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DEUTSCHLAND-DIALOG Luft heraus

aus DER SPIEGEL 16/1965

Immer hackst du auf Deutschland herum. Die Schuld der anderen siehst du nicht«, beklagt sich ein deutscher Sohn bei seinem deutschen Vater. Er rügt: »Ost-Berlin hat einen billigen Propagandisten an dir.« Und er versichert: »Wenn du so auf dem Schlesiertag sprächst - ich könnte verstehen,

wenn sie dich in den Rhein würfen.«

Aber nicht einmal die Aussicht auf einen politischen Rheinwurf kann den Vater beirren. Denn er gehört, wie der Junge weiß, zu den »nationalen Bußpredigern«, den »intellektuellen Meckerern«, und er hat sich zudem vorgenommen, auch seinem weniger bußfertigen Sohn das Meckern zu predigen.

So setzen sich denn Vater und Sohn zu Deutschland-Gesprächen an einen Tisch - der Vater mit der Skepsis eines gebrannten Kindes, dem kein nationales Gut mehr heilig ist, das Kind mit einer Obrigkeitsgläubigkeit, wie sie früher eher Vätern eigen war.

Titel dieser 103 erdachten Dialoge, die ursprunglich bei Suhrkamp erscheinen sollten, nun aber, mit einem Nachwort des Suhrkamp-Lektors Walter Boehlich, im Walter-Verlag erschienen sind: Ȇber Deutschland"*.

Autor der politischen Dialog-Fibel, deren Form - nicht Gesinnung - an Heinrich von Kleists »Katechismus der Deutschen"** erinnert: Richard Matthias Müller, 39, Doktor der Philosophie und Studienrat in Köln am Rhein.

Müller hat 1959 schon einmal ein Buch - seine Dissertationsschrift - veröffentlicht, dessen Titel klassisch-deutschen Philologengeist verrät: »Die deutsche Klassik. Wesen und Geschichte im Spiegel des Strommotivs«. Dennoch hat er mit dein Gros selber philologischen und pädagogischen Berufskollegen von

einst und heute wohl nicht viel gemeinsam. Immer, so wenigstens urteilt sein väterlicher Dialog-Held, hätten diese »eigentlich tragischen Gestalten der deutschen Geschichte«, die Lehrer, »die Dinge, wie sie gerade waren, tapfer begründet und ruhrend verteidigt«.

Müller hingegen, der als minderjähriger Luftwaffenhelfer, Reichsarbeitsdienstmann und Reserveoffiziersbewerber den Krieg überlebte, nimmt an den westdeutschen Dingen mancherlei Anstoß. Der Vater seines Buches, das den traditionellen Generations-Gegensatz - alt gleich reaktionär, jung gleich rebellisch - umkehrt, verteidigt nicht, er verwirft und provoziert. Der Sohn jedoch (Müller, Vater eines Sohnes von drei und einer Tochter von neun Jahren: »Ich schätze ihn auf siebzehn, achtzehn") läßt auf Westdeutschlands Staat und dessen Diener nichts kommen. Nachwortschreiber Boehlich: »Der Sohn, so närrisch klingen mag, was er vorbringt, hat das offizielle Deutschland für sich.«

Offiziell oder nicht - dieser deutsche Jüngling jedenfalls, der NS-Regime und Weltkrieg nicht erlebt hat, mag sich mit deutscher Kriegsschuld sowenig abfinden wie mit »Schandmauer« und Oder -Neiße-Grenze. Er teilt das »Leid der sieben Millionen Vertriebenen« und sinniert: »Ganz von ungefähr kommt es nicht, daß die Juden überall verfolgt werden ... Überall drängen sie sich vor und nehmen den andern die besten Stellen weg.«

»Unser Lehrer«, sagt der Sohn, »hat gesagt, wir seien trotz allem das Volk, das Goethe, Schiller, Beethoven, Luther, Hölderlin, Bismarck, Kant, Hegel und Lessing hervorgebracht habe. Das sollen uns die andern erst einmal nachmachen!«

Und auch andere angehörte und angelesene Phrase gehen ihm leicht von den Lippen. Er tönt als Sprachrohr aller in Deutschland gängigen Klischees, erinnert an die »Schmach von Versailles« und das »Volk ohne Raum«, ist gegen Hochhuths »Stellvertreter« und die DFU ("Einmal Kommunist, immer Kommunist"), will keine »zersetzende«, sondern »positive Kritik«, ist für Ruhe und Ordnung ("Die Ordnung ist eben solch ein Wert für die Menschen wie die Freiheit"), mag »nicht dulden, daß gegen unsere Regierung gelogen und gehetzt wird«, und möchte um jeden Preis »unseren Abwehrwillen gegen ein System der Unfreiheit« stärken.

»Wie können Deutschlands Wunden heilen, wenn ihr nicht Ruhe gebt«, so tadelt dieser junge Neo-Nationalist, der den 17. Juni begeht, seinen defätistischen Vater, der - wie zuvor Autor Müller in einem Leserbrief an die »FAZ« - den Kapitulationstag als Nationalfeiertag vorschlägt.

Und wenn alle Argumente versagen, bleiben dem Sohn immer noch Vorschläge dieser Art: »Warum gehst du bei deiner Einstellung nicht in die Ostzone? ... Du tust deinen Mund nicht auf, ohne die Bundesrepublik schlechtzumachen oder die Kommunisten zu rechtfertigen ... Wieso zieht dich deine Wahrheit nicht nach Pankow?«

Vaters Gegenfrage: »Steht es mit der Bundesrepublik so schlimm ... daß ein Wahrheitsliebender besser nach Pankow geht?«

Ähnlich reagiert der Vater auch auf andere Sentenzen des Sohnes. Er beantwortet dessen Phrasen mit ironischen Spitzfindigkeiten, Übertreibungen und Sinnverdrehungen, denn er will wohl gar keine Wahrheiten finden, er will vielmehr Unwahrheiten aufdecken und

- so Boehlich - »lediglich aus diesen

Fragen, die unsere Sonntagsredner 'Lebensfragen' zu nennen gewohnt sind, etwas Luft herauslassen«.

So stimmt er beispielsweise zu, daß »die Vergangenheit endlich begraben« werden sollte: »Und jeder wird bestraft, der noch an die Vergangenheit erinnert ... Wer Hitler lobt: zwei Jahre Gefängnis. Wer sagt, die Nazis haben Europa vor dem Kommunismus geschützt: zwei Jahre Gefängnis. Alle ehemaligen Nazis werden aus den leitenden Stellungen entlassen: Sie erinnern uns an die Vergangenheit.«

Er bringt auf seine Weise auch Verständnis für Heimatvertriebene auf: »Weißt du, es geht mir schon nah ... So ein Münchner in Hamburg ist ja auch zu bedauern.«

Der Vater ist für Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze und für Anerkennung der DDR, er ist sogar für die »Zweistaatenkonföderation": »Nichtangriffspakt. Gemeinsame Manöver: Bundeswehr - Volksarmee: Blau und Rot! Sind doch alles Deutsche! Zur Entkrampfung, wie gesagt. Höherer Jux.«

Vor allem aber ist er gegen die »alten Fundamente« und für »das Neue«

für »Humanitätsgefasel, Gefühlsduselei Nestbeschmutzung, Defätismus, Wehrkraftzersetzung, Sklavenmoral, Verzichtpolitik, Erfüllungspolitik, Anti -Annexions-Hetze, Selbstzerfleischung«.

Er hält es außerdem für wichtiger, »alle wehrpflichtigen Deutschen zu zweijährigen Widerstandsübungen statt zu zweijährigen Gehorsamsübungen einzuberufen« - zu Widerstandsübungen »gegen Regierungslügen und Volksfront -Tricks, gegen diktatorische Gesetze und willkürliche Polizeiaktionen, gegen Volkseinschüchterung und Machtergreifung, gegen Rechtsbeugung und Minderheitendiskriminierung«.

»Ich sehe«, murrt der Sohn, »du willst jeden Deutschen zu einem Michael Kohlhaas machen ... Jeder Deutsche ein Querulant!«

Müllers erfrischende Staatsbürgerkunde drückt mit ihren fiktiven Dialogen besser und konzentrierter aus, was mancher wohlmeinende Leitartikel in fahles Pathos, mancher sogenannte zeitkritische Roman schwerfällig in Handlung verpackt.

»Regierung, Opposition und Verfassungsgericht«, belehrt schließlich der Vater den Sohn, »werden verkommen in Korruption und Diktatur, wenn sie nicht ein Volk hinter sich spüren, das Augen im Kopf und Haare auf den Zähnen hat.«

Sagt der Sohn zum Vater: »Alle Parteien, ob sie der Regierung oder der Opposition angehören, stimmen darin überein, daß sie anderer Meinung sind als du.«

* Richard Matthias Müller: »Über Deutschland, Walter-Verlag, Olten; 174 Seiten; kartoniert 9,80 Mark.

* In seinem »Katechismus der Deutschen« (1809) läßt Kleist einen Vater seinen Sohn in Napoleon-Haß und Nationalgefühl examinieren: »Du liebst dein Vaterland, nicht wahr, mein Sohn? - Ja, mein Vater; das tue ich. - Warum liebst du es? - Weil es mein Vaterland ist.«

Schriftsteller Müller

»Jeder Deutsche ein Querulant!«

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