H. M. Enzensberger über S. Giedion: »Die Herrschaft der
An einem wolkenlosen Vormittag im Herbst 1785 setzte der dreißigjährige Mechanikus Oliver Evans, ein vierschrötiger Mann mit blauroter Gesichtsfarbe, am Redclay Creek in den Wäldern von Delaware eine sonderbare, drei Stockwerk hohe Vorrichtung aus Holz und Eisen in Betrieb, die er mit eigenen Händen erbaut hatte: eine Mühle ohne Müller, die erste vollautomatische Produktionsanlage der Welt. Das komplizierte System von Aufzügen, Förderbändern, Becherwerken und Mehlschrauben wurde vom Eigengewicht des Mahlgutes in Gang gehalten. Kontinuierlich und ohne den Zugriff einer menschlichen Hand wurde das Getreide transportiert, gekoppt, gemahlen, gekühlt, gesichtet, gebeutelt und verladen.
Die Mühle, die sich damals, in einem abgelegenen Winkel der Neuen Welt, ächzend und scheppernd in Bewegung gesetzt hat, muß den Zeitgenossen vorgekommen sein wie die Ausgeburt eines kranken Gehirns.
Fachleute, die den menschenleeren Automaten begutachten sollten, nannten ihn einen »Klapperkasten, der die Aufmerksamkeit eines vernünftigen Mannes nicht verdient«. Zweihundert Jahre später, bei grob gerechnet fünfzig Millionen Arbeitslosen in den Industriezonen der Welt, werden wir das Lebenswerk des Oliver Evans wohl etwas ernster nehmen müssen.
Über die Figur des Erfinders wissen wir nicht allzuviel, außer daß er ein gelernter Stellmacher war, ein Hinterwäldler, ein Eigenbrötler, ein jähzorniger Autodidakt, der nie eine höhere Schule von innen gesehen hat. Als junger Mann soll er einen neuen Apparat zum Kratzen von Wolle und Baumwolle entworfen haben; nebenher erfand er die erste brauchbare Eismaschine der Welt; und in Philadelphia, das damals noch eine bukolische kleine Siedlung war, stellte er den verblüfften Bürgern eines Tages einen amphibischen Bagger vor. Das fünfzehn Tonnen schwere Gefährt trug eine Hochdruck-Dampfmaschine auf dem Rücken und war mit einer Pumpe, einem Paddelrad und einem endlosen Band versehen, das die Schöpfeimer trug.
Wir stellen uns den Erfinder vor, wie er stolz am Steuer steht, sein unförmiges Fahrzeug bis zur Schiffslänge dirigiert, mit einem Hebelgriff die vier Wagenräder abwirft und flußabwärts dampft, bis er hinter einer Biegung des Delaware-Flusses unseren Blicken entschwindet.
Die Mühle ohne Müller, von der sich nur ein paar Konstruktionszeichnungen erhalten haben, wirft eine ganze Reihe von Fragen auf. Wie ist dieses rätselhafte Objekt entstanden? Was waren seine Voraussetzungen? Was war sein Zweck? Und was waren seine Folgen?
Oliver Evans war schon lange tot, und seine Mühle war längst vermodert, als sich endlich jemand daran machte, diese Fragen zu beantworten. Mitten im Zweiten Weltkrieg schrieb ein Schweizer Gelehrter namens Sigfried Giedion ein Buch über die Mechanisierung der Welt. Giedion war, genau wie Evans, ein Außenseiter, ein eigensinniger Selbstdenker, und genau wie Evans war er seiner Zeit weit voraus. Ein Indiz dafür ist die Tatsache, daß es 34 Jahre lang gedauert hat, bis sein Buch, 1948 in den USA und in England erschienen, in die Sprache des Autors (zurück) übersetzt wurde; die deutsche Fassung, ein voluminöser, herrlich illustrierter Band, ist außergewöhnlich sorgfältig ediert.
Giedion ist 1888 als Sohn eines Fabrikanten aus der Textilbranche in Brünn geboren. Seine wissenschaftliche Karriere ist höchst ungewöhnlich. Er hat Maschinenbau und Kunstgeschichte studiert - eine Kombination von Interessen, die seinen Fachkollegen skandalös erschienen sein muß. Noch ärger war das Verhältnis von Theorie und Praxis, das Giedion seiner Arbeit zugrunde legte. Weil ihm die Produkte der schweizerischen Möbelindustrie nicht gefielen, gründete er eine Firma, ließ bessere Stühle, Lampen, Tische entwerfen, herstellen und vertreiben.
