Wolf Wondratschek "Eine Form der Stille"

Mit seiner Pop-Lyrik wurde Wolf Wondratschek Mitte der Siebziger berühmt. 30 Jahre später ist der 62-jährige Wahl-Österreicher auf dem Weg zum modernen Klassiker. Seine neuen Erzählungen sind sprachmächtige Miniaturen voll Wiener Melancholie.

Die flackernden Kerzen auf den eingedeckten Tischen werfen tanzende Schatten an die Wände. Und während die Kellner des Schwabinger Szene-Italieners "Il Borgo" vergeblich auf Kundschaft lauern, malt Wondratschek mit dem Finger ein Ausrufezeichen in die Luft und sagt: "München habe ich eigentlich nie geliebt!"

In Schwabing herrscht an diesem Spätsommerabend Weltuntergangsstimmung: Am Himmel zucken Serien wilder Blitze auf, und alle paar Minuten knallt es, als jagten irgendwelche Terroristen Münchens Amüsierviertel in die Luft. "Tot, tot, tot", nennt Wolf Wondratschek seine einstige Liebe München ungerührt, zu der er inzwischen ein Verhältnis habe, "wie zu einer Frau, die ich einmal geliebt habe, und die Sache vorbei ist". Da sitzt er nun in seinem Stammlokal, der einstige Pop-Lyriker und Bewohner von "Chucks Zimmer": die hohe Stirn in Falten gelegt, die listigen Äuglein hinter den Brillengläsern zu Schlitzen verengt. "Nur gibt es natürlich die Realitäten, dass hier in München die Gräber vieler Freunde und Freundinnen sind, die ich besuche, denn hier hat ein gewaltiges Stück meines Lebens stattgefunden." Seit 1996 aber ist Wondratschek, der Mitte der siebziger Jahre in München seine größten schriftstellerischen Erfolge feierte, in Wien zu Hause.

"Ich bin heimgekehrt", sagt er nüchtern, "denn Wien ist die Heimat meines Lebensgefühls. Doch man sollte nicht von einer späten Liebe sprechen, denn mein Name kommt aus dem Böhmischen und meine Vorfahren väterlicherseits aus der Monarchie. Ich lebe seit acht Jahren dort, halte mir die Stadt aber vom Leib, um zwischen ihr und mir meine Mythen Platz nehmen zu lassen."

"Ich war immer ein Mann des Satzes"

Mit Mythen kennt sich der 1943 im thüringischen Rudolstadt geborene einstige Desperado noch immer wie kaum ein zweiter Schreiber hierzulande aus. Allen voran mit den amerikanischen, die seinen Texten früh als Unterfutter dienten. Mit seinen Gedichtbänden "Chucks Zimmer" (1974) und "Das leise Lachen am Ohr eines Fremden" (1976) gelang ihm seinerzeit der ganz große Wurf: Die Kritiker jubelten, und die Verkaufszahlen seiner Bücher schnellten in Höhen, von denen Lyriker heutzutage bestenfalls im Drogenrausch halluzinieren. Allein "Chucks Zimmer" ging an die 300.000 Mal über die Ladentische. Wondratschek war fortan ein Star - und sein Mythos ist auch 30 Jahre später noch unvermindert intakt.

"Ich war immer ein Mann des Satzes, der Formulierung, der kurzen Zeilen, ein Mann des Gedichts", bekennt der inzwischen 62-Jährige. 1969 hatte er mit dem Prosaband "Früher begann der Tag mit einer Schusswunde" als Erzähler debütiert - und auf Anhieb einen neuen, frechen Ton in die deutsche Literatur jener Jahre gebracht, die vom Geist der "Gruppe 47" geprägt war. "Doch dass meine Gedichte anschließend so enorm wichtig und noch dazu so erfolgreich sein würden, das ist ja das Außergewöhnliche. Denn plötzlich begriff ich, dass ich von meiner Arbeit leben kann, auch wenn es bloß Gedichte sind."

"Für mich ist das Erzählen ein unerforschtes Land"

Was folgte, war eine Zeit fröhlicher Betriebsamkeit: Wondratschek zog von Frankfurt nach München, schrieb Hörspiele und Reportagen für den "Playboy" oder den "Stern" und pflegte die eigene Legende. Vor allem aber veröffentlichte er Bücher wie die Gedichtzyklen "Männer und Frauen"(1978), "Letzte Gedichte" (1980) oder die Sammlung "Menschen. Orte. Fäuste" von 1987, die seine großen Reportagen bündelt und zum Besten zählt, was dem literarischen Non-Konformisten aus der Feder floss: allem voran seine von Blut- und Schweißgeruch durchwehten, unlängst unter dem Titel "Im Dickicht der Fäuste" gesammelt erschienenen Box-Texte, in denen das selbsterklärte "Arschloch der Achtzigerjahre" wiederholt zur Hochform aufläuft.

Seit einer Handvoll Bücher aber zelebriert Wondratschek seine Verwandlung vom einst respektlosen, durchamerikanisierten Pop-Schreiber zum modernen Klassiker. Angefangen bei seinen 2001 publizierten Erzählungen "Die große Beleidigung" bis hin zu seinem neuen Geschichtenband "St. Tropez und andere Erzählungen". Fünf Texte, die einen Autor zeigen, der eine neue Stufe seiner Kunst erklommen hat. "Dabei bin ich gar nicht der geborene Erzähler, und halte mich auch nicht für einen. Für mich ist das Erzählen ein vollkommen unerforschtes Land. Ich habe keine Tricks, und ich reagiere wie ein Kind vor einem Setzbaukasten, den es noch nicht kennt."

Wo einst zündend helle Snapshots den Ton seiner unfrisierten Kurzprosa bestimmten, scheinen neuerdings Geister wie Nabokov oder Proust mitzuschwingen. Zugleich atmen sämtliche Texte ganz unverstellt die Atmosphäre Wiens. Denn ob der nur sprichwörtlich vom Blitz getroffene Feuerwehrmann, den ein Mozartabend unversehens zu einer folgenschweren Läuterung zwingt, oder der einst erfolgreiche und bereits pensionierte Chirurg, den das anrührende Schicksal eines russischen Mädchens noch einmal an den Operationstisch zurückbringt: Sämtliche Figuren der fünf neuen Geschichten scheinen bis in die Haarspitzen infiziert von jener leichten, gleichwohl chronischen Melancholie, der die Bewohner Wiens heillos erlegen sind.

"Kein Plan, kein Instinkt und keine Wünsche!"

Obendrein versteht es Wondratschek wiederholt gekonnt, die Sprache selbst zum Protagonisten seiner Texte zu machen. Dabei arbeitet er mit Leerstellen, mit "Verwischungen", wie er das nennt, die Wesentliches aussparen und seine Geschichten dadurch geheimnisvoll erscheinen lassen. "Er hätte sagen wollen, was er empfand", heißt es über den ins Trudeln geratenen Protagonisten des Stücks "Der Feuerwehrmann". "Er hätte aufstehen, seine Frau in die Arme nehmen und alles, was sein Herz erstickte, beichten sollen. Aber er blieb sitzen. Ich will, sagte er, nur einfach noch ein wenig allein sein und nachdenken."

Am Ende führt ihn seine fortgesetzte Grübelei in ein neues Dasein als Nachtportier der Hotel-Pension Ballaria, von wo aus er seiner Frau, die ihn unterdessen erzürnt verlassen hat, herrlich traurige Briefe schreibt. "Kein Plan, kein Instinkt und keine Wünsche!", erklärt Wondratschek nach der Entstehung seiner neuen Texte befragt. "Und ich bin selbst immer noch überrascht, wie es zu diesen Geschichten kommt, die man allesamt ein zweites oder drittes Mal lesen muss, bis man ihren ganzen Reichtum erfasst."

Alexander Kluge habe einmal mit Blick auf seine Texte gesagt: "Poesie ist bei dir die Organisation von Trance!" Und es stimmt, sagt Wondratschek, "ich suche darin eine Form von Abwesenheit, eine Form von Stille und Ruhe, die frei ist von der Banalität des Glücks. Ich will das Absichtslose. Erfolg ist für mich dann gegeben, wenn mir eine Seite gelingt, die weit über meinen Möglichkeiten liegt. Denn nur in der Trance gibt es die Chance, besser zu schreiben, als ich es normalerweise tue. Das ist es! Darauf mache ich Jagd!" Unterdessen hat es aufgehört zu regnen, das "Il Borgo" füllt sich langsam mit Gästen und Wondratschek ist bester Laune. Dann steht er wenig später draußen auf der Straße und sagt zum Abschied: "Als 'Chucks Zimmer' erschien, haben manche gesagt, 'Was ist denn das für ein Scheißdreck?'. Doch das ließ mich kalt. Denn ich weiß genau, wann ein Satz sitzt! Wann es passt! Nur, ich weiß den Weg dahin nicht."


Wolf Wondratschek: "St. Tropez und andere Erzählungen". Carl Hanser Verlag, München 2005. 186 Seiten, 17,90 Euro
"Im Dickicht der Fäuste" Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2005, 220 Seiten, 12,50 Euro

Mehr lesen über

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten