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PHILOSOPHEN Macht Wissenschaft selig?

Kurt Hübner: »Kritik der wissenschaftlichen Vernunft«. Karl Alber, Freiburg München; 444 Seiten; 59 Mark.
aus DER SPIEGEL 42/1978

Alle Welt redet von Wachstumskrise, von Umweltverschmutzung und Atomtod. Das Unbehagen an der technischen Welt und ihrer instrumentellen Vernunft, die Menschen und Dinge technokratischen Sachzwängen unterwirft, ist zum Gemeinplatz geworden.

Nur eins scheint unbekannt zu bleiben: die Krisis der Wissenschaft selbst, einer Wissenschaft, die seit der Renaissance die Entstehung von Industriegesellschaften und deren immer perfektere Naturbeherrschung überhaupt erst ermöglicht hat.

So etwa urteilt ein international anerkannter deutscher Wissenschaftsphilosoph, der Kieler Ordinarius Kurt Hübner, 57. Vor kurzem ist sein Grundsatzwerk über jene Krisis erschienen, und zwar unter dem programmatischen Titel »Kritik der wissenschaftlichen Vernunft«.

Von der Idee einer für alle Zeiten und Zonen notwendig gültigen Vernunft trennt sich Hübner in seiner Kritik. Für ihn gibt es nur noch historische Vernunft. Sie entfaltet sich unter den konkreten Bedingungen geschichtