Wolf Biermann "Das Schlimmste war die Entmündigung"

"Wie viele wunderbare Leute es in der DDR gab", hat Wolf Biermann erst aus seinen Stasi-Akten erfahren: Ein Spitzel - eine schöne Schauspielerin, die ihn ins Bett locken sollte - erwies sich für die Staatssicherheit als Niete. Sie hatte sich in ihn verliebt, erzählt der Dichter und Liedermacher im Interview mit SPIEGEL ONLINE.

SPIEGEL ONLINE: Sie glauben nicht an Gott, aber der liebe Gott spielt in ihren neuen Gedichten eine große Rolle. Für ihre fünfjährige Tochter haben Sie sogar einen Kinderkatechismus geschrieben. Wie kam es dazu?

Biermann: Ich bin von meiner Mutter, die Kommunistin war, mit einem Hochmut gegenüber Leuten erzogen worden, die an Gott glauben. Egal welche Abteilung, evangelisch, katholisch, jüdisch. Aber dadurch, dass ich in die DDR geriet, hatte ich den Vorteil, in einem Land zu leben, in dem die Christen verfolgt wurden. Das führt automatisch dazu, dass rein statistisch Leute, die auf ihrem Christentum beharren, anständige Leute sind und keine Schweine. Aber auch dieser Satz ist wieder um ein Drittel falsch, weil die evangelische Kirche voll war mit Spitzeln der Staatssicherheit, vor allem in der Hierarchie.

SPIEGEL ONLINE: Die DDR ist trotzdem zusammengebrochen.

Biermann: Ja, weil die kleinen Leute nicht mehr mitgemacht haben. Ich hatte es oft mit normalen Christen zu tun, die Schwierigkeiten in ihrem Beruf hatten, nicht studieren durften. Das ist für Eltern eine schwere Belastung: Ihr Kind hat die besten Noten im Abitur und darf nicht studieren. Oder darf nicht mal Abitur machen. So, was wird aus dem Kind? Ein Klempner. Gut, ein Klempner ist auch etwas sehr Wichtiges, Josef war Zimmermann in der Bibel. Aber das war für solche Menschen eine schlimme Belastung, und da lernte ich, dass mein Hochmut gegenüber religiösen Menschen Dummheit ist. Wichtig ist, ob sie sich in der Gesellschaft tapfer und anständig verhalten oder nicht. Und wenn der Glaube, an was auch immer, sie dazu ermutigt, ihnen die Kraft gibt, dann wäre es doch geradezu zynisch, mit ihnen über die letzen Dinge des Glaubens zu streiten. Deswegen ist in dem neuen Buch auch ein Gedicht, natürlich mit Augenzwinkern, "Glauben muss man", denn wenn ich ehrlich bin, ich gebe es doch zu, bin ich auch ein gläubiger Mensch. Nur mein Glaube ist ein bisschen banaler, ich glaube an die Menschen. Danach dürfen Sie mich nicht tiefer fragen, denn dann würden Sie nach zwei Sätzen rauskriegen, dass dieser Glaube absurder ist als der Glaube an Gott.

SPIEGEL ONLINE: Wir fragen trotzdem nach: Wie können Sie nach zehntausend Seiten Spitzelberichten in Stasi-Akten noch an das Gute im Menschen glauben?

Biermann: Tja, man darf sich die Stasi-Akten-Lektüre eben nicht so vorstellen, als wenn Heinrich Heine in den Nachtopf der Göttin Harmonia guckt, am Ende des Wintermärchens - die berühmte Szene. Wo er nur beschreibt, was er alles gerochen hat und uns verheimlicht, was er alles gesehen hat, als er in die Zukunft schauen wollte. Als ich meine Akten gelesen habe, habe ich nicht in einen Nachttopf geguckt oder gerochen, sondern ich war erstaunt, wie viele tapfere, kluge, wunderbare Leute es in der DDR gab, vielmehr als ich dachte. Weil nämlich in so einem totalitären System - logischerweise - die tapferen, klugen Leute ihre Taten verheimlichen müssen und sich nicht damit öffentlich spreizen können wie in der Demokratie.

SPIEGEL ONLINE: Wie meinen Sie das?

Biermann: Die Stasi hatte zum Beispiel eine junge, schöne Schauspielerin auf mich angesetzt. Die sollte zu mir ins Bett und mich aushorchen. Viermal habe ich sie weggeschickt. Aber beim fünften Mal - na ja. Und kurz bevor ich meine Akten nach der Wende gelesen habe, schrieb mir diese Frau. "Lieber Wolf, da wirst Du auch meinen Namen finden." Und was habe ich gefunden: Sie war für die Stasi komplett unbrauchbar. Denn Sie hat ihrem Führungsoffizier gesagt: Ich habe mich in diesen Biermann verliebt. Damit war sie als IM erledigt. Die Stasi hatte pro Kopf 20 Mal mehr Spitzel als die Nazis. War die DDR also 20 Mal so schlimm wie der Nationalsozialismus? Natürlich nicht. Dieser gewaltige Spitzelapparat mit diesen unglaublich vielen hoch bezahlten Lumpen, ob offizielle Offiziere, ob inoffizielle Mitarbeiter, sind ein schlagender Beweis dafür, dass es viele Menschen gab, die man in der DDR bespitzeln und unterdrücken musste. Und das spricht ja für die Menschen in der DDR. Wenn man das in seinen Akten liest, wird man eben nicht erschüttert in seinem Glauben an die Menschen. So eine Lektüre ist auf eine makabere, schmerzhafte Weise aufbauend.

SPIEGEL ONLINE: Finden Sie den Zustand vom Aufbau Ost eigentlich auch aufbauend? Oder wird zu viel gejammert?

Biermann: Ja und Nein. Wenn man bedenkt, dass die eigenen Leiden immer die größten sind. Wenn ich mir den Finger beim Äpfel pflücken abreiße... (Biermann hebt die rechte Hand hoch an dem die Kuppe des kleinen Fingers fehlt)

SPIEGEL ONLINE: Wann ist das denn passiert?

Biermann: Vor einem Jahr ungefähr. Das erlebt man im Schock erstmal schlimmer, als wenn in Srebrenica 8000 Muslime hingemetzelt oder Raketen vom Libanon nach Israel auf Überlebende des Holocaust geschossen werden. Oder, oder, oder. In der subjektiven Seelenökonomie sind die eigenen Leiden immer die größten.

SPIEGEL ONLINE: Wie geht es ohne kleinen Finger beim Gitarrespielen?

Biermann: Naja, nun gut, das ist gar nüscht. Ist doch zum Lachen. Aber wenn es der linke, kleine Finger gewesen wäre, wär ich zusammengebrochen, dann kann ich nämlich nicht mehr Gitarre spielen, keine Konzerte mehr geben, während der rechte kleine Finger nie mitspielen durfte und im Laufe der Jahre einfach beleidigt war. Stellen Sie sich das mal seelisch vor, für so einen kleinen Finger an der rechten Hand, der steht ja auch mit auf der Bühne, im Rampenlicht. Der Biermann singt zur Gitarre, die Leute klatschen, zahlen Eintritt dafür, von der Gage wird das Brot gekauft, für die Kinder und wer hat daran keinen Anteil? Der kleine rechte Finger, der müsste eigentlich zum Psychiater, auf die Couch. Geht aber nicht, weil er zu fest an mir dran hängt, und dann verliert er irgendwann mal die Nerven und sagt "Ich geh schon mal vor."

SPIEGEL ONLINE: Hat er sich mal wieder gemeldet?

Biermann: Er meldet sich jeden Tag, weil es weh tut, wenn ich eine Faust mache. Es heilt nicht so gut, wie mir der Chirurg gesagt hatte. Apropos Chirurg: In Wandsbek, als es passierte, hing das Stück, was jetzt fehlt, an einem Hautfetzen noch dran, aber es war nicht abgeschnitten, sondern abgefetzt, deswegen konnte er das auch nicht wieder annähen. Während er operierte, sagte er immer - weil ich das nicht sehen sollte, hatten sie ein grünes Tuch dazwischen gespannt - was er machte, denn das wollte ich wissen. Er sagte "Jetzt, Herr Biermann, nehme ich die Knochenknabberzange."

SPIEGEL ONLINE: Das klingt doch sehr professionell.

Biermann: Dann sagte er "So, Herr Biermann, jetzt schneide ich endgültig durch, dann ist er ganz ab." Und da fiel mir nichts Originelleres ein, als zu fragen "Wo kommt denn der Finger jetzt hin?" Da sagte die hübsche, kleine Schwester Stefanie - Sie sehen, angesichts der Tatsache, dass ich noch die Nerven hatte, darauf zu achten, dass sie hübsch, klein und dunkelhaarig war und Stefanie hieß, ging es mir noch relativ gut. Stefanie sagte dann den Hammersatz, im Hamburgischen, gemütlichen, kaltherzlichen Tonfall: "Der kommt innen Sondermüll." So leiden natürlich die Ossis in der DDR an dem verlorenen Finger mehr als daran, dass in anderen Teilen der Welt Millionen von Menschen der Kopf abgeschlagen wird.

SPIEGEL ONLINE: Oder ein paar Kilometer weiter in Polen, wo es den Menschen erheblich schlechter geht, aber trotzdem weniger gejammert wird.

Biermann: Wenn man begreift, dass man nicht nur zu seiner Sippe, sondern nebenbei noch zur Menschheit gehört, dann sieht man vieles anders. Ich weiß nicht, wie viele tausend Milliarden Mark in diesen Osten reingepumpt wurden.

SPIEGEL ONLINE: Bisher etwa 1500 Milliarden Euro.

Biermann: Der Marschall-Plan nach dem Zweiten Weltkrieg kostete nur einen winzigen Bruchteil dieser Summen und war der Anschub für den Wirtschaftsaufschwung in Deutschland, in England, in Italien, in Frankreich. Insofern beneiden natürlich die anderen Länder des zerbrochenen Ostblocks, die Polen, Rumänen, Bulgaren, Tschechen, die Ostdeutschen um ihren reichen Bruder, der ihnen das bieten kann. Gleichzeitig geht es aber den Polen besser als den Ostdeutschen, weil sie nicht von einer Unmündigkeit in die nächste gekippt sind. Der schwerste Schaden, den das totalitäre Regime im Osten bei den Menschen angerichtet hat, ist nicht die Armut, weil das ja relativ ist. Andere Völker auf derselben Welt wären gern so arm wie die Polen. Dann wären sie reiche Leute. Der schlimmste Schaden ist, dass die Menschen entmündigt wurden und nicht zuständig sind für sich selbst. Diesen Schaden können die Völker besser beheben, wenn sie nicht jemanden haben, der zweitausend Milliarden Mark oder Euro oder Dollar liefert. Das perpetuiert das Hauptleiden.

SPIEGEL ONLINE: In der deutschen Politik hätten sie mit solchen Wahrheiten keine Chance...

Biermann: Nein, zum Glück. Deswegen kann ich so was ja auch sagen, muss es sagen, weil ich nicht in der schrecklichen Lage bin, gewählt werden zu wollen. Das muss ja einen Nutzen haben. Die Wahrheit: Wenn ich Politiker wäre und in den Bundestag wollte, würde ich so was nicht sagen, sonst wäre ich ein Simpel. Da ich aber nicht dahin muss, wäre ich ein Schuft, wenn ich nicht so sprechen würde, wie ich es tue. Ich will mich doch - wie jeder Mensch - in irgendeiner Weise nützlich machen für andere Leute, das ist doch eines unserer größten Vergnügen.

SPIEGEL ONLINE: Sie sind als Hamburger nach Ost-Berlin gegangen, dann als DDR-Bürger in den Westen. In letzter Zeit sind sie oft in Israel, das Sie immer mehr als ihr Vaterland betrachten und als "fremdvertraut" beschreiben. Warum?

Biermann: Weil dort so viele Menschen leben, mit denen ich mich eingelassen habe, die mit meiner kleinen Familiengeschichte, in die ich hineingeboren wurde, mehr zu tun haben als die meisten Deutschen. Die meisten Deutschen waren Nazis, und ich komme durch den Zufall der Geburt gleich aus zwei Minderheiten: Kommunisten und Juden. Das ist weder ein Verdienst von mir noch eine Schuld, so wie es ja auch keine Schuld oder Verdienst ist, wenn jemand von einem SS-Obersturmführer gezeugt und in dessen Familie aufgewachsen ist. Das kann sich doch keiner aussuchen - hat aber Konsequenzen. In Israel leben aber viele Juden, die damals aus Deutschland geflüchtet sind, nicht weil sie unbedingt in das Land der Kamele und Araber wollten, sondern weil sie am Leben bleiben wollten. Sie waren entsetzt, als sie die Palmen sahen und die Hitze spürten, und von den Juden, die dort schon immer lebten, wurden sie sehr ungnädig empfangen. Denen sagte man: "Kommst du aus Deutschland oder kommst Du aus Zionismus?" Dieser kleine Satz ist doch erhellend für das Problem. Aber wie das dann so ist, die Jahre ziehen ins Land, man bleibt dann doch im Land der Araber und Kamele, heiratet, kriegt Kinder, die wachsen mit Hebräisch auf, können schon gar kein Deutsch mehr, und so wimmelt es in Israel von Menschen, die ein Leben leben, dass mein Vater gelebt hätte, wenn er rechtzeitig ausgewandert wäre, statt gegen Herrn Hitler Sabotage hier im Hamburger Hafen zu machen.

SPIEGEL ONLINE: Sie singen dort auf Deutsch - versteht man Ihre Texte?

Biermann: Ach, klar. Ich singe, spiele - mit einem Finger weniger - Klavier und Gitarre, und die Leute hören zu. Was Sie verstehen? Was versteht man denn von Bob Dylan (singt): "Hey! Mr. Tambourine Man, play a song for me/ In the jingle jangle morning I'll come followin' you."

SPIEGEL ONLINE: Von Israel aus haben Sie dem SPIEGEL und dem "Stern" vorgeworfen, die antiisraelischen Tendenzen mit der Berichterstattung zu verstärken. Übertreiben Sie da nicht?

Biermann: Sie atmen die allgemeine Luft in Deutschland wie wir alle. Das ist kein individuelles Versagen, geschweige denn böse Absicht, Gemeinheit. Der Goethe hat das Problem durchschaut. Er sagte, den Dummheiten seiner Epoche entgeht kein Mensch ganz. Das ist ein weises Wort und trotzdem richtig, will sagen: Es hat nicht diese Allerweltsweisheit, die im Grunde nichts sagt. Sie belehrt uns darüber, dass wir alle nur im verschiedenen Grade den Dummheiten unsere Epoche entgehen, und wenn ich jetzt dagegen Front mache, weiß ich ganz genau, dass ich nicht den goldenen Mittelweg gehen kann. Ich muss in die andere Richtung übertreiben, und ich muss aus hygienischen Gründen wissen, dass das so ist, sonst spiele ich nämlich den lieben Gott, der ich nicht bin. Wir liegen alle schief, solange wir lebendig sind. Die Toten wissen alles besser, aber mit denen kommt man ja nie ins Gespräch.

Das Interview führten Andreas Borcholte und Claus Christian Malzahn.

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