Londons billigstes Vergnügen
Ein Plakat in der Londoner Untergrundbahn, das für »Dauerwellen zu Hause« wirbt, führt hübsche Zwillinge vor. Der Beschauer hat zu erraten, welcher von beiden seine Haare selbst gekräuselt und welcher den Friseur zu Hilfe gerufen hat. Natürlich ist ein Unterschied nicht zu entdecken.
Eine ähnliche Frage erhebt sich auf einer Ausstellung, die in der Academy Hall, Oxford Street, veranstaltet wird. Sie steht unter dem provozierenden Titel »40000 Jahre moderner Kunst«.
Die Expressionisten, die Surrealisten, die Kubisten werden von der großen Menge der Engländer weiter als Verrückte der Modernen abgelehnt. Die Ausstellung soll zeigen, daß ihre Einfälle ein altes, anerkanntes Gegenstück haben, und zwar in der Kunst der primitiven Völker. Dem Fachmann sagt sie damit nichts Neues. Aber die 20000 zahlenden Besucher, die in sechs Wochen durch die Halle wandelten, fanden es doch belehrend.
Das »Institut der Zeitgenössischen Künste« hatte interessantes Material zusammengestellt. Die seefahrenden Engländer haben auf ihren Reisen mehr primitive Kunstwerke nach Hause gebracht als irgendein anderes Volk. Privatsammler und Museen waren mit Leihgaben hervorgetreten. Man erfuhr dabei mit Erstaunen, was für Schätze das völlig unbekannte Museum des Badeortes Brigthon birgt.
Das Frobenius-Institut in Frankfurt half mit Kopien von Felsmalereien in Afrika und Australien aus. Skulpturen des prähistorischen Europa kamen hauptsächlich aus dem britischen Museum und aus dem Ashmolean in Oxford. Frankreich schickte Kopien der zierlichen Höhlenmalereien von Aurignac, aus der Zeit 30000 bis 80000 v. Ch. datierend.
All diesen Masken, Skulpturen und Malereien aus dem versunkenen Europa, aus Afrika, Australien, Melanesien und dem primitiven Amerika wurden Gemälde und Statuen der Neuzeit entgegengesetzt. Prunkstück war Pablo Picassos Monumentalgemälde »Les Demoiselles d'Avignon«, vom New Yorker Museum für moderne Kunst entliehen, vor 40 Jahren gemalt, angeblich das wertvollste Bild dieses Jahrhunderts.
Auch Braque, de Chirico, Chagall, Matisse, Joan Miro, Henry Moore, Modigliani und Sutherland waren unter den Malern vertreten, von Mitteleuropäern Max Ernst, Paul Klee, Max Pechstein und Schmitt-Rottluff. Unter den modernen Bildhauern überwogen die Engländer: der viel bewunderte, aber wenig geliebte Henry Moore und der in England naturalisierte Pole Henri Gaudier-Brzeska.
Die Veranstalter hatten die Ausstellung raffiniert angelegt. Lichteffekte und farbiger Hintergrund unterstrichen die Reize. In der Halle waren Inseln aus Kieselsteinen errichtet, aus denen an Stelle der Bäume Sockel für die Skulpturen oder Leinwandschirme zum Aufhängen der Bilder wuchsen.
Die distanzierten von dem Straßenverkehr draußen, man fühlte sich auf offenem Meer. Außerdem behinderten sie die Ueber-Enthusiasten, die Ausstellungsobjekte zu betätscheln.
Ebenso wie bei dem Untergrundplakat konnte man mit dem Raten beginnen: alt oder neu? Die beiden Hauptelemente waren nämlich nicht säuberlich voneinander geschieden, sondern hingen oft nebeneinander: ein Klee neben einer Malerei auf Rinde aus Neuguinea, eine afrikanische Negermaske neben einer massigen Figur aus dem heutigen Europa. Wer moralisch stark genug war, nicht in den Katalog zu schielen, konnte sich selbst prüfen*).
Im allgemeinen fielen die Antworten nicht schwer. Die primitive Kunst und die dieser Tage sind nun einmal keine Zwillinge.
*) Der Londoner Korrespondent des »Spiegel« führte dies heitere Spiel bei der ersten Hälfte der 191 Ausstellungsobjekte durch. Er fiel zweimal hinein. Die Regenwürmer auf Rinde aus Neuguinea hielt er für eine Phantasie à la Klee. Die starke Linienführung einer prachtvollen hölzernen Hyänenmaske von der Elfenbeinküste schrieb er bedenkenlos unserem Zeitalter zu. Es bestehen Aehnlichkeiten der Form, aber der Inhalt ist grundverschieden.
Es wird zwar versucht, eine Identität des seelischen Grundgehalts herauszuarbeiten: die Urangst. Aber menschlich läßt sich das schwer glauben. Auch wenn Europäer die gleichen Gefühle haben mögen wie der Neger im Busch, gelangen sie doch auf so völlig anderen Wegen dahin, daß es doch nicht die gleichen Gefühle sind.
Und künstlerisch bestätigt eben diese Ausstellung den Unterschied. Die Primitiven kannten keinen anderen Stil und waren daher in ihrer Ausdrucksform sicherer als der Künstler von heute, der Renaissance und Impressionismus überwinden, aber nicht vergessen kann.
Die Ausstellung fiel mit den Saison-Ausverkäufen in den Warenhäusern der Oxford Street zusammen. »Wenn die Leute fanden, daß die annoncierten billigen Blusen Schund waren, dann kamen sie zu uns«, sagte einer der Veranstalter. »Wir bieten das billigste Vergnügen in London.«