Exklusiv von Marc-Uwe Kling
Känguru unterm Christbaum - die etwas andere Weihnachtsgeschichte
Was hat das Fest der Versöhnung mit den Kommentaren im SPIEGEL-Forum zu tun? Marc-Uwe Klings "Känguru"-Bücher fanden Millionen Fans - für uns hat der Bestsellerautor exklusiv seine eigene Weihnachtsgeschichte geschrieben.
Konversation mit dem Känguru: "Zum Beispiel könntest du aufhören, Artikel auf SPIEGEL ONLINE zu lesen"
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Zur Person
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Marc-Uwe Kling wurde 1982 in Stuttgart geboren, er ist Liedermacher, Kabarettist und Autor. Mit seinen Känguru-Büchern gelangen ihm Bestseller. 2019 kündigte der US-Sender HBO an, Klings Roman "Qualityland", in dem er eine digitale Dystopie entwirft, zu verfilmen. Die "Känguru-Chroniken" kommen im Frühjahr 2020 ins deutsche Kino.
Ein passabler Vorschlag
"Was ist dein Vorsatz für Weihnachten?", fragt das Känguru.
"Du meinst fürs neue Jahr?", sage ich.
"Nein, ich meine für Weihnachten. Ich mache Vorsätze für Weihnachten, und an Silvester..."
"...singst du 'Stille Nacht'?"
"Erwarte ich, von dir beschenkt zu werden."
"Ist es nicht wirklich unglaublich anstrengend, alles immer umgekehrt zu machen als alle anderen?"
"Es geht", sagt das Känguru. "Vieles wird auch einfacher. Zum Beispiel habe ich heute schon 50 umgekehrte Liegestütze gemacht."
"Das heißt, du hast dich auf den Rücken gelegt und die Arme immer wieder in die Luft gestreckt?"
"Ich hab sogar noch je zwanzig einarmige Liegestütze gemacht."
"Was ist denn eigentlich dein Vorsatz?", frage ich.
"Muss ich wirklich noch etwas an mir ändern? Bin ich nicht endlich so alt, dass die Leute sagen: 'Ach, das Känguru, das ändert sich eh nicht mehr'?"
"Ich hätte einen Vorschlag", sage ich. "Weniger Screentime."
"Hm..."
"Zum Beispiel könntest du aufhören, Artikel auf SPIEGEL ONLINE zu lesen, während du dich mit mir unterhältst."
"Stört dich das?", fragt das Känguru.
"Natürlich stört mich das!"
Das Känguru seufzt und packt mein Smartphone in seinen Beutel. Ich schreibe ein Gedanken-Memo an mich, welches mich daran erinnern soll, dass ich später nicht mein Handy zu suchen brauche. Wie immer wird das nicht funktionieren, denn der nächste flüchtige Gedanke reißt all die mühsam angeklebten Post-its sowieso von der Großhirnrinde und am Ende stehe ich wieder am Bahnhof in Bielefeld, obwohl mein Auftritt in Hannover ist.
Das Känguru schnippst mit seinen Fingern vor meinen Augen.
"Hallo? McFly? Jemand zu Hause?", fragt es.
"Hm?"
"Ich lese die Artikel übrigens nicht", sagt das Känguru, "ich kommentiere sie nur."
"Ich glaube, das machen die meisten Kommentierer so."
"Aber ich schreibe keine Hasskommentare, sondern Liebeskommentare."
"Natürlich. Und wahrscheinlich sind sie sogar orthografisch und grammatikalisch korrekt."
"Sie sind überdies logisch schlüssig und argumentativ kohärent."
"Auch das noch."
"Die missverstandene Meinungsfreiheit des Hasskommentars wird einst von Historikern als eines der hervorstechendsten Merkmale unserer Generation gesehen werden."
"Ach, ich weiß nicht. So neu ist das doch gar nicht", sage ich. "Auch die alten Nachbarn meiner Großeltern haben mehrere Stunden Screentime am Tag. Nur ist der Screen die Fensterscheibe und die Hasskommentare werden noch per Schall übermittelt."
"Aber Schall trägt nicht so weit wie 4G."
"Das stimmt. Und heute sind die Nachbarn bestimmt sogar freundlich. Weil Weihnachten ist ja das Fest der Versöhnung."
