Vorgelesen Die wichtigsten Bücher der Woche

Nichts als Pein, seitenweise: Die eine Romanfigur wird von einem unerwarteten Hausgast gequält, die andere von einem dunklen Familiengeheimnis. Aber eigentlich ist das ja harmlos. Es könnte schließlich auch ein Mörder auf einen warten, der selbst schon längst tot ist.
Von Ulrich Baron und Sibylle Mulot
Rosenkrieg ohne Rosen: Wenn zwei sich streiten, freut sich der Leser

Rosenkrieg ohne Rosen: Wenn zwei sich streiten, freut sich der Leser

Foto: Corbis

Inger-Maria Mahlke: "Silberfischchen"

"Eine lange Reihe abgasgeschwärzter Häuser, die sich in Pfützen spiegelten, trocknete an der Wäscheleine in der Küche, er stieß sie im Vorbeigehen an." Schon der erste Satz stupst auch den Leser an, lässt ihn nachdenken. "Er", der verwitwete, pensionierte Polizeimeister Mildt, vor kurzem erst nach Berlin gezogen, ist Fotograf. Dieses Hobby scheint ihm Lebensorientierung zu geben. Ansonsten ist er störrisch: Wenn die Bahn Verspätung hat, zahlt er nicht, zum Beispiel. Zusammen mit einer wildfremden, gleichfalls schwarzfahrenden Polin wird er aus dem Zug geholt und registriert. Zu seinem Entsetzen hängt sich diese Person anschließend an ihn wie eine Klette, sie braucht ein Nachtquartier und eine Adresse, bis ihr Ersatzpass kommt.

Und was braucht er? Kaum in seiner Wohnung angelangt, entfaltet sich zum Vergnügen des Lesers ein Ehekrach zwischen den beiden Unbekannten, als ob sie ein altes Paar wären. Rosenkrieg ohne Rosen. Dabei brechen tiefsitzende Deformationen auf. Bei ihm: Angst, Kontrollwahn, frustrierte Kleinlichkeit. Bei ihr: Minderwertigkeitskomplex, Versorgungstrieb.

Ein virtuoses Kammerspiel mit Haushalts-, Alltags- und Seelendingen, originell, niemals grell. Zunächst nur durch temporeiche und überraschende Handlung bestimmt, tragen später sparsam gesetzte Rückblenden einiges zur Erklärung nach. Ein Strom kurzer, wohl erwogener Sätze treibt das literarische Debüt der 33-jährigen Autorin voran und sorgt dafür, dass man den Pas de deux von Hermann Mildt und Frau Jana Potulski so schnell nicht vergisst. Absurd wie im richtigen Leben - feindlich, freundlich, grotesk. Sibylle Mulot

Monique Truong: "Bitter im Mund"

Auf ihrem Sterbebett hatte ihre Großmutter von einem Geheimnis gesprochen, an dem Linda Hammerick zerbrechen könnte. Auf den ersten Blick jedoch wächst sie sorgenfrei in einer wohlhabenden Südstaaten-Familie in North Carolina auf. Im Provinzkaff Boiling Springs kann man sein Geld wahlweise in Bridges Barbecue Lodge oder im Slo' Smoking Steakhouse & Bar-B-Que verprassen. Oder man schafft sich dort eine eigene Welt, wie Lindas wunderlicher Großonkel Baby Harper, dessen herzliche Albernheiten sie über die Lieblosigkeit ihrer Mutter hinwegtrösten.

Dass Linda anders ist als die Kinder von Boiling Springs, hat sie nur Kelly anvertraut, ihrer in jeder Beziehung dicken Freundin, mit der sie einen regen Briefwechsel führt: Wörter haben für Linda einen bestimmten Geschmack - nach Minze, Popcorn oder Dr.-Pepper-Limonade. Dass man solche Veranlagung als Synästhesie bezeichnet, erfährt sie erst, als sie die Welt ihrer Kindheit und Jugendliebe längst hinter sich gelassen hat. Da hat sie auch den Lesern schon eingestanden, dass manches bei ihr nicht so verlaufen ist wie in einem normalen Leben und dass ihr Dasein als Linda erst begonnen hat, als sie sieben Jahre alt war.

In einer Mischung aus sinnlicher Beschreibung, verdeckten Andeutungen und geschickten Aussparungen erzählt die 1968 in Südvietnam geborene und in den USA aufgewachsene Monique Truong von der Fremdheit im scheinbar Vertrauten, von schwarzen und weißen Lügen und den trügerischen Fundamenten einer Familie. Hinter Orangeneis und Pfirsichauflauf lauert hartnäckig ein bitterer Geschmack im Mund, der die Erzählerin an das Geheimnis ihrer Herkunft erinnert. Ulrich Baron

Douglas Preston und Lincoln Child: "Cult. Spiel der Toten!"

Seit "Relic" (1995), ihrem Debüt als Autorengespann, haben Douglas Preston und Lincoln Child immer wieder ihren Spürsinn für unheimliche Schauplätze bewiesen: Die labyrinthischen Kellergewölbe eines Museums voller nie ausgepackter Kisten, vergessene U-Bahn-Tunnel tief unter New York und nun eine alte Kirche in einem weniger bekannten Park der Stadt. Richtig spannend aber wird es an diesen Orten durch deren Bewohner: eine merkwürdige Kreatur, die ein Forscher aus dem Dschungel mitgebracht haben soll ("Relic"), oder jetzt ein brutaler Mörder, der einen Journalisten abgeschlachtet hat. Seltsam ist dessen Kaltblütigkeit. Lässt sie sich damit erklären, dass dieser Killer selbst schon vor Wochen für tot erklärt worden war?

Wieder einmal operieren Preston und Child im Grenzland von Mystery und Kriminalroman, Horror und Fantasy. Während sie einerseits glaubhaft erscheinen lassen, dass auch tote Männer noch Unheil anrichten können, legen sie Spuren aus, die auf eine realistische Erklärung hinführen.

Bei ihrer Suche nach dem untoten Mörder stoßen Polizei und FBI in einer historischen Siedlung New Yorks nicht nur auf einen blutigen Zombie-Kult, sondern auch auf militante Tierschützer und einen skrupellosen Grundstücksspekulanten. Das lädt zu einer zombiemäßigen Gratwanderung zwischen dem Möglichen und dem Unmöglichen ein, angesichts derer alle Mainstream-Vampire nur vor Neid erblassen können. Ulrich Baron

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