Zum Tode José Saramagos "Der Mensch hat aufgehört, sich selbst zu achten"

Als Kommunist eckte José Saramago selbst nach dem Ende der portugiesischen Diktatur noch an, der Vatikan wetterte gegen ihn, und im hohen Alter entdeckte er das Internet: Abschied von einem Autor, der sich nie den Vorwurf machen lassen musste, es sich bequem gemacht zu haben.
José Saramago: "Der Vatikan soll sich um seine eigenen Sachen kümmern"

José Saramago: "Der Vatikan soll sich um seine eigenen Sachen kümmern"

Foto: Ander Gillenea/ Getty Images

Als am 8. Oktober 1998 während der Frankfurter Buchmesse die Nachricht kam, dass José Saramago den Nobelpreis für Literatur erhalten wird, hieß es zunächst, der portugiesische Schriftsteller sei schon abgereist. Tatsächlich saß er noch am Gate des Frankfurter Flughafens und wartete auf seinen Aufruf. Eine junge Frau vom Bodenpersonal kam auf ihn zu und informierte ihn.

So konnten wir, eine Handvoll Journalisten, später - es ging auf Mitternacht zu - mit ihm zusammen in seinem Hotelzimmer sitzen und Fragen stellen. Warum er nicht die Bekanntgabe der diesjährigen Stockholmer Entscheidung auf der Messe abgewartet habe, zumal er doch seit Jahren als Kandidat im Gespräch sei? "Ich wollte meine Reisepläne nicht davon abhängig machen", antwortete Saramago. "Stellen Sie sich vor, ich hätte deswegen eine spätere Maschine gebucht und den Preis nicht bekommen. Da wäre ich mir doch blöd vorgekommen!"

Langer Weg zur Literatur

Erstmals war der Literaturnobelpreis einem portugiesischen Schriftsteller zugesprochen worden. Saramago wusste, dass nicht nur sein deutscher Verlag - damals noch Rowohlt - seinen Auftritt und seine Präsenz in Frankfurt erwartete. "Ich musste mit meinem Koffer in der Hand mutterseelenallein einen langen Gang runtergehen", erzählte er. "Komisch, dachte ich mir: Jetzt hast du diesen Preis, und niemand ist da, mit dem du darüber reden kannst."

Saramago wurde am 16. November 1922 in Azinhaga geboren. Es hat lange gedauert, bis er zur Literatur fand. Seine Eltern waren portugiesische Landarbeiter, die Mutter hat nie lesen gelernt. Der begabte Sohn konnte aus Geldmangel nicht einmal das Gymnasium besuchen, obgleich die Familie inzwischen in Lissabon wohnte, wo der Vater Polizist geworden war. Der junge Saramago arbeitete als Automechaniker, als Mitarbeiter der Sozialwohlfahrt und eines Verlags, als Übersetzer, Korrektor und Literaturkritiker.

Ein erstes Liebäugeln mit der Schriftstellerei im Alter von 25 hielt er für gescheitert, er war der Meinung, "nichts Besonderes zu sagen zu haben". Sein Debütroman "Terra do Pocado" (Land der Sünde) galt lange als verschollen und wurde erst 1997 wiederveröffentlicht.

Mit Mitte 40 publizierte Saramago erstmals Gedichte, dann Bände mit seinen Zeitungsbeiträgen und 1977 den ersten Roman als Berufsschriftsteller: "Handbuch der Malerei und Kalligraphie". Zuvor war er - nach dem Sturz der Salazar-Diktatur 1974 - Mitarbeiter im Ministerium für Kommunikation geworden, hatte dann kurz als stellvertretender Chefredakteur einer Zeitung gearbeitet, bis er als Mitglied der Kommunistischen Partei (seit 1969) aneckte und seinen Job verlor. So befand er sich 1975 in einer Situation, "in der ich mir Arbeit suchen oder die Schriftstellerei zu meinem Beruf machen musste".

Unter den vielen folgenden Romanen fanden zwei besondere Beachtung: "Das Todesjahr des Ricardo Reis" (1984) und vor allem "Die Stadt der Blinden" (1995), eine düstere Parabel, die 2008 auch als Kinofilm Furore machte. Diesen Roman, so sagte Saramago 1998 in seiner Nobelpreisrede, habe er vor allem geschrieben, um daran zu erinnern, "dass wir die Vernunft pervertieren, wenn wir Leben erniedrigen, dass die menschliche Würde tagtäglich von den Mächtigen dieser Welt erniedrigt wird, dass die universelle Lüge die vielfachen Wahrheiten ersetzt hat, dass der Mensch aufhörte, sich selbst zu achten, als er die Achtung vor seinen Artgenossen verlor".

Der Vatikan zürnt

Das Parabelhafte vieler seiner Bücher, die Neigung, Botschaften zu verpacken, wenn auch niemals mit ideologischem Zeigefinger, hat die Wahrnehmung seiner Bücher auch in Deutschland erschwert und die Kunstfertigkeit und literarische Qualität oft verdeckt. Ohnehin waren nicht wenige der Meinung, nicht Saramago, sondern sein großartiger Kollege und Landsmann António Lobo Antunes habe eigentlich den Nobelpreis verdient.

Gegen die Entscheidung für Saramago wetterte prompt auch der Vatikan. Dort war man seit dem Erscheinen des Romans "Das Evangelium nach Jesus Christus" (1991) nicht besonders gut auf den antiklerikalen Schriftsteller zu sprechen. Am Abend im Frankfurter Hotel sagte uns Saramago genervt dazu: "Der Vatikan soll sich um seine eigenen Sachen kümmern und sich nicht fundamentalistisch gebärden."

Schon Jahre zuvor hatte es wegen dieses Buches Konflikte gegeben. Ein Staatssekretär im portugiesischen Kultusministerium hatte 1992 dafür gesorgt, dass der Roman von der Kandidatenliste für den Literaturpreis der Europäischen Gemeinschaft wieder gestrichen wurde. Daraufhin hatte Saramago mit seiner Frau Portugal verlassen und sich auf der Insel Lanzarote niedergelassen. Später nannte er es allerdings eine Legende, dass er seiner Heimat den Rücken gekehrt habe: "Ich habe in Lissabon immer eine Wohnung behalten, seit einer Weile besitze ich dort ein Haus." Und er zahle brav seine Steuern.

Als ewig junger Achtzigjähriger begann Saramago vor einigen Jahren noch ein Internet-Tagebuch zu schreiben, in dem er seinen politischen, oft verqueren Überzeugungen freien Lauf ließ. Eine Buchausgabe in seinem deutschen Verlag kam nicht zustande, da man sich bei Rowohlt besonders an den Ausfällen gegen den Staat Israel stieß, dessen Politik der Blogger mit jener der Nazis verglich. Saramago wollte aber auf diese Passagen nicht verzichten, und so wechselte er vor wenigen Monaten den Verlag. Bei Hoffmann und Campe wird im diesem Herbst "Das Tagebuch" erscheinen, ungekürzt. Vorher aber noch - schon in der kommenden Woche - der 2008 in Portugal publizierte Roman "Die Reise des Elefanten".

In dem anrührenden Werk "Kleine Erinnerungen" (2006) mit Szenen aus der eigenen Kindheit zitiert Saramago seinen Großvater mit den Worten kurz vor dessen Tod: "Die Welt ist so schön, und es ist so schade, dass ich sterben muss." In der Nobelpreisrede schrieb er diese Worte übrigens seiner Großmutter zu. Aber so ist das mit Erinnerungen: In der Literatur führen sie ohnehin ein Eigenleben.

José Saramago starb am 18. Juni auf Lanzarote, er wurde 87 Jahre alt.

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