
Medienkritik: Literaten und die Lügenpresse
Medienkritik in der Literatur Reporterpack
Die wunderbarsten Bücher kommen unterkomplex daher und bergen überkomplexe Wahrheiten. Anne Tyler, Elena Ferrante oder Alice Munro schreiben so: Kleine Geschichten erhellen das Leben ihrer Leser, wellenweiche Sätze - wie zufällig steht jedes Wort dort, wo es stehen müsste - tragen uns fort, und wir bemerken kaum, wie viel wir da eigentlich lernen, denn wir müssen uns nicht quälen, da die Erkenntnis zugleich Spiel und Genuss ist.
Große Reporter berichten auf diese Weise, David Mitchell und Jonathan Franzen können so erzählen, so schwingend und klingend, dass man ihre Wahrheiten eher fühlt als denkt, und genau so setzen diese sich fest und wirken. Tolstoi konnte das, Navid Kermani und Katja Petrowskaja können es. Jhumpa Lahiri hat solch ein Buch verfasst, "Das Tiefland" , das eigentlich nur zwei Brüder und zwei Lebenswege beschreibt, tatsächlich aber Indien und die USA und die ganze komplizierte Welt.
Es gibt auch das Gegenteil, überkomplexe Werke mit unterkomplexen Gedanken. Diese Texte pumpen sich auf und machen sich wichtig, denn sie sind halt stolz auf die eigene These, und Stolz ist schwer zu unterdrücken. So schrieb der Günter Grass der späten Jahrzehnte, so war Donna Tartts "Der Distelfink" , und dies ist die Art, wie in diesen Monaten oft und zu oft über den Zustand und die vermeintlichen Krisen der Medien geschrieben wird, nicht nur in Büchern.
Schon Kolumnen und Blogs behaupten ja gewichtig, dass die Medienwelt gestrig und langsam sei, mutlos und verlogen. Der Leser liest das so weg, denkt "aha" und "ach so", und vermutlich denkt er irgendwann "wird schon stimmen".

LITERATUR SPIEGEL - Oktober 2015
Mehr zum Thema Literatur im neuen LITERATUR SPIEGEL.
Den digitalen SPIEGEL mit dem LITERATUR SPIEGEL sowie den LITERATUR SPIEGEL als Einzelausgabe finden Sie in den Apps für iPhone/iPad , Android , Windows 8 , Windows Phone und als Web-App im Browser.
Was im neuen SPIEGEL steht, erfahren Sie im kostenlosen SPIEGEL-Newsletter.
Und dann findet der Leser ganzseitige Zeitungstexte und liest dort Ähnliches. In der "Zeit" stand ein fulminanter Text, der diverse Medien prügelte und eine seltsam verträumte Erwartungsfröhlichkeit pries, ohne sie "Constructive Journalism" zu nennen. Medien sollten lieb und netter sein, das stand da (allerdings komplexer formuliert); wieso immer diese Kritik und diese Enthüllungen, wenn man doch unter einer Decke aus Puderzucker so wunderwarm schmusen kann? Wir zitieren sinngemäß und nicht wörtlich, aber da stand, dass andere Medien, gemeint waren Konkurrenten, die Krisen der Gegenwart stets zu Apokalypsen hochschrieben und immer erst die eine Krise zu Tode ritten, ehe sie die nächste bestiegen, und nirgendwo sähen diese anderen Medien je einen Ausweg.
Aha und ach so. Doch die ganze wuchtige Diagnose traf nicht zu.
Werden nur Versager Journalisten?
In Wahrheit verarbeiten Journalisten und Leser seit Jahren diverse und komplizierte Krisen zur selben Zeit, weil diese Krisen in der Wirklichkeit parallel und bisweilen in Bezug zueinander existieren; und mehr kluge Medien als jemals zuvor, gedruckte und längst digitale, arbeiten zugleich investigativ und analytisch und schaffen es doch auch zu erkennen, wenn und von wem ein Problem gelöst wird. Die Journalisten loben dann diese Lösung und die Lösenden, stellen seit Langem schon Lob neben Kritik, weil Erfolge und Fehler zwei Hälften der Wirklichkeit sind und diese Wirklichkeit zu beschreiben ist. Das ist der Beruf des Journalisten.
Und nun folgen die Romane, nun kommt erstens Eco.

Umberto Eco
Foto: JOHN MACDOUGALL/ AFPUmberto Eco hat ein Buch verfasst, das sich mit den Medien in einer vergangenen Ära der Zeitungen befasst. Die sind in Ecos Medienwelt zynisch, Wahrheit bedeutet ihnen nichts. Nur Versager werden Journalisten, eben weil sie nichts anderes mehr werden können. Mag schon sein, dass diese Verlierer noch vor Kurzem einen idealistischen Restgedanken im Kopf hatten, aber den hat das System getötet.
Der Roman heißt Nullnummer und erzählt aus einer kleinen Redaktion, die im Auftrag eines Mafioso, der auch Berlusconi heißen könnte, eine Zeitung entwickeln soll, die - das wissen nur der Chefredakteur Simei, der Icherzähler und die Leser, nicht aber die Redakteure - niemals erscheinen wird. Diese Zeitung namens "Domani" soll Politikern und Geschäftsfeinden des Verlegerpaten Angst machen, also bloß ein gezeigtes Folterwerkzeug sein, um dann, kurz vor dem Erstverkaufstag, eingestellt zu werden.
Es kommt anders. Einer der Reporter glaubt zu enthüllen, dass Mussolini 1945 gar nicht hingerichtet wurde. Er begibt sich auf die Spur der maximal möglichen Verschwörung, in welcher die Regierung und der Vatikan mitmischen, und man weiß nicht so genau, ob diese Verschwörung eine Erfindung ist. Dann gibt's Liebe und eine Art Sex:
Das Häuschen überraschte mich. So reizend, wenn auch spartanisch, hatte ich es mir nicht vorgestellt. Es war noch früh im Mai, und draußen war es noch frisch. Maia ging gleich daran, den Kamin anzuzünden, und kaum dass die Flammen hochzüngelten, stand sie auf und sah mich strahlend an, das Gesicht noch gerötet vom Feuer. "Ich bin ... glücklich", sagte sie, und damit hatte sie mich gewonnen.
"Auch ich bin ... glücklich", sagte ich. Dann fasste ich sie an den Schultern und gab ihr unwillkürlich einen Kuss, und sie drückte sich an mich, mager wie ein Spatz. Aber Braggadocio hatte unrecht gehabt: Sie hatte Brüste, und ich spürte sie, klein, aber fest. Wie es im Lied der Lieder heißt: zwei Kitzlein, Zwillinge einer Gazelle, die unter Lilien weiden.
"Ich bin glücklich", wiederholte sie. Ich versuchte eine letzte Abwehr: "Aber du weißt, dass ich dein Vater sein könnte?"
"Was für ein schöner Inzest!", rief sie aus.
… Ich war vollkommen hin und weg.
Dann geschieht ein Mord. Und trotzdem bleibt der Journalismus so korrupt, wie er vor dem Mord war.
Ist die Pressefreiheit ein Witz?
Was will uns Umberto Eco mit seiner Geschichte sagen, die er im Jahr 1992 angesiedelt hat, dem Jahr der Ermordung des Richters Giovanni Falcone? Er sagt, dass mindestens Italien ein Land der Lügen, der Banalität, des Vulgären und der Feigheit sei. Er sagt, dass Journalismus ein Schweinegeschäft sei. Dass nichts stimme, was in der gedruckten Zeitung stehe, sagt Eco, von Websites ist noch nicht die Rede. Dass Pressefreiheit ein Witz sei, sagt er. Gibt's nicht, hat's nie gegeben.
Scherzt Eco? Alles Satire? Nun, lustig oder auch nur ironisch ist das Buch nicht. Denken wir darum kurz über den tatsächlichen Zustand der Medien nach, denken wir an die real existierende Pressefreiheit.
Schon George Orwell sagte: Wenn Freiheit, die ganz allgemeine Freiheit, überhaupt etwas bedeute, dann das Recht, anderen Leuten das zu sagen, was sie nicht hören wollen. Die Idee der Pressefreiheit setzte sich mit der Aufklärung gegen Kirche oder Regierungen durch. Pressefreiheit war lange ein Privileg, nämlich an Geld und Status gekoppelt: Man brauchte Kapital oder mindestens reiche Verleger, wenn man gelesen werden wollte. Und gelesen werden musste, wer Wirkung erzielen wollte: Erst das Schriftliche und massenhaft Verbreitete wirkte dauerhaft.
Heute, durch die digitale Revolution, lässt sich Journalismus ohne finanzielle Mittel betreiben. Ein Blogger braucht kaum mehr als seinen Laptop oder sein Smartphone. Und all das, was einst die Aura der Medien garantierte - staatliche Genehmigungen, die Exklusivität des Gedruckten, Geld und Tradition -, ist für die Erzeugung von Nachrichten nicht länger notwendig. Die Verbreitung der Wahrheit ist nicht mehr daran gebunden, die Verbreitung der Unwahrheit aber auch nicht. Deshalb hat die Verantwortung der Medien nicht ab-, sondern zugenommen. Es bleibt ja wichtig, die weltweit und rasend rasant entstehenden Gerüchte einzuordnen und zu beantworten: mit einer Autorität, die durch Recherche, Dokumentation, Urteilskraft entsteht.

Jonathan Franzen
Foto: Arno Burgi/ picture alliance / dpaAll dies ist auch Thema des zweiten Romans dieser Saison, der sich mit den Medien und dem Journalismus befasst: "Unschuld" von Franzen. Dort geht es um das Internet als jene totalitäre Macht der Gegenwart, welche dem Sozialismus, der totalitären Macht der Vergangenheit, ähnelt. In Unschuld gerät die Wahrheiten suchende und stets die Wahrheit sagende Kalifornierin Pip Tyler an den 1960 in der DDR geborenen und sexsüchtigen Andreas Wolf, der aus dem Dschungel Boliviens heraus eine Enthüllungsplattform namens "Sunlight Project" betreibt und wie Julian Assange von mächtigen Staaten gejagt wird.
Besonders gut kommen auch bei Franzen die Journalisten nicht weg. "Journalismus war epigonales Leben, epigonaler Sachverstand, epigonale Welthaltigkeit, epigonale Intimität; ein Thema beherrschen, nur um es gleich wieder zu vergessen, sich mit Leuten anfreunden, nur um sie gleich wieder fallenzulassen", schreibt Franzen.
Aber er schimpft nicht nur, er will mehr als Eco und erreicht auch mehr: "Unschuld" ist ein stets hehres und manchmal pathetisches Werk, das aber Kraft hat, weil es um die ganz großen Themen dieser Zeit kreist. Franzen fragt, wann Staaten, die ihre Bürger und andere Staaten überwachen, jene Freiheit und Reinheit (der Originaltitel ist "Purity") verlieren, die sie vorgeblich schützen wollen. Er fragt, wie rein und gut moderne Helden sein können oder müssen, jene Whistleblower und Rechercheure, die viel riskieren und erstreben, durchaus auch eigenen Ruhm.

Neuer Franzen-Roman "Unschuld": Stasi hier, Whistleblower da
Die Pressefreiheit und die Freiheit des Wortes gewinnen in der wirklichen Welt ja deshalb an Kraft und Bedeutung, weil Informanten wie Edward Snowden und Erzählerinnen wie Laura Poitras in ihrem Sinne streiten. Anstrengend am Krisengerede in Blogs, Zeitungen und Umberto Ecos "Nullnummer" ist deshalb die Verzerrung.
Wahr ist dies: Dass es einen technologischen Wandel gibt, bedeutet den Zwang, schnelle, richtige verlegerische Entscheidungen zu treffen; dass es eine Umschichtung von Werbegeldern ins Digitale gibt, bedeutet Einnahmeverluste für Printmedien. Beides bedeutet aber keine qualitative Krise der Medien an und für sich, sondern nur andere oder veränderte Medien. Stiftungen entstehen und fördern den ernsthaften Journalismus, Netzwerke formen sich und enthüllen, was ein Reporter allein nicht mehr zu packen bekäme. Der ernsthafte Journalismus entwickelt und wandelt sich, glücklicherweise.
Er muss sich jedoch erklären und verteidigen, weil die Pressefreiheit und die Freiheit des Wortes und mit ihnen der ganze Journalismus durch Kampagnen, Desinformation, Gerüchte, Übertreibungen und Lügen entwertet werden. Der Kampf seriöser Medien gegen die Gerüchtefabrikation mag bei manchem Leser oder Zuschauer eine Nachrichtenmelancholie erzeugen: Verwirrung, Erschöpfung, am Ende Zynismus. Das Grundvertrauen in Sprache und Bilder kann ja inmitten des Lärms tatsächlich erschüttert werden, und wenn so etwas einem 83-jährigen Professor und Schriftsteller widerfährt, dann schreibt er einen Roman wie "Nullnummer".
Es war leider nicht möglich, die profane Wahrheit bis zum Ende dieses Textes zu verbergen: Umberto Ecos "Nullnummer" ist ein schwaches Buch. Überraschend könnte vielleicht noch der Grund sein: Das Buch ist nicht deshalb schwach, weil Eco eine plumpe und populistische These vertritt, geschenkt, das könnte so anregend sein wie Debatten mit manchem Medien-Blogger oder dem Kollegen von der "Zeit". Nein, "Nullnummer" hat keine Handlung und keine Szenen, keinen Witz und keine Leidenschaft, keine Figuren, die man mag, und keine, die man nicht mag, es gibt nicht einmal Orte, die man kennen lernen will, und selbst die Liebe, der Sex und der Mord sind ganz egal, weil Seite für Seite bloß Schablonen und Monologe und Sätze wie diese zusammengekloppt wurden:
Aber warum sollen wir uns mit den Schwulen beschäftigen, wenn sie unsere Leser schaudern lassen?"
"Meine Liebe, ich denke nicht an die Schwuchteln im Allgemeinen, ich bin für die Freiheit, jeder soll tun, was er will. Aber es gibt welche in der Politik, im Parlament und sogar in der Regierung. Die Leute meinen, Schwuchteln seien nur Schriftsteller oder Tänzer, und dabei erteilen einige von ihnen uns längst auch Befehle, ohne dass wir es merken. Sie sind eine Mafia, und sie helfen sich gegenseitig. Und dafür müssen wir unsere Leser sensibilisieren."
Originell wäre es gewesen, wenn Umberto Eco, der große und manchmal allzu fleißige Schöpfer von "Der Name der Rose" (1980), mal keinen Roman, keinen Essay und nicht einmal einen Blog-Eintrag über die Krise der Medien verfasst hätte.
Origineller wäre es gewesen, wenn er sich in Dresden oder Mailand auf die Straße gestellt und ein Schild in die Höhe gehalten hätte: "Lügenpresse".