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Loft-Jazz: »Fast eine Revolution«?

In den New Yorker »Lofts«, riesigen Räumen in alten Industriebauten, spielen Underground-Musikanten einen neuen Jazz, der nun auch schon auf Platten erscheint. Durch zwei führende Ensembles wurde der Loft-Jazz jetzt bei den Berliner Jazztagen präsentiert -- stilistischer Neubeginn oder Teil eines allgemeinen Jazz-Comebacks?
aus DER SPIEGEL 46/1977

In seiner rund 400 Quadratmeter großen Loft »Environ« am unteren Broadway, Wohnung und Konzertsaal in einem, hockte der Pianist John Fischer, 44, und schmollte.

Durch das von Kritikern und Plattenproduzenten erfundene Etikett »Loft-Jazz«, so klagte der graumähnige Jazzer, würden Musiker auf bestimmte Spielplätze festgelegt und in ihren Möglichkeiten eingeengt: »Louis Armstrong war schließlich auch kein Puff-Musiker. bloß weil er eine Zeitlang in New-Orleans-Bordellen geblasen hat.«

Nun hat die Plüsch-Atmosphäre südstaatlicher Freudenhäuser vor 1917 mit den New Yorker Lofts von heute gewiß nichts gemein. Auch die großen Tanzhallen der dreißiger Jahre, in denen Benny Goodmans Big Band die Swing-Begeisterung anheizte, oder die Nachtbars von New Yorks 52nd Street, wo um 1945 der Bebop bekannt wurde, präsentieren ganz andere Klänge auf ganz andere Art.

Richtig ist aber auch, daß in den riesigen Lofts -- ehemaligen Lagerhallen, Packräumen oder Verkaufsläden in den Industriebauten von Greenwich Village oder SoHo (dem Viertel »SOuth of HOuston Street") -- derzeit ein Musik-Klima und eine Aufbruchstimmung herrschen, die einzig mit den berühmten Jazz-Zentren der Vergangenheit vergleichbar sind.

Zumeist auf Kissen, Wolldecken, alten Gartenstühlen oder dem blanken Boden lauschen dort immer mehr Fans einer Avantgarde, die bis vor kurzem nirgendwo in New York zu hören gewesen ist. Sie strömen ins ebenerdige »Axis in SoHo«, drängeln in die Souterrain-I.oft »Ladies« Fort« in der Bond Street und kletterten bis diesen Herbst elf Stockwerke hinauf ins »Environ«, wenn dort gerade wieder mal der Fahrstuhl kaputt war (John Fischer sucht augenblicklich nach einem leichter zugänglichen Raum).

Für drei bis vier Dollar Eintritt, die überwiegend den Musikern und nur zum geringen Teil dem Loft-Eigentümer zugute kommen, nuckeln sie allenfalls an einer kargen Cola -- in den meisten Lofts werden keine oder kaum Getränke ausgeschenkt. Die Musik wird still und selbstvergessen eingesogen -- oft stundenlang.

In den Lofts, urteilt das Jazz-Magazin »Down Beat«, könne ein Musiker uneingeschränkt und von Klubbesitzern unmanipuliert »alle Facetten seiner Kreativität« zeigen, und das käme »fast einer Revolution« gleich.

Die Umwälzung hatte, unmerklich, schon in den sechziger Jahren begonnen, als Free-Jazz-Musiker in aller Welt Kooperativen gründeten, um ihre von den Musikkonzernen boykottierten Ekstasen durch Untergrund-Konzerte und Schallplatten-Selbstvertrieb an den Fan zu bringen.

Mittels einer festivalähnlichen Konzertserie in einem verkommenen Keller am oberen Broadway proklamierte New Yorks Jazz-Avantgarde 1964 eine »Oktoberrevolution im Jazz« -- ohne spürbares Resultat. Der einzige Klub, der den Wilden vom Free Jazz danach zeitweilig ein Refugium gab, »Slugs"~ an der nachts gefährlichen Lower East Side, stellte den Betrieb ein, nachdem Pianist Cecil Taylor aus emotionalem Überdruck das Klavier ruiniert hatte und das Publium ausblieb.

Nur in Lofts, den damals spottbilligen und vielfach mit Matratzen mö-

* Mit der Sam-Rivers-Combo

blierten Behausungen von Musikern, Malern und Dichtern, konnte seinerzeit in New York der durch keinerlei melodische, harmonische und rhythmische Absprachen verständlich gemachte Free Jazz geübt und zelebriert werden. Nur selten warfen ein paar interessierte Zuhörer ein paar Dollar in den Topf.

Das wurde erst anders, als der schwarze Saxophonist Sam Rivers, 47, und dessen Frau Beatrice 1970 aus Harlem in eine ebenerdige Loft an Greenwich Villages Bond Street zogen und das Kellergeschoß zum »Studio Rivbea« ausbauten. Rivers, der nebenbei auch Bilder malt, öffnete sein Appartement Musikern und Künstlern jeder Art sowie dem Publikum und warb durch Zeitungsanzeigen für sein neuartiges Konzept.

»Ich war immer von Theaterregisseuren beeindruckt«, sagt Rivers, »die nur eine leere Bühne brauchten, um das Drama und die Schauspieler wirken zu lassen.« Eine solche wollte er bereitstellen.

Erfolg: Das im »Studio Rivbea« probierte Bühnenstück »Für schwarze Mädchen, die Selbstmord erwogen hatten, als der Regenbogen verblaßte« von der farbigen Poetin Ntozake Shange ist derzeit ein Hit am Broadway; Rivers« Jazz-Loft-Prinzip wird in New York allenthalben nachgeahmt.

Es ist der Darbietungsmodus viel eher als ein einheitlicher Musizierstil, der die New Yorker Loft-Szene auszeichnet. In Lofts musizieren gelegentlich auch Bluesinterpreten, Folklorespieler sowie, als Gäste, prominente Jazzer wie Dave Brubeck, Jimmy Giuffre oder Dakota Staton. Hauptsächlich jedoch wird dort der Avantgardeklang relativ junger Talente in all seinen Spielarten gepflegt.

Zwar gibt es zwischen den Musikanten unterschiedlicher Hautfarbe so gut wie keine rassischen Barrieren -- jeder spielt mit jedem -; dennoch lassen sich im Loft-Jazz, grob, zwei Haupttrends erkennen, die von den heiden Wortführern der Loft-Szene, Rivers und Fischer, bei den Berliner Jazztagen am vergangenen Sonntag erstmals für Europa dokumentiert worden sind.

Saxophonist und Flötist Rivers verankert sein freironales Spiel, wie die meisten farbigen Musiker, überwiegend in schwarzen Musiziertraditionen wie Gospel und Blues.

Schon der Großväter dieses akademisch ausgebildeten Musikers hatte im Jahr 1882 eine Sammlung teils selbstkomponierter Spirituals und Plantagenlieder veröffentlicht, sein Vater sang im berühmten Spiritualchor der schwarzen Fisk University.

Pianist Fischer, ein gebürtiger Belgier, hatte mit 19 zwar kurze Zeit in den USA Kompositionslehre studiert, sich dann aber neben Jobs als Taxifahrer und Postangestellter jahrelang als bildender Künstler betätigt. Das Geld für seine erste Jazz-Loft erwarb er sich durch sogenannte Brotback-Festivals: Besucher konnten aus Brotteig Skulpturen kneten und diese, gebacken, mit nach Hause nehmen.

Stets wurde dabei auch Jazz gespielt -ein Experimentierstil, bei dem Fischer versuchte, mit Stimme und Instrumenten den Klangvorstellungen elektronischer Komponisten nahezukommen.

Seit er sich mit 35 entschloß, den Jazz professionell zu betreiben, sind seine Improvisationen -- wie die vieler weißer Free-Jazzer -- durch Toncluster und Splitterklänge aus dem Fundus der Konzertmusik-Avantgarde mitgeprägt.