Statt seine kunsthistorischen Kenntnisse - er hatte bei Wölfflin promoviert - in die Seminare zu tragen, erweiterte er sie in den Ateliers der Surrealisten. Sein brennendes Interesse an Architektur und Urbanistik äußerte sich nicht nur in seinen Schriften, es führte ihn zum Bauhaus und in das Studio Le Corbusiers. Er war Forscher und Unternehmer, Techniker und Journalist, Organisator und Historiker, Reporter und Archäologe zugleich.
Seine Tätigkeit muß die Professoren seiner Zeit gründlich erschreckt haben; denn sie bedrohte ihre heiligsten Grundsätze. Es ist deshalb auch kein Wunder, daß ihm die Schweizer Hochschulen erst nach dem Zweiten Weltkrieg, eher widerwillig, die Möglichkeit eröffnet haben, seine Kenntnisse weiterzugeben; 1948, in einem Alter, da andere an ihre Emeritierung denken, wurde Giedion Privatdozent in Zürich.
»Man schrieb bisher viel zuviel über die Wissenschaften und viel zuwenig über die mechanischen Künste. Das hat uns veranlaßt, auf die Handwerker zurückzugreifen. Wir machten uns die Mühe, sie in ihren Werkstätten aufzusuchen, sie auszuforschen, nach ihrem Diktat Aufzeichnungen zu machen oder Denkschriften von ihnen zu erlangen. Wir mußten uns sogar öfters Maschinen verschaffen, sie aufstellen, selber Hand anlegen, sozusagen Lehrlinge werden und schlechte Werkstücke machen, um anderen zu zeigen, wie man richtige macht. So überzeugten wir uns von der Unkenntnis, in der man sich den meisten Gegenständen des Lebens gegenüber befindet, und von der Notwendigkeit, aus dieser Unkenntnis herauszukommen.«
Man muß bis auf Diderots »Prospekt der Enzyklopädie« (1750) zurückgehen, um einen Präzedenzfall für Giedions Vorgehen zu finden. Als er sich an seine Pionierarbeit machte, durchmusterte er zunächst die Bibliotheken, in der Hoffnung, sich auf die Forschungen seiner S.198 Vorgänger zu stützen. »Bald jedoch bemerkte ich, daß das unmöglich war. Über weite Strecken gab es keinerlei Vorarbeiten. Es war mir zum Beispiel nicht möglich, eine einzige Darstellung so revolutionärer Vorgänge wie der Entwicklung der Bandproduktion oder der Einführung mechanischen Komforts und seiner Geräte in unsere intime Umgebung zu finden. Ich mußte also auf die Quellen zurückgehen.«
Diese Primärquellen aber waren in keiner Universitätsbibliothek zu finden. Sie gehörten zum vergänglichen Abfall der Industriegesellschaft. Wie ein Detektiv mußte Giedion die Papierkörbe des neunzehnten Jahrhunderts durchwühlen, um die Reklamebroschüren, Patentschriften und Verkaufskataloge längst untergegangener Firmen aufzuspüren; und wo die gedruckten Quellen ihm nicht genügten, fand er andere Mittel, um an das Material, das er brauchte, heranzukommen.
Er versandte zum Beispiel Hunderte von Fragebogen an die amerikanischen Hersteller von Badewannen und Sanitärbedarf. Wo es nötig war, wurde der Gelehrte, wie Diderot, zum Reporter, zum »Lehrling«. Er sah sich auf dem Werksgelände des Landmaschinenkonzerns McCormick um, probierte auf einer Farm in Neu-England einen neuartigen Mähdrescher aus und studierte die Mechanisierung des Todes in den Schlachthöfen von Chicago.
Um aber noch einmal auf Oliver Evans zurückzukommen, den Müller, der sich gewissermaßen selbst abgeschafft hat ... Seine Mühle ist natürlich nicht vom Himmel gefallen. Einige ihrer Bauelemente lassen sich bis auf die Antike zurückführen, so zum Beispiel die Eimerkette, die im Orient, von China bis nach Ägypten, für Bewässerungszwecke benutzt worden ist. Der Kunsthistoriker Giedion kann sogar eine Zeichnung von Pieter Breughel nachweisen, auf der zu sehen ist, wie man 1561 in Holland einen Kanal ausgeschachtet hat; deutlich ist auf dem Bild zu erkennen, wie die Eimerkette als Bagger wirkt. Und in einem technischen Tafelwerk der Spätrenaissance findet Giedion eine »Maschine zum Heben von Wasser mittels der archimedischen Schraube«. Neuartig und sensationell an dem Evansschen Entwurf sind also nicht die einzelnen Teile, neu ist ihre Integration zu einem Werk, das den Menschen als Produzenten ausschließt.
Stufe um Stufe zeigt Giedion nun, wie sich dieses Prinzip im Laufe der technischen Evolution durchsetzt. Er gräbt Dokumente aus, die eine Zwieback-Manufaktur in England, eine Werkzeugmaschinenfabrik in der Schweiz und ein Fließbandsystem in den Schlachthäusern von Cincinnati zeigen - Vorläufer des Fordschen Montagebandes und der vollautomatischen Fertigungsstraßen in der heutigen Automobilindustrie.
Schwerer ist die Frage zu beantworten, was Evans, diesen »einsamen und prophetischen Geist«, eigentlich veranlaßt hat, seinen »hölzernen Müller« zu erfinden und zu bauen. In Amerika gab es gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts keine eigentliche Industrie. Billige Arbeitskraft war reichlich vorhanden. Kapitalistisches Kalkül oder gar Rationalisierungsdruck kann deshalb als Erklärung für das Projekt des Oliver Evans nicht dienen. Seiner Arbeit fehlt jedes ökonomische oder soziale Motiv. Hat er sie aus Übermut unternommen? Hat er ein Spielzeug gebaut, aus keinem anderen Grund, als daß es ihm technisch denkbar schien? Oder steckte unausdrücklich und dunkel doch eine Utopie dahinter: die Abschaffung der Arbeit? Das ist eine Frage, die sich Evans nicht gestellt hat und die auch Giedion letzten Endes nicht beantworten kann.
Fest steht dagegen, daß die Idee, den Menschen aus dem Produktionsprozeß zu entfernen, zuerst als zweckfreie Bastelei, als geniale Marotte aufgetaucht ist. Giedion nennt Pionierleistungen dieser Art »Vorratserfindungen«, und er kann zeigen, daß sie eher die Regel als die Ausnahme sind. Der Gedanke, daß sein Automat nicht nur die Arbeit, sondern auch den Arbeiter überflüssig machen würde, lag dem Müller von Philadelphia fern. Hinter dem biologischen und dem historischen Prozeß zeichnen sich die Umrisse einer dritten Evolution ab, einer Evolution der technischen Geräte, S.199 die ebenso bewußtlos wie die beiden ersten verläuft. Der Erfinder ist nichts weiter als ihr blinder Handlanger.
Die Naturgeschichte der Technik gleicht einem riesigen, kaum erforschten Dschungel. Sigfried Giedion erhebt nicht den Anspruch, ihn im ganzen zu vermessen und zu kartographieren; er schlägt nur, beispielshalber, einige Schneisen in das unbekannte Terrain. Immer wieder betont er dabei, daß es ihm darauf ankomme, eine »anonyme Geschichte« zu schreiben, deren Protagonisten sich nur ausnahmsweise dingfest machen lassen.
Der Erfinder als Held verschwindet in einer unüberschaubaren Menge von Handwerkern, Tüftlern, obskuren Geschäftsleuten und Ingenieuren. Gerade am unscheinbaren, übersehenen Detail erweist sich, was ein Historiker taugt und wie tief sein diagnostischer Blick reicht. »Auch in einem Kaffeelöffel spiegelt sich die Sonne«, sagt Giedion in einer Maxime, die es verdient, berühmt zu werden.
Auch das Schloß hat seine Geschichte, auch das Fleisch, das Eis und das Brot; der Autor verfolgt sie von der Gotik bis zur Gegenwart. Er ist also keineswegs auf den industriellen Prozeß im engeren Sinn fixiert, und er beschäftigt sich nicht nur mit modernen Entwicklungen wie der des Schlafwagens oder der künstlichen Befruchtung. Diese historische Reichweite verleiht seinen Längsschnitten durch die Geschichte des Mähens, des Sitzens, des Badens und des Backens einen eigentümlichen Reiz.
Manchmal kann man den Eindruck haben, daß sich Giedion in der Fülle des Skurrilen verliert. Mitten in einer Abhandlung über die Patentmöbel des neunzehnten Jahrhunderts findet sich eine Rhapsodie auf die Hängematte, und es ist zunächst nicht klar, was das Loblied auf dieses indianische Möbel bedeuten soll. Aber bald stellt sich heraus, daß Giedion die Leichtigkeit, Beweglichkeit und Eleganz der Hängematte hervorhebt, um gegen die schwerfälligen, monströsen Möbel des »herrschenden Geschmacks« zu polemisieren und die Fähigkeiten ihrer anonymen Erfinder gegen die Herrschaft der Tapezierer auszuspielen. Er sieht hier eine spezifisch amerikanische Denkweise am Werk.
Um diesen Gedanken plausibel zu machen, konfrontiert er die Hängematte den Mobiles von Alexander Calder. Derart kühne Gegenüberstellungen findet man in seinem Buch auf Schritt und Tritt. Eine Skizze von Paul Klee steht neben einem Trickphoto des amerikanischen Rationalisierungsfachmanns Frank B. Gilbreth, das einen komplizierten Bewegungsablauf der Analyse zugänglich macht, und der Patentstuhl eines französischen Erfinders kehrt in einer Collage von Max Ernst wieder.
Überhaupt zeigt sich schon beim ersten Durchblättern dieses kiloschweren S.200 Bandes, daß hier eine seltene visuelle Intelligenz am Werk war. Giedion hat einen Typus des Bilderbuches entwickelt, der ebenso lehrreich wie amüsant ist. Ich könnte mir einen Leser vorstellen, der sich damit begnügen würde, die über fünfhundert Abbildungen zu studieren. Die Bildlegenden sind so souverän und exakt abgefaßt, daß er dabei durchaus auf seine Kosten käme. In diesem Sinn hat Stanislaus von Moos ganz recht, wenn er »Die Herrschaft der Mechanisierung« in seinem Nachwort als »roman illustre der Industriekultur« bezeichnet.
Sigfried Giedion verschont uns mit dem Höhenflug der Kunstgeschichte, der Borniertheit der Technologie und dem Lamento der Kulturkritik. Er schafft eine ungeheure Menge von Material heran. Sein Respekt vor den Tatsachen rückt ihn in die Nähe des Positivismus. Wenn er dennoch nicht der Stoffhuberei verfällt, dem bloßen Sammeleifer, so liegt das daran, daß er Objektivität nicht mit dem Verzicht auf eigenes Denken verwechselt. Sein Positivismus ist phantastisch, erratisch und interessiert; er verfolgt immer eine praktische Absicht.
Man hat seinem Werk gelegentlich vorgeworfen, daß es lückenhaft sei. Tatsächlich hat Giedion weite Felder seines Themas einfach ausgespart. Der auffälligste Mangel seines Buches ist, daß die Industrialisierung des Bewußtseins fehlt. Weder die Drucktechnik noch der Film, weder das Telephon noch die Rechenmaschine kommen darin vor. Auch die Mechanisierung der Rüstung, der Medizin und des Verkehrs wird nicht erörtert. Indessen gehen solche Einwände an der Methode Giedions vorbei, die nicht auf Vollständigkeit zielt, sondern exemplarisch verfährt.
Bleibt die Frage nach dem »Standpunkt« dieses Autors, eine Frage, die in Deutschland nach wie vor unvermeidlich scheint und die letzten Endes auf die Zumutung hinausläuft, jeder, der sich öffentlich äußert, möge sich gefälligst selber an das Kreuz irgendeiner Ideologie nageln.
Mit Giedion wird man es in dieser Beziehung schwer haben. Zwar hat er sich in den 20er und 30er Jahren für das »Projekt der Moderne« äußerst tatkräftig engagiert, vor allem auf dem Gebiet der Kunst. Er war jahrzehntelang Generalsekretär des CIAM, einer einflußreichen Gruppe von Architekten, deren führende Mitglieder Gropius, Le Corbusier und Alvar Aalto hießen. Von daher erklärt sich sein Affekt gegen das Ornament, den er mit Loos und mit den Funktionalisten teilt. Auch in der »Herrschaft der Mechanisierung« spielt diese bete noire der Moderne eine wichtige Rolle; sie taucht dort unter dem Stichwort »herrschender Geschmack« auf. Gemeint sind, wie Giedion in einer inspirierten Bemerkung sagt, »jene transitorischen Erscheinungen, die die Gefühle der Massen absorbieren, wie die Nachbildungen, die bei der künstlichen Befruchtung den Samen des Stiers aufnehmen«.
Giedion trat also für die Thesen der Moderne ein; aber er unterschrieb damit keine Doktrin. Die Geringschätzung der Geschichte, die blinde Fortschrittsgläubigkeit, der stupide Maschinenkult und der kahle Optimismus - Züge, die das Neue Bauen von Anfang an entstellt haben und bei seinen Epigonen zur fixen Idee wurden - waren ihm fremd.
In seinem Vorwort zur Ausgabe von 1948 heißt es: »Spätere Epochen werden diese Zerstörungsakte, diesen Mord an der Geschichte, nicht verstehen.« Der Satz bezieht sich auf den Gedächtnisschwund der amerikanischen Industrie, aber er könnte auch auf den neuen »herrschenden Geschmack« des Wiederaufbaus gemünzt sein. Besser als seine Weggenossen hat Giedion die abgründige Ambivalenz der Mechanisierung begriffen. Er wollte das Dilemma der Industrialisierung nicht verklären, sondern so deutlich wie möglich artikulieren.
Daß er seinen eigenen Einsichten philosophisch nicht ganz gewachsen war, mögen ihm andere vorwerfen. Zugegeben, wenn er fordert, die »Kluft zwischen Denken und Fühlen« müsse endlich überwunden werden, so wirkt dieser Appell hilflos und naiv, und wenn er behauptet, die Mechanisierung sei »neutral. Alles hängt davon ab, wie man sie gebraucht«, so fällt er hinter seine eigenen Einsichten zurück.
Die nüchternen Ahnungen dieser Schrift reichen dort am weitesten, wo ihr Autor spezifisch wird; dort, wo er den Widerspruch zwischen Mechanisierung und lebender Substanz historisch untersucht. Dabei setzt er verhältnismäßig harmlos an, nämlich bei den Versuchen S.201 zur industriellen Brotherstellung. In der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts stellte sich heraus, daß das Mehl und der Teig hochempfindliche Gebilde sind, die der industriellen Verwertung einen eigentümlichen Widerstand entgegensetzen. Minuziös beschreibt Giedion die hartnäckigen Versuche der Ingenieure, diesen Widerstand zu brechen. Dieser Kampf ums Brot hat sich lange hingezogen. In Amerika haben bekanntlich die Techniker gesiegt; in Europa ist die restlose Abschaffung des Brotes bis heute nicht gelungen.
Einen Schritt weiter geht Giedion bei dem Versuch, die Geschichte der »wissenschaftlichen Betriebsführung« aufzuklären. Die Pioniere der Zeit- und Bewegungsstudien, von Taylor bis zum MTM-System, haben untersucht, bis zu welchem Grad der menschliche Körper »in einen Mechanismus verwandelt werden kann«. Giedion schreckt nicht davor zurück, die Rationalität, die hier am Werk ist, bis in den Schlachthof zu verfolgen. Auch beim Einfangen, Aufhängen, Enthaaren und Enthäuten hatten die Ingenieure mit der Widerspenstigkeit des »organischen Materials« zu kämpfen. Aus diesem Grund gibt es bis heute keine vollautomatisierten Schlachtanlagen.
Gleichwohl hat die Technik des Tötens enorme Fortschritte gemacht; sie »hat sich im großen Maßstab erst im Zweiten Weltkrieg gezeigt, als ganze Bevölkerungsschichten, wehrlos gemacht wie das Schlachtvieh, das kopfabwärts am Fließband hängt, mit durchtrainierter Neutralität ausgetilgt wurden«. Mit einer solchen Betrachtungsweise, die auf den strukturellen Kern unserer Zivilisation zielt, läßt Giedion die Bewältigungsdebatten, die in den fünfziger Jahren üblich waren, weit hinter sich.
Seine ebenso richtige wie aussichtslose Schlußfolgerung lautet: »Die Mechanisierung hat vor der lebenden Substanz haltzumachen ... Dies fordert eine Einstellung, die sich von der Idolatrie der Produktion radikal abwendet.« Mit diesem Satz, der vor vierzig Jahren geschrieben wurde, ist der Historiker der industriellen Zivilisation bei einem zentralen Postulat aller ökologischen Bewegungen angekommen.
Nach wie vor scheint zu gelten, daß es Jahrzehnte dauert, bis im Betrieb der Gesellschaftswissenschaften der Groschen fällt. Inzwischen ist der Historiker selbst historisch geworden. Sigfried Giedion, der 1968 starb, ist wie Norbert Elias und Walter Benjamin ein Anthropologe, der uns lehrt, in den Eingeweiden unserer Zivilisation zu lesen. Über eine vollständige Theorie verfügt er nicht. Es liegt ihm fern, die Zukunft aus der Vergangenheit »abzuleiten«. Die allegorische Deutung ist nicht seine Sache. Gerade die Offenheit und Beweglichkeit seines Denkens, in dem das Unvorhersehbare nicht liquidiert wird, macht die Aktualität seiner Lehren aus.