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"American Splendor": Harvey Pekars Abgründe

Foto: Mark Duncan/ AP

Zum Tode Harvey Pekars Amerikas ganz normaler Alptraum

Sein Leben war nicht besonders aufregend, aber er machte 2000 Seiten Comic daraus. Mit ungebremsten Furor berichtete Harvey Pekar von seinem Leben am Rande der amerikanischen Mittelschicht - und erfand dabei ein völlig neues Genre. Nun ist er im Alter von 70 Jahren gestorben.

Vielleicht war es das Beste, was dem Comic diesseits des Zweiten Weltkriegs passieren konnte: die Idee, aus dem eigenen Leben eine Geschichte zu machen. Selbst wenn es, wie bei Harvey Pekar, das Leben eines einfachen Angestellter mit mäßiger Bildung und ohne außergewöhnlichen Lebenslauf war.

Das Genre des autobiografischen Comics, wie Pekar es erfand, bereicherte das Medium um eine weitere Komponente. Er gab ihm nach eskapistischen Machtphantasien, harmlosen Gags und barocken Kunsterzählungen die dringend benötigte Erdung zurück.

"American Splendor" nannte er seine Comicserie, 'Amerikas Herrlichkeit'. Sarkasmus pur. "Von den Straßen Clevelands" war der Slogan, der auf jedem seiner Hefte prangte, und das hieß in diesem Fall "aus der sozialen Notstandszone", aber auch aus der scheinbaren Belanglosigkeit der amerikanischen Unterschicht.

Robert Crumbs Kumpel

Pekar war kein Comicfan. Er war ein Liebhaber von Jazz und Malerei, ein manischer Schallplatten- und Büchersammler. Sein Studium hatte der 1939 Geborene nach nur einem Jahr geschmissen. Mit Ausnahme seiner Zeit in der Armee verbrachte er sein ganzes Leben in Cleveland, ab den sechziger Jahren als Angestellter eines Krankenhauses. Akten sortieren war sein Job.

Zum Comic kam er, weil Robert Crumb eine Ecke weiter wohnte. 1962 war Crumb, damals noch lange nicht der Star des amerikanischen Underground-Comics, der er später werden sollte, nach Cleveland gezogen. Dort textete er Glückwunschkarten und zeichnete. Über Bekannte lernte er Pekar kennen. Die beiden verband die Liebe zum Jazz. Crumb führte den unauffälligen Angestellten Pekar in die Welt der gerade erblühenden alternativen Comics ein, der gezeichneten Gegenkultur zu Superman und Co.

Für Pekar, der selbst nicht zeichnen konnte, war es eine Offenbarung. Er überredete erst Crumb, dann andere Zeichner, Comics direkt nach seinem Leben zu gestalten. 1976 erschien die erste Ausgabe von "American Splendor". Ein Vierteljahrhundert lang folgte jährlich eine weitere.

Pekars Vorstellung von Comic, wie er sie in seinen Heften zelebrierte, fügte sich in die Gegenkultur der sechziger und siebziger Jahre ein. Er ignorierte nahezu alle Konventionen, wie ein Comic auszusehen, zu funktionieren hatte. Seine Geschichten waren häufig nicht einmal das: Sie begannen und endeten an beliebigen Zeitpunkten in Pekars Leben, bestanden mitunter seitenweise aus Wutausbrüchen und Monologen des Autors über seinen Alltag, die Gegenwart und Amerika.

Sogar für die Gegenkultur zu sperrig

Selbst Robert Crumb, der mit ähnlichen Konzepten arbeitete, gab zu, dass Pekars Geschichten schwer zu illustrieren seien: "Es ist so wenig Comicheft-typische Action darin, in die der Künstler sich verbeißen kann. Größtenteils sind es nur Leute, die herumstehen und reden."

Damit stellte sich Pekar nicht nur gegen den von Superhelden getragenen Mainstream der nordamerikanischen Comics. Selbst für die Untergrundszene, in der Robert Crumbs groteske Comics sich millionenfach verkauften, waren die Erzählungen des zornigen mittelalten Mannes aus dem ganz normalen amerikanischen Berufsleben zu sperrig. Pekar selbst gab später nicht ohne Stolz an, nie mit auch nur einem einzigen Heft von "American Splendor" Geld verdient zu haben.

Seinen Mitteilungsdrang minderte das nicht. "Ja, er ist ein Ego-Maniac, ein klassischer Fall...ein besessener, zwanghafter, irrer Jude", beschrieb ihn Crumb später. Mit unermüdlicher Energie überzeugte er Comiczeichner, gegen einen Hungerlohn für ihn zu arbeiten. Geschichten, die von seinem Umzug handelten, vom Einkaufen, vom schwarzen Kollegen, mit dem er zu Mittag aß.

Das Ergebnis war möglicherweise nicht nur die umfangreichste Comic-Autobiografie als work in progress (später sollten sich zu den Heften noch Bücher gesellen), sondern Urknall und Maßstab für eine neue Art Comic. Das Genre des autobiografischen Comics, das seinen Schwerpunkt auf Alltägliches statt auf Besonderes setzt, ist heute neben dem Superhelden-Comic das vielleicht einzige originäre Konzept, das das Medium hervorgebracht hat. Künstler wie Marjane Satrapi ("Persepolis"), Chester Brown ("Fuck") oder in Deutschland Flix ("Heldentage") sind Nachgänger von Pekars Idee.

Unermüdliche Wut

Dabei sind nur wenige so radikal wie Pekar, der nahezu sein gesamtes Leben in Comics umsetzte. In seinen besten Momenten hatte "American Splendor" die alltagsnahe Wut des frühen HipHop und Punk, die unmittelbare Intensität der Texte Charles Bukowskis. Für Pekar war alles Comic: Als er an Krebs erkrankte, machte er daraus eine umfangreiche Comic-Chronik ("Our Cancer Year"). Als 2003 in einem Fall von spätem Ruhm Pekars Comicleben unter dem Titel seiner Hefte verfilmt wurde, reagierte Pekar mit der Graphic Novel "Our Movie Year".

Beinahe 2000 Comicseiten umfasst Pekars Leben. Auf Deutsch ist davon beinahe nichts erschienen, nur einige der Episoden mit Robert Crumb in diversen Sammelbänden. Pekar, der unermüdliche Chronist der amerikanischen Unterschicht aus eigenem Erleben, war scheinbar auch für den deutschen Markt zu sperrig.

2001 ging Pekar in Rente. Mit den Comics war es da allerdings noch nicht vorbei. Seine Geschichten erschienen ab sofort beim amerikanischen Edel-Label Vertigo und als voluminöse Buchausgaben bei Ballantine. Sein letztes Buch, simpel "Cleveland" betitelt, sollte ursprünglich dieser Tage erscheinen. Nun wird es postum Pekars Abschiedsvorstellung.

Am Montag starb Pekar in seinem Haus in Cleveland, er wurde 70 Jahre alt.

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