Zum Tode von Saul Bellow Mehr denken als lenken
"Bellow ist ein Russe", schrieb Martin Amis in einem Porträt, "ein Tolstoi, in seiner Reinheit und Weite". Der Vergleich zielte auf die Dimension, die Menschlichkeit, die überragende Intellektualität seines Werkes. Tatsächlich gehört Bellow mit John Updike und Philip Roth zu den großen amerikanischen Chronisten der westlichen Gesellschaft; wie der russische Realist überschreitet er mit seinen Werken nationale und kulturelle Grenzen. Mögen seine Romane in New York oder Chicago angesiedelt sein - Bellows Welt wurde zum literarischen Kosmos, in dem sich Leser weltweit zu Hause fühlten.
Dass Roth ihn zum "Rückgrat der amerikanischen Literatur seit Faulkner" erklärte, ist also nicht übertrieben: Der am 10. Juni 1915 in Lachine, Quebec, geborene Sohn russisch-jüdischer Eltern hat Amerika seit den fünfziger Jahren Jahren zu einer einmaligen Erzählstimme verholfen, deren Klang mal humorvoll, mal tieftraurig, immer jedoch kritisch und deutlich zu vernehmen war. Eine Stimme, die ihre Kraft vor allem aus einer enormen Belesenheit und der unbändigen Lust auf philosophische Spekulation bezog.
Bellow war kein energischer Aktivist wie Mailer, kein Abenteurer wie Hemingway. Seine Arbeit blieb - bei allem politischen Scharfsinn - vom Räsonnement des Bildungsbürgers bestimmt. Dostojewski und D.H. Lawrence waren seine Inspirationsquellen, nicht Medien und Moden, und so ist sein Werk von jenen postmodernen Theorietrends frei geblieben, die seit den Sechzigern das Subjekt zu Grabe tragen oder Geschlecht und Klasse als lebensleere Zeichensysteme lesen.
Man hat ihm die Konzentration auf den urbanen Geistesmenschen, dessen Dilemma er von seinem Romandebüt "Der Mann in der Schwebe" (1944) bis zu den späten Werken wie "Der Dezember des Dekans" (1981) immer wieder aufgefächert hat, oft übel genommen. Frauen spielen in seinen Werken ebenso wenig eine größere Rolle wie Afroamerikaner; es war leicht, in ihm den weißen männlichen Kulturträger zu sehen, der in stilistisch makelloser (und deshalb zuletzt leicht antiquiert wirkender) Diktion seinen eigenen Typus zum Nabel der Welt erklärte.
Doch diese Verengung auf den jüdisch-urbanen Intellektuellen, an dessen Person sich die kulturellen Spannungen Amerikas und darüber hinaus das Drama der condition humaine ablesen lässt, verschaffte der US-Literatur eine herausragende Position im modernen literarischen Weltgeschehen. Ideenroman nennt man solche Werke gern, und in dieser Zuordnung schwingt bereits ein wenig Skepsis mit: Dass sich Erzählwerke anhand von Reflexionen organisieren lassen, muss eine auf Plot und filmische Dramaturgie gepolte Leserschaft verunsichern.
Bellow widerlegte solche Zweifel mit einer glänzenden Mischung aus Humor, Melancholie und Scharfzüngigkeit. Wenn in "Herzog" (1964) einem Geschichtsprofessor die Frau davonläuft und in der Folge Geistesgrößen von Nietzsche bis Heidegger mit in Briefform gefassten Kulturanalysen bombardiert werden, dann ist bereits die Blaupause für jene liebenswerten Loser angelegt, die seit Woody Allen die Leinwand bevölkern. Mit "Humboldts Vermächtnis" (1975) machte er den Intellektuellen endgültig zum Sprachrohr des von sich selbst geplagten Kulturmenschen, der dem Chaos der empirischen Welt trotzig sein Cogito entgegensetzt.
Der Roman erhielt die höchsten Weihen - Nobel- und Pulitzerpreis im selben Jahr -, und Bellow beschritt den Weg vom großen Schriftsteller zum Großschriftsteller, der als Stimme seines Landes hymnisch gefeiert und für literarische Fehlschläge wütend verrissen wurde. Die achtziger Jahre gehörten tatsächlich nicht zur Glanzzeit seines Schaffens; Der Roman "Der Dezember des Dekans" von 1981 wurde als "dürres und dürftiges Alterswerk" (Marcel Reich-Ranicki) gescholten; seine Erzählung "Ein Diebstahl" als "flaches, flüssiges Novellchen" abgetan. Tatsächlich trieb Bellows Kulturkonservatismus bisweilen erstaunliche Blüten: Der späte Roman "Mehr noch sterben an gebrochenem Herzen" verramschte in uninspirierter Weise alle klassischen Bellow-Motive: Bildungsbeflissenheit, Lebensferne, Männereinsamkeit und Wut auf den so genannten Zeitgeist.
Sein uvre wird jedoch auch solche Ausrutscher überdauern. Bellow hat der Weltliteratur mit der Figur des tragikomischen Querkopfs, der an der Moderne ebenso sehr leidet wie er sie für sein Selbstverständnis als Denker braucht, ein zeitloses Geschenk gemacht. Und wenn es wahr ist, dass, wie er einmal sagte, "die klassischen Autoren den Nationalcharkter bestimmen", Paris also von Balzac-Figuren und Berlin von Döblin-Charakteren bewohnt wird, dann sieht Amerika immer auch ein bisschen wie ein Held von Bellow aus. Ein streitbares Vorbild, gewiss, aber nicht das Schlechteste.