Vorgelesen Die wichtigsten Bücher der Woche

Da müssen Ökoextremisten schlucken: Ein Buch von Tom Standage entlarvt die Ernährungsmythen der Bio-Kultur. Ein autobiografischer Roman von H.G. Adler fordert den Leser. Und der neue Kriminalroman von Caryl Férey entführt ins dunkle Herz der südafrikanischen Geschichte.
Von Ulrich Baron und Sibylle Mulot
Kulturgeschichte geht durch den Magen, auch beim Essen (Szene aus "Das große Fressen")

Kulturgeschichte geht durch den Magen, auch beim Essen (Szene aus "Das große Fressen")

Foto: ddp images

Tom Standage: "Der Mensch ist, was er isst. Wie unser Essen die Welt veränderte"

"Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral", heißt es in Brechts "Dreigroschenoper", und überhaupt hat mit dem Essen alles angefangen. Der Brite Tom Standage, der schon "Sechs Getränke, die die Welt bewegten" (2006) vorgestellt hat, zeigt, dass Welt- und Kulturgeschichte durch den Magen geht.

Und er konfrontiert uns mit der Einsicht: Natürliche Ernährung ist eine Illusion. Was als Bio-Weizen, Mais, Kartoffeln oder Reis aufgetischt wird, sind die Früchte von Zuchtprozessen, die von den wilden Vorfahren unserer Kulturpflanzen nur das übrig gelassen haben, was zur Landwirtschaft passt. In freier Wildbahn hätte keine davon eine Überlebenschance. In Hinblick auf den Streit um die Gentechnik konstatiert Standage deshalb provozierend: "Herbizidtoleranter Mais kommt zwar gewiss nicht in der Natur vor - aber das gilt auch für jede andere Art von Mais."

Aber warum entstand überhaupt Landwirtschaft, wenn Jäger und Sammler mit einer Vierzehn-Stunden-Woche auskamen? Der Übergang zur Sesshaftigkeit bleibt rätselhaft. Sicher ist nur, dass es danach kein Zurück mehr gab. Gier nach Zucker und Gewürzen bahnte den Weg nach West- und Ostindien, vor der Kartoffelpest flohen zahllose Iren nach Amerika, und mit der Kontrolle über die Nahrungsversorgung wurde das Essen zur Waffe.

Anschaulich und spannend enthüllt Tom Standage das Wechselspiel von Mensch und Natur, das unsere Umwelt geprägt und uns zu dem gemacht hat, was wir heute sind. Ulrich Baron

H.G. Adler: "Panorama. Roman in zehn Bildern"

Nächste Woche wäre H.G. Adler einhundert Jahre alt geworden. Er sah sich selbst als Dichter, seine Umwelt legte ihn aber auf seine monumentale Dokumentation des Lagers Theresienstadt fest, in dem er jahrelang inhaftiert war. Nach Kriegsende traf Adler im Londoner Exil auf seinen Jugendfreund Franz Baermann Steiner und auf das Ehepaar Canetti, einen zunächst isolierten, dann unterschiedlich erfolgreichen Emigrantenkreis.

In den zehn "Bildern" seines Romans durchlebt die zentrale Figur Josef Kramer das 20. Jahrhundert vom Kaiserreich bis zur Stunde Null in einer unglaublichen Präsenz und Dichte. Josef erlebt die ihm gegebene Zeit naiv, wach und gefühlvoll; sein Autor entlarvt sie im selben Atemzug bis in die Feinstrukturen. Der Roman ist in der Konstruktion modern, in der Wortwahl scheinbar traditionell - Adler liebte Kafka, aber auch Stifter - und formal mit Canettis Sprachmasken verwandt, nur subtiler.

"Panorama" gilt als der zugänglichste von Adlers drei großen autobiographischen Romanen (neben "Die Reise" und "Die unsichtbare Wand"). Er entstand ab 1948, wurde erstmals 1968 publiziert und ist jetzt erfreulicherweise wieder lieferbar. Erst vor kurzem erschien zu Adler eine erste Monographie, umfangreich und für den Neuling hilfreich (Franz Hocheneder, "H.G. Adler", Böhlau Verlag).

Und ja, der Dichter Adler ist dem Leser zumutbar. Mit großem Gewinn. Nicht unbedingt als unbeschwerte Urlaubslektüre, aber das sind Canettis "Masse und Macht" und Musils "Mann ohne Eigenschaften" ja auch nicht. Sibylle Mulot


Caryl Férey: "Zulu"

Peitschenhiebe auf zerfetztes Fleisch und die Gestalt seines Bruders, "die sich verflüchtigte, die schmolz wie ein Gummisoldat, und dann der schreckliche Geruch von Versengtem": Immer wieder erinnert sich Ali Neumann alias Zulu, wie für ihn ein Albtraum Wirklichkeit geworden ist. Inzwischen ist aus dem kleinen Jungen ein Chef der Kriminalpolizei von Kapstadt geworden, aber der mörderische Überfall der Inkatha-Milizen auf seine Familie ist in diesem Thriller nur das Präludium für einen Fall, der die Schrecken der Vergangenheit Südafrikas lebendig werden lässt.

Zwischen den Blumen des Botanischen Gartens von Kapstadt hat man die Leiche eines jungen Mädchens gefunden. Die Tochter eines ehemaligen Sporthelden: "Ein herausgeputztes Püppchen, das man gerne zu einer Kugel Vanilleeis eingeladen, aber keinesfalls einfach so mit Hammerschlägen ins Gesicht massakriert hätte."

Blumen und Leichen, Vanilleeis und Hammerschläge - der 1967 in Caën geborene Caryl Férey arbeitet mit scharfen Gegensätzen und brutalen Schnitten. Was als harmlose Grillparty erscheint, kann in einem Massaker eskalieren, das die Schrecken der Eingangsszene aufleben lässt und überbietet. Am Ende verbrennt die umbarmherzige Sonne Afrikas den Guten und den Bösen gleichermaßen - ein Roman noir aus dem Herzen der Finsternis. Ulrich Baron

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten