Geflüchtete Schriftsteller in Deutschland "Literatur ist kein Zeitungsartikel"

Tanja Dückers, 1968 in Berlin (West) geboren, veröffentlichte schon während ihres Germanistik-Studiums die ersten beiden Lyrikbände. Sie lebt als freischaffende Autorin und Journalistin in Berlin und veröffentlichte seit 1999 mehrere Essaybände, Kinderbücher, Erzählungen und vier Romane, zuletzt 2016 "Mein altes West-Berlin" - ein feuilletonistischer Rückblick auf die Vorwendejahre. Auch Lyrik schreibt sie weiterhin. Sie zählte zu den 100 Initiatorinnen des Aktionbündnisses für die Einwanderungsgesellschaft, "Wir machen das". Daraus entstand das Projekt "Weiter Schreiben" unter der künstlerischen Leitung von Annika Reich und Ines Kappert, bei dem Dückers als Teampartnerin des jemenitischen Dichters Galal Alahmadi mitarbeitet.
SPIEGEL ONLINE: Seit diesem Montag gibt es die Website "Weiter Schreiben" als "literarisches Portal für Autor*innen aus Kriegs- und Krisengebieten". Das Besondere dabei: Den geflüchteten Schriftstellern wird jeweils eine Art Pate zur Seite gestellt - und eine davon sind Sie. Wie muss man sich das vorstellen?
Dückers: Es werden 1:1-Teams gebildet, bei denen es um den literarischen Austausch und das Schmieden neuer Netzwerke geht. Die Texte werden in Original und Übersetzung gezeigt, dazu gibt es einen kleinen Werkstattbericht, in dem man etwas erzählt über den Autor und was die Begegnung ausgelöst hat. Man kann das also durchaus als Kulturvermittlung verstehen. Der Hauptaspekt ist aber, den Kollegen hier im Kulturbetrieb zu verankern. Die professionelle Übersetzung der Texte ist natürlich schon mal ein Beginn. Wir deutschsprachige Autorinnen und Autoren haben auch schon Kontakt aufgenommen zu guten Verlagen, Literaturzeitschriften, Veranstaltungsorten.
SPIEGEL ONLINE: Sie nutzen also Ihre eigenen Kontakte im Literaturbetrieb?
Dückers: Ja. Mein Kollege Galal Alahmadi ist nun Lyriker, das ist hierzulande sowieso schwieriger, auch für nicht-geflohene Autoren. Aber es gibt Möglichkeiten, ich habe viele Kontakte, da ich Prosa, Essay und Lyrik schreibe, also auch fünf Lyrikbände veröffentlicht habe. Mir entspricht das sehr, dieses Projekt. Ich finde das eine wirklich gute Idee.
SPIEGEL ONLINE: Was gefällt Ihnen so gut daran?
Dückers: Die Kollegen sind ja hier ihrer sprachlichen Heimat beraubt, ihres sprachlichen Umfelds und haben nun mal einen Beruf, der sich nicht so einfach transferieren lässt. Das ist ja auch eine Form von massivem Identitätsverlust. Dieser Begriff "Weiter Schreiben", der ist von Annika Reich und Ines Kappert - bzw. von den Geflohenen selber. Denn die Schriftsteller wurden gefragt: Was ist euch denn besonders wichtig, wenn ihr hier seid? Und viele sagten: Weiter schreiben. Aber das Projekt ist kühn, es ist mutig, es ist nicht klar, ob es funktioniert. Denn man muss auch sagen: Der Literaturbereich ist nicht gerade der offenste - weniger ideologisch als viel mehr ökonomisch.
SPIEGEL ONLINE: Sie haben also eine Art Lotsenfunktion für den Betrieb?
Dückers: Zum Teil. Es lässt sich nicht leugnen, man hat einen Standortvorteil dadurch, dass man den Betrieb kennt. Aber ich sehe uns da gar nicht so überlegen, sondern wirklich einen gleichberechtigten Austausch zwischen Autoren auf Augenhöhe. Das stört mich auch immer am Begriff "Integrieren": Wer muss den wen integrieren? So eine Gesellschaft verändert sich ja als Ganzes. Das ist kein homogenes Gebäude, in das ein paar Neue kommen, die werden integriert und dann ist die Homogenität wieder hergestellt. Ich empfinde den Austausch mit Galal als sehr bereichernd.
SPIEGEL ONLINE: Wie kam denn die Begegnung mit Galal Alahmadi zustande, Ihrem Partner bei "Weiter Schreiben"?
Dückers: Bei einer Veranstaltung im Haus für Poesie hier in Berlin. Wir nahmen an einem Projekt namens "Versschmuggel" teil. Da war ich dann begeistert von Galal. Ich finde, dass er ein ganz großes Talent ist - auch für den Literaturbetrieb hier. Ich kenne keinen anderen, der so schreibt - und ich lese viel Lyrik. In seinen Heimatländern - man muss da im Plural sprechen - ist er schon hochdotiert und prämiert.
SPIEGEL ONLINE: Sie haben in einem Zeitungsartikel die Anthologie "Weg sein, hier sein" besprochen, in der Alahmadi auch vertreten ist. Darin betonten Sie, dass er sich thematisch nicht auf seine Fluchterfahrung beschränkt, auch universellere Themen aufgreift. Sein Text für "Weiter Schreiben" handelt aber "Vom Krieg". Beschreibt er den Krieg Ihrer Meinung nach hier als universelle Erfahrung?