"Jetzt fang du nicht auch noch mit dem Quatsch an", sagt das Känguru.
"Wie meinst'n das?"
"Na, Versöhnung ist ja schön und gut, aber manche Gruppen kann man nicht versöhnen. Wenn die einen sagen 'zwei plus zwei ist vier' und die anderen sagen 'zwei plus zwei ist fünf', dann ist es bescheuert, wenn jemand als Kompromiss vorschlägt, dass zwei plus zwei viereinhalb ist. Wenn du verstehst, was ich meine."
"Du meinst, wenn die eine Gruppe recht hat und die andere Gruppe rechts ist?"
"Korrekt", sagt das Känguru. "Oder wenn die einen sagen 'CO2 plus CO2 gleich Erderwärmung' und die anderen sagen 'CO2 plus CO2 gleich kein Problem', dann ist es Quatsch, wenn die Regierung sagt 'CO2 plus CO2 gleich Erderwärmung, aber kein Problem'."
"Immer noch besser, als wenn die Regierung ebenfalls sagt, dass zwei plus zwei fünf ist", sage ich.
"Du redest von..."
"Ihm, dessen Name nicht mehr genannt werden soll. Aber sag mal, können wir nicht zumindest an Weihnachten nicht über Politik reden?"
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"Du musst deswegen nicht gleich still sein", sage ich.
Das Känguru zuckt mit den Schultern und deutet auf seinen geschlossenen Mund.
"Jaja. Schon klar. Du willst mir zu verstehen geben, dass alles politisch ist."
Das Känguru klatscht in die Pfoten.
"Aber es gibt durchaus Themen, die nicht politisch sind", sage ich.
Das Känguru guckt fragend. Und herausfordernd.
"Zum Beispiel Weihnachtskekse", sage ich, nehme einen Keks aus der Schale auf dem Tisch und schiebe ihn in den Mund.
Das Känguru macht "Gack, gack!" läuft im Kreis herum und tut so, als lege es ein Ei. Dann kaut es, macht dabei kreisende Bewegungen mit seinem Unterkiefer und sagt: "Muh!"
"Kennst du diese Augenblicke bei Scharade", frage ich, "in denen sich jemand so zum Affen, respektive zur Kuh macht, dass man ihn weiter Pantomime spielen lässt, obwohl man schon längst die Lösung weiß?"
Das Känguru hört auf, sich zur Kuh zu machen, und schaut mich fragend an.
"Du meinst", sage ich, "Weihnachtskekse sind ein politisches Thema, weil man darüber diskutieren kann, ob sie vegan sind oder nicht."
"Man könnte auch darüber diskutieren, dass die Zuckerindustrie die ganze Bevölkerung süchtig gemacht hat und dass ihre Lobby alle in der Tasche hat inklusive der Ernährungsministerin."
"Süßer die Klöckner nie klingt, als zu der Zeit, in der sie Loblieder auf Nestlé singt."
"Hui", sagt das Känguru. "Ein umgedichtetes Lied. Da ist aber wieder der Kleinkünstler mit dir durchgegangen."
"Sorry."
"Man könnte anhand der Weihnachtskekse auch über Transportwege diskutieren, darüber ob Bio immer Bio ist, über die Lebensbedingungen der Leute, die den Kakao ernten müssen, über..."
"Ja. Ist ja schon gut."
"Und ich habe noch gar nichts zum Weihnachtsaspekt der Kekse gesagt. Religion, Kommerz, Tannenbaummassaker. Don't get me started!"
"Keine Sorge", sage ich. "Aber sag mal, wie wäre es, wenn wir das alles morgen diskutieren und die Kekse heute einfach nur essen?"
"Passabler Vorschlag", sagt das Känguru.
Ich nehme einen Dominostein und beiße hinein.
"Bäh", sage ich gleich darauf.
"Das sind keine Dominosteine", sagt das Känguru. "Das sind große Schnapspralinen."
Ich spucke die große Schnapspraline in eine Weihnachtsserviette. Dann überkommt mich eine kaum erträgliche Nervosität, weil ich seit bestimmt mehr als fünf Minuten meine E-Mails nicht gecheckt habe.
"Wo ist eigentlich mein Handy?", frage ich und blicke mich um.