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KUNST Loch zur Lagune

Mit Beiträgen von Beuys, Gerz und Ruthenbeck ist der deutsche Pavillon zentrales Ereignis der diesjährigen Kunst-Biennale.
aus DER SPIEGEL 30/1976

Wunder-Nachrichten aus Venedig: Die Biennale ist eröffnet worden. und das auch noch, wie »Il Gazzettino« meldet. »in Fröhlichkeit«.

Hundertfach totgesagt, scheinbar totgeredet, untergegangen in Geldnot und politischen Ambitionen, erweist sich das über 90jährige Kunstfestival auf einmal als erstaunlich kregel. Seit Ende voriger Woche hat die Biennale mit 30 Nationalbeiträgen, drei großen und etlichen kleineren Spezialausstellungen mehr anzubieten als zumindest im letzten Jahrzehnt jemals vorher. Sie lebt, und es darf nur darüber gestritten werden. ob sie »wieder« lebt.

»Vor allem sprechen Sie nicht von Wiedergeburt«, fleht Biennale-Präsident Carlo Ripa di Meana. Im Trubel von drei Vorbesichtigungstagen (für Künstler, Kritiker und Händler) tat er sich schwer mit seiner Botschaft, daß dies denn doch eine dank Gesetz und Veranstalter-Ehrgeiz neue Biennale sei. Allzu offenkundig hat jener Reformeifer nachgelassen, der etwa vor zwei Jahren linke Parolen auf den Plätzen Venedigs produzierte und mit dem Bildungsbürger wie Länderkommissare ausgesperrt werden sollten. Die Biennale drängt nicht mehr blindlings in die Arbeiterviertel und nutzt neben dem traditionellen Ausstellungsgelände eher notgedrungen ausgediente Werfthallen auf der Giudecca-Insel für ihr überquellendes Programm.

Das, in der Tat, geht erheblich über das Biennale-Pensum alter Zeiten hinaus -- exemplarisch mit einer Dokumentar- und Kunstschau, die »Künstlerische Avantgarde und soziale Wirklichkeit 1936-1976« in Spanien und so auch ein Stück Biennale-Geschichte reflektiert: Neben spanischen Auswanderern wie Picasso sind innere Emigranten vertreten, die gelegentlich sogar im spanischen Pavillon in Venedig ausstellen durften. Diesmal bleibt er logischerweise geschlossen.

Über allem aber schwebt, wortreich und auslegbar, das Motto »Ambiente, Partizipation und kulturelle Strukturen«. Auf diese Lösung ließen sich auch die einst völlig ungebundenen Länder-Kommissare willig einschwören, weil notfalls alle Bilder und Plastiken als »Betrachtungen unseres zeitgenössischen Ambiente« (Katalog) erklärbar sind. Deutschland-Kommissar Klaus Gallwitz, flexibel: »Wenn es »Partizipation« nicht gibt, partizipiere ich am Ambiente.«

In solcher Freiheit präsentiert Gallwitz die »Antwort der Künstler« Joseph Beuys, Jochen Gerz und Reiner Ruthenbeck auf das Biennale-Thema -- ein zentrales Ereignis, das in Venedig jeden Vergleich besteht. Beuys, den nun auch der konservative »Gazzettino als »wichtigen Künstler von heute« einstuft, hat für den Mittelsaal des Pavillons ein beherrschendes Monument errichtet. Die schlanke Säule aus Gußeisen, die in einem Kopf endet und von vier niedrigen hockerähnlichen Elementen umgeben ist, wirkt in dem hellen, steilen Raum so unmittelbar, daß die plastische Form suggestiv auf die Frage nach dem Gedanken-Hintergrund hinführt, nicht aber erst durch ihn gerechtfertigt werden muß.

Von diesem Hintergrund gibt der Künstler historisch-mythische und autobiographische Aspekte preis: Das Werk bezieht sich auf ein seltsames Denk-Mal aus Minen und Kanonenrohren, das der Oranier Moritz von Nassau in Beuys« Heimatstadt Kleve hinterlassen hat und an dem ein gewappneter Amor eine Verbindung von Krieg und Liebe symbolisierte.

Beuys, der als Kind täglich neben dem stilleben-artigen Arrangement die Klever Straßenbahn bestieg, hat nun neben seiner Monument-Plastik eine abgefahrene Schiene in den Boden eingelassen, die Arbeit aber auch durch ein 25 Meter tiefes Bohrloch bis unter den Grundwasserspiegel der Lagune am Ort Venedig »festgemacht«. Nur hier ist die »Straßenbahnhaltestelle« so zu sehen; im Kröller-Müller-Museum im niederländischen Otterlo, das sie schon erworben hat, sollen ihre Teile nur »als Material abgelegt« werden.

Ähnlich gedankenreich wie Beuys ist Konzeptkünstler Gerz zu Werke gegangen, als er -- linkshändig und seitenverkehrt, auch ihm selber nur im Spiegel lesbar -- ausführliche Meditationen über »die Schwierigkeit des Zentaurs beim vom Pferd steigen« niederschrieb. Während die hieroglyphischen Texte auf Pulten ausgelegt sind, ragt der Zentaur leibhaftig, als sieben Meter langes Bretter-Monstrum durch zwei Räume des deutschen Pavillons.

Entsprechende Säle hält Ruthenbeck mit einer klaren Konstruktion aus Gummiseilen besetzt. Die schwarzen Strippen spannen sich von den Grenzen des einen Raums zu denen des anderen und drängen sich in der Durchgangstür zusammen. Beschreibend und definierend, erfüllt Ruthenbecks »Doorway« das Thema »Ambiente« so buchstäblich wie wenige Biennale-Beiträge. Raum, Ambiente, Environment: Jeder Künstler, jeder Kommissar kommt mit der Vorschrift auf seine Weise zurecht. Die Niederländer zeigen Beispiele der Stadtplanung in Großphotos; bei den Portugiesen dokumentieren außer Volks-Aktionen in Lissabon auch die »ästhetischen Rituale« des Künstlers Alberto Carneiro in der Landschaft.

Das Raumthema ist in der Kunst nicht gerade neu, und die Biennale verfolgt es denn auch in der Geschichte bis zum Futurismus zurück. Eine letzte Woche noch unfertige Ausstellung soll durch rekonstruierte Kunst-Räume führen, wie sie Kandinsky, Lissitzky oder Mondrian schon in den zwanziger Jahren als Galerien oder auch zum Wohnen entwarfen. Im aktuellen Teil dieser Schau ist Beuys mit einem Saal voll Schiefertafeln (demnächst in der Nationalgalerie Berlin) vertreten.

Auch beim Querschnitt »Aktualitäten 72-76« fehlt es nicht an Raum- und Umweltmodellen. Die Franzosen Anne und Patrick Poirier etwa haben die Ruinen der verbrannten Bibliothek von Alexandria aus Holzkohle nachgebildet, der Amerikaner Simonds baut spielzeughafte Wohnstätten für imaginäre »little people« -- auch, auf der Suche nach neuem Raum für Kunst, außerhalb der Ausstellungssäle.

Nicht ganz so kühn, aber doch sichtlich nicht mehr auf ihren alten Raum zu beschränken, expandiert die Biennale insgesamt: Mit jetzt fünf, im Laufe des Sommers noch zwei weiteren Architektur-, Photo- und Design-Ausstellungen schwärmt sie über ganz Venedig aus.

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