Walser-Debatte "Antisemitischer Affektsturm"

Mit der Veröffentlichung des Romans "Tod eines Kritikers" gerät die Debatte um den vermeintlichen Antisemitismus Martin Walsers erneut in Schwung. Sowohl der Sozialwissenschaftler Jan Philipp Reemtsma als auch die Literaturwissenschaftlerin Ruth Klüger kommen zu eindeutigen Erkenntnissen.

Frankfurt/Main - Am gestrigen Mittwoch war es so weit: Martin Walsers Skandalroman "Tod eines Kritikers" wurde in einer Auflage von 50.000 Exemplaren endlich veröffentlicht und war, glaubt man den Angaben des Suhrkamp Verlags, fast sofort vergriffen. In den Feuilletons herrschte am Tag der Veröffentlichung Ruhe und Frieden, man hatte sich ja in den vergangenen Wochen schon reichlich über Walser und seine "Mordphantasie" ("FAZ"-Herausgeber Frank Schirrmacher) echauffiert. Aber noch nicht genug, wie es scheint. Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" ("FAZ"), die den Vorabdruck des Romans mit einem spektakulären offenen Brief Schirrmachers an Walser ablehnte, veröffentlichte am Donnerstag noch einmal ein langes Stück zum Thema "Tod eines Kritikers".

Der Hamburger Sozial- und Literaturwissenschaftler Jan Philipp Reemtsma hat sich des umstrittenen Buches angenommen und es erneut auf etwaige antisemitische Tendenzen überprüft. Wie so viele Kritiker vor ihm kommt auch Reemtsma zu dem Schluss, dass es sich bei Walsers Werk zunächst um "literarische Barbarei" handele. Walsers Ansatz, die - wenn auch fiktionalisierte - Person Marcel Reich-Ranickis, der die Verfolgung durch die Nazis mit Glück überlebt hat, "zum Gegenstand einer literarischen Mordphantasie zu machen", sei eine "soziale Rohheit, die das Werk, in dem das geschieht, von vornherein disqualifiziert", so Reemtsma.

"Das Bild vom geilen Juden"

Laut Reemtsma vermischen sich in Walsers Roman "zwei Dinge", zum einen die persönliche Abrechnung des Autors mit dem Kritiker Reich-Ranicki, zum anderen die antisemitischen Ressentiments und Klischees, die Walser benutzt, um seine Romanfigur André Ehrl-König zu charakterisieren - alles auf Kosten der literarischen Qualität: "Das Grundanliegen Martin Walsers, Marcel Reich-Ranicki in absurder und bizarrer Gestalt mit höchstem Beleidigungswert in seinem Roman auftreten zu lassen, macht alle Bemühungen um eine annähernd komplexe Erzählstruktur zunichte", schreibt Reemtsma.

Vor dem persönlich-diffamierenden Hauptanliegen Walsers treten laut Reemtsma alle anderen Elemente des Romans zurück und machen einem geradezu offen liegendem Antisemitismus Platz. Der Literaturkritiker werde von Walser nicht nur mit vielerlei Attributen (Sprache, schwarzer Hut, Plateausohlen) zum "Popanz" charakterisiert, die in den Fundus der jüdischen Karikatur-Klischees gehören, es gehe in "Tod eines Kritikers" auch nicht, wie Walser sagt, um die "Macht im Literaturbetrieb": "Tatsächlich zeigt es die obszönen Phantasien eines Autors über einen mächtigen Literaturkritiker. Dieser (...) ist, wie Marcel Reich-Ranicki, Jude", schreibt Reemtsma. "Bekanntlich gehört zum Kernbestand antisemitischer Stereotype das Bild vom geilen Juden, der Macht ausübt, die zu haben er nicht legitimiert ist - besonders im Kulturbetrieb".

Die persönliche Verletzung durch Reich-Ranicki gerate dem Kritik-empfindlichen Walser "zur Zerstörung der deutschen Literatur durch den mächtigen jüdischen Schädling, die Phantasien laufen Amok". Das sei, so Reemtsma, kein untypisches Muster: "Der Antisemitismus ist als Weltdeutungsmuster latent vorhanden; die Rage, in die einer gerät, wird zum antisemitischen Affektsturm." Martin Walsers Roman sei "die Folge einer durch Autosuggestion entstandenen Verstörung". Walser auf Grund dieser Erkenntnis einen Antisemiten zu nennen, wagt Reemtsma nicht, "aber er ist jemand, der ein antisemitisches Buch geschrieben hat", schreibt er.

"Übles Buch"

Die Literaturwissenschaftlerin Ruth Klüger, eine langjährige Freundin Walsers, vertritt in ihrem offenen Brief, den die "Frankfurter Rundschau" am Donnerstag abdruckte, dieselbe Meinung. Klüger, selbst Jüdin, fühlt sich von Walsers Darstellung des Literaturkritikers "als jüdisches Scheusal betroffen, gekränkt, beleidigt." Die 1931 geborene Professorin akzeptiert zwar Walsers Rolle als Satiriker, der sich in seinem Roman der Karikatur bedient, bezichtigt ihn ob der Symbole, die er erschafft, jedoch als verantwortungslos: "Wenn er einen widerlichen Kritiker als Juden zeichnet, dann darf man wohl fragen, ob er damit so etwas wie die zerstörende Macht der Juden im deutschen zeitgenössischen Geistesleben meint", schreibt Klüger und bezeichnet "Tod eines Kritikers als "übles Buch".

Die offenbar gewollte Vermeidung der nur in Andeutungen vorkommenden jüdischen Thematik mache Walsers Werk so verwerflich. "Der Judenmord, wie er in Deinem Buche steht, war immer nur eine Phantasie in den Köpfen Deiner fiktiven Schriftsteller, selbstredend Nichtjuden, die der jüdische Kritiker geschädigt hatte", schreibt sie. Vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte, "die sich nun einmal nicht ausklammern lässt", sei die "komische Wiederkehr des nur scheinbar ermordeten Juden noch schlimmer als ein handfester Krimi mit Leiche", so Klüger.

In seiner Unterschwelligkeit folge Walsers Darstellung des Literaturkritikers "einem geradezu klassischen Muster der Diskriminierung", schreibt Klüger weiter und zieht Parallelen zwischen Walsers Roman und Wilhelm Raabes Werk "Der Hungerpastor" von 1864, einem Klassiker der als antisemitisch geltenden Literatur. In der deutschen Gesellschaft beobachtet Klüger zudem einen Rückfall in den "guten alten Risches von 1910", die "gemäßigte Judenverachtung weiter Bevölkerungsschichten aller Klassen, mit der sich (scheinbar) leben ließe." Daran sei Walser nicht unbeteiligt. Er habe 1998 in seiner Friedenspreisrede "über eine Moralkeule gejammert, mit der Ungenannte Dich und andere Deutsche bedrohen", schreibt Klüger. Doch nun sei ihm die "heraufbeschworene Keule" in die eigenen Hände gerutscht.

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten