Wolf Haas und die Siebzigerjahre Auftanken, abfahren, erwachsen werden
"Rückwärts durch die Knie betrachtet war die Welt immer am schönsten", ist einer der Sätze in Wolf Haas' neuem Roman. So merkwürdig das zuerst klingt, so gut fügt es sich ein - und erklärt wird erst zum Schluss.
So ist das bei Haas, bei dem man trotz seines hochgelobten Interviewromans "Das Wetter vor 15 Jahren" oder der Liebesphilosophiegeschichte "Die Verteidigung der Missionarstellung" immer noch gleich an Brenner denkt, den eigenwilligen bis eigenbrötlerischen Privatdetektiv, der so schrullig ist, dass man mit ihm kein Bier trinken möchte, ihn aber trotzdem mag.
Acht dieser Brenner-Krimis hat Haas geschrieben, die auch dem nichtösterreichischen Leser das Alpenland so nahe brachten, dass sie zum Ende der Bücher selbst schon den langsamen Wiener Duktus im Ohr hatten, samt der merkwürdigen Satzstellung, die den Brenner auszeichnete, und seine Gedankenwelt so offenlegte, als säße man hinter dessen Stirn.

Wolf Haas
Foto: Carmen Jaspersen/ picture alliance / dpaUnd weil dieser Schreibstil so eigenartig ist, dachte man, von Wolf Haas nie etwas anderes zu lesen als eben diese Krimis, die in einer Langsamkeit erzählen, dass sie auch diejenigen, die nervenzerrende Spannung nicht aushalten, mitreißen. Drei Mal hat er dafür den Deutschen Krimipreis erhalten. Wahrscheinlich hätte er die Serie endlos durchhalten können. Aber das wäre ihm zu langweilig geworden.
Jetzt ist "Junger Mann" erschienen. Der Titel erinnert an handgeschriebene Zettel an Fahrgeschäften auf der Dorfkirmes in den Achtzigerjahren: "Junger Mann zum Mitreisen" gesucht. Nicht ohne Grund.
Der junge Mann soll mitreisen
Der Ich-Erzähler ist dicklich, für seine zwölfeinhalb Jahre ziemlich groß, und - als er bei einem Ferienjob an der Tankstelle auf Elsa trifft - zum ersten Mal richtig verliebt. So verliebt, dass er beschließt, abzunehmen. Von einem Tag auf den anderen. Zack. Seine Mutter versucht ihm das zwar auszureden, gibt aber dann doch klein bei. Und während dem Leser das Ganze als ein sinnloses Unterfangen erscheint, da Elsa erstens schon 20 und zweitens verheiratet ist mit Tscho, dem Held des Dorfes, glaubt der junge Mann, dass alles schon werden würde, wenn ihn die Kunden an der Tankstelle nicht mehr mit einem jungen Fräulein verwechselten.
Dass das Gewicht beileibe nicht sein größtes Problem ist, erfährt der Leser immer ganz nebenbei. Das ganze Dorf weiß Bescheid, man kennt sich schließlich, weiß um die kluge, aber stets in allem das Schlechte findende Mutter und den liebevollen Vater, der vom Alkohol und der Spielerei nicht lassen kann, bis er in die Landesnervenanstalt eingewiesen und dort nicht nur auf Entzug gesetzt wird, sondern noch ganz andere Lektionen lernen muss: Selbstbestimmung und Neinsagen.
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Der Protagonist hingegen konzentriert sich nur auf Elsa. Und auf Tscho, der als Fernfahrer oft tage- oder gar wochenlang unterwegs ist. Zeit genug, mit Elsa Englisch zu lernen, denn das hatte sie sich gewünscht. Als Tscho ihn irgendwann fragt, ob er ihn nach Griechenland begleiten könne als Dolmetscher, ist er zuerst skeptisch, fährt aber dann doch mit, weil er sich nicht traut, abzulehnen. Die Lastwagenfahrt einmal quer durch Österreich, Slowenien bis hinunter ans Meer, das der Junge noch nie gesehen hat, entwickelt sich ganz anders als erwartet.
Zeitreise in die Siebzigerjahre
Wolf Haas erzählt wieder einmal lakonisch, bisweilen erinnert der Roman an Wolfgang Herrndorfs "Tschick". Es ist ein Roadtrip zum Erwachsenwerden, vorbei an Liebe und Tod und den Ereignissen, die das Leben zu einem Abenteuer machen und Menschen zu dem, was sie sind.
Aus der Elsa und dem Ich-Erzähler wird natürlich nichts, das darf man ruhig verraten, denn darauf kommt es am Schluss ohnehin nicht an.
Zwischendurch beginnt man zu rechnen: Zu Beginn des Romans befinden wir uns im Jahr 1973, Wolf Haas ist 1960 geboren. Auch er war im Internat wie sein Protagonist und auch seine Eltern arbeiteten in der Gastronomie. An der Tankstelle fahren noch Käfer vor und Renault 5, Walter Scheel hat ein Haus in der Nähe, der Nazi Reinhard Spitzy und der Süßwarenfabrikant Forrest Mars ebenfalls. Es gibt noch den autofreien Tag in der Woche wegen der Benzinknappheit, ein Gymnasiast ist im Dorf noch etwas Außergewöhnliches und der Krieg noch längst nicht so lange her, wie es sich damals für Kinder angefühlt hat.
"Junger Mann" ist eine Zeitreise in die Siebzigerjahre und eine Reise in die Gefühlswelt eines Teenagers gleichermaßen. Sie fließt dahin wie George Harrisons "Let It Down", das Elsa und der Protagonist im Auto so oft hören. Und dreht seine Schlaufen abseits des Erzählten mit detailgenauer Beobachtung.
Der Roman unterhält so gut, dass er, kaum angefangen, schon wieder zu Ende scheint, etwa wie die Jugend. Und auch die erscheint rückwärts betrachtet ja immer am schönsten.