Dückers: Dazu habe ich ihn befragt. Da hat er mir noch einmal bestätigt, dass Krieg - so konkret benannt wie in diesem einen Gedicht - bei ihm sehr selten vorkommt. Er habe den Krieg auch nicht näher erkennbar geografisch lokalisieren wollen, damit sich möglichst viele Menschen damit identifizieren können. Das war ihm sehr wichtig. Er sagte auch, er vermeide einen zu direkten Stil, denn Literatur habe für ihn mit dem Spiel mit Geheimnissen zu tun und sei kein Zeitungsartikel. Ein zu direkter Text sei nicht langlebig; nur das Rätselhafte, das, was weiter weist, könne überdauern.
SPIEGEL ONLINE: Sie lobten ja auch die Bilder, die er verwendet. Hier ist die Rede von einer Kugel, die "dringt / in den Monitor / wie Pornos / ins Zimmer von Jugendlichen / wie Tristesse / ins Gemüt / wie ein Baum / in den Ofen"...
Dückers: Unglaublich, ja. Da muss man erst drauf kommen. Gerade das mit den Pornos fand ich sehr stark, weil da die moderne Lebenswelt beschrieben wird, die technisierte Welt von jungen Menschen, die vielleicht von einem Tag auf den anderen getötet werden. Die Gegenüberstellung der gemütlichen, etwas schwiemeligen Atmosphäre am PC mit einer Büchse Cola - und dann: Zack! Er verdichtet unglaublich gut mit ungewöhnlichen Bildern. Und was ich toll finde bei ihm: Er hat keine Scheu, das Wort "ich" zu verwenden und Gefühlszustände zu beschreiben.
SPIEGEL ONLINE: Und über solche Dinge diskutieren Sie mit ihm?
Dückers: Ja, unbedingt.
SPIEGEL ONLINE: Wie hat er denn Deutschland insgesamt wahrgenommen?
Dückers: Er meinte, es sei für ihn gar nicht so überraschend gewesen, weil er sehr viele Filme geguckt habe über europäisches Leben. Das fand ich auch spannend - er sieht gar nicht so sehr Deutschland, sondern Europa. Aber er meinte, die Deutschen seien wesentlich freundlicher, als er sie sich vorgestellt hätte: "They smile!"
SPIEGEL ONLINE: Sie sprachen vorhin von den mehreren Heimatländern des Galal Alahmadi. Also das Geburtsland Saudi-Arabien, aufgewachsen im Jemen - oder gibt es da noch mehr?
Dückers: Er war noch im Irak, Syrien, Jordanien und im Libanon. Aber im Jemen war er besonders lange, vom Pass her ist er Jemenite und bezeichnet sich auch als jemenitischer Schriftsteller. Das Land ist in einer besonders schwierigen Situation, und dort ist auch der Stand für Schriftsteller sehr schwierig, hat er mir erzählt. Die Literaturszene dort ist nicht sehr freiheitlich, sie muss sich nach politischen Vorgaben richten. Das ist auf die Dauer für Schriftsteller erstickend. Im Irak und Syrien war die Literaturszene größer und freier als im Jemen, aber da hat ihn sehr gestört, dass man immer versucht hat, ihn einzugemeinden. Das war für mich sehr überraschend. Ich hatte so panarabische Vorstellungen von der Literatur, es sei eher unwichtig, wo man herkommt. Aber das ist absolut nicht so: Sobald man erfahren hat, dass er ein jemenitischer Autor ist, sank das Interesse offenbar rapide.
SPIEGEL ONLINE: In einem Gastkommentar für die "Neue Zürcher Zeitung" schrieben Sie einmal über junge muslimische Männer, sie bekämen "zu Hause alles geregelt, vom Haushalt bis zur Wahl der zukünftigen Ehefrau. Ihnen ist nicht nur der Boden in Form von Heimat unter den Füßen weggezogen worden, sondern ein gesamtes Weltbild, ein Lebensstil, ein Umsorgtwerden und ein Gefühl von Stärke". Haben Sie im Umgang speziell mit Schriftstellern aus dem muslimischen Raum diese Erfahrungen wiedergefunden?
Dückers: Nein, diesem Phänomen bin ich in anderen Formen der Flüchtlingsarbeit begegnet, bei der Essensausgabe und ähnlichen Treffen. Aber bei den Schriftstellern: gar nicht. Das ist wohl wie in Deutschland auch: Die sind nicht repräsentativ. Bei Galal schon gleich gar nicht. Dessen Frau hat kurze schwarze Haare, ist null verschleiert und passt auch nicht in das Bild rein. Aber die Frage ist insofern schwer zu beantworten, als ich auch niemanden so gut kenne, wie ich hier aufgewachsene Männer kenne. Das ist ja auch in einer Beziehung so, dass man manchmal erst nach Jahren merkt, dass jemand ein bestimmtes Mutterbild oder so etwas hat. Aber die Vorurteile, die man von muslimischen Männern hat, haben sich für mich im direkten Kontakt mit Autoren überhaupt nicht bestätigt.