächter der Tiefe" eine Solokarriere. Aber auch sein jüngster Roman ist wieder Spannungsliteratur in klassischer Manier: Bei Forschungen im Eis Alaskas stoßen Wissenschaftler auf den gefrorenen Körper eines Wesens, das sie zunächst für einen steinzeitlichen Säbelzahntiger halten. Als ihr Geldgeber, ein großer Medienkonzern, ein Filmteam schickt, das das Auftauen des "Tigers" zum Doku-Thriller verarbeiten soll, zeigt das Eis, was wirklich in ihm steckt.
Wer den Science-Fiction-Filmklassiker "Das Ding aus einer anderen Welt" (1951) kennt, wird hier manche Parallelen entdecken: Die Isolation im arktischen Eis und das Erwachen einer fremdartigen Bestie, die gegen alle konventionellen Waffen immun zu sein scheint.
Aber als langjähriger Lektor weiß Child natürlich, wie man seine Karten und sein Monstrum bedeckt hält. So zeigt er zunächst nur, was es mit Menschen anstellt, die ihm in den Weg kommen, und streut hier und da Hinweise darauf ein, dass den Eingeborenen dieser gottverlassenen Polarregion diese Heimsuchung nicht unbekannt ist. Das ergibt einen packenden Pageturner, der lange Nachtwachen verkürzt und dabei hilft, selbst fiebrige Erkältungen wohlig schaudernd zu überstehen.
Ulrich Baron