Wie vielfältig der in Lofts gespielte Jazz darüber hinaus heute ist, geht aus einer in Rivers« »Studio Rivbea« aufgenommenen Fünf-Platten-Serie ("Wildflowers« auf Douglas/Casablanca Records) hervor, die von Bellaphon auch in der Bundesrepublik vertrieben wird. Mehr als 50 Musiker bedienen sich dort so gut wie aller Spieltechniken. die im aktuellen Jazz üblich sind.

Schon haben auch die großen Plattenkonzerne für die Loft-Szene ein offenes Ohr. »Ich bin sicher«, erklärt Atlantic-Chef Nesuhi Ertegun, »daß bedeutende Musiker daraus hervorgehen werden.« CBS-Präsident Bruce Lundvall ergänzt: »Kreative Neuerer aus den Lofts werden wir sofort unter Vertrag nehmen.«

Von jeher, meint US-Impresario George Wein, Veranstalter des Festivals Newport/New York, der sich gegenüber Loft-Musikanten bislang eher abweisend verhielt, habe der Jazz aus seinem schillernden oder anrüchigen Umfeld Faszination und verkaufsfördernde Legenden bezogen: »Die Lofts tragen heute zum Jazz-Jmage bei.«

Aber ist das denn nötig? Niemals zuvor nämlich, jedenfalls nicht mehr seit der Swing-Mode um 1940, war der Jazz weltweit so populär wie zur Zeit.

Seit Musiker aus dem Umkreis des Trompeters Miles Davis Anfang der siebziger Jahre -- unter Ensemblenamen wie »Weather Report« (Joe Zawinul, Wayne Shorter), »Head Hunters« (Herbie Hancock) oder »Return to Forever« (Chick Corea) -- mit Rock-Rhythmen und mächtigen Elektroverstärkern das junge Pop-Publikum anlockten, ist der Jazz vom Altenteil zurück.

Plattenaufnahmen dieses manchmal »Fusion Music«, manchmal Jazz-Rock genannten Elektro-Jazz erreichen zuweilen Millionenauflagen -- so etwa LPs des Gitarristen George Benson oder des Pianisten Hancock. Doch auch die Tonträger-Umsätze aller anderen konventionellen und modernen Spielarten haben sich in den letzten Jahren vervielfacht.

Zwar lassen sich manche erfolgreichen Rock-Jazzer nur ungern unter dem Etikett Jazz plakatieren, auch spielen sie lieber zusammen mit Rockbands in Mammut-Arenen statt mit Swing-Kollegen in kleinen Hallen. Ihre Massenmusik hat jedoch vielen Teens und Twens den Zugang zum Jazz ermöglicht und deren Gehör an instrumentale Klänge gewöhnt.

Noch vor zehn Jahren wurde ein renommiertes Jazz-Quintett mit weniger als 1000 Dollar pro Auftritt abgespeist. Jetzt verdient die gleiche Combo zwischen 3500 und 5000 Dollar pro Konzert -- und viel mehr, sofern das Ensemble gerade eine Hit-Schallplatte aufzuweisen hat. Vor zehn Jahren kämpften in New York knapp zehn Jazzlokale ums Überleben, derzeit florieren mehr als 80.

In manchen von ihnen, etwa im »Sweet Basil« an der SoHo benachbarten Seventh Avenue, werden einzelne Neutöner aus den Loft-Gettos schon heute von zahlungskräftigen Gästen bejubelt.

Schlagzeuger Rashied Ah hat seine Loft »All"s Alley« an der Greene Street mit Alkohol-Lizenz, Tischen und Stühlen jüngst in ein Restaurant umgewandelt, in dem er auch Südstaaten-Gerichte serviert -- das ist wohl der Trend.

»Die Zeit, in der wir ständig auf unsere Existenz aufmerksam machen mußten«, sagt John Fischer, »ist vorbei. In 30 Jahren wird die neue Musik genauso aus den Radios dudeln wie heute Swing und Pop. Und wir werden stolz sein können, daß sie in unseren Lofts aufgepäppelt worden ist.«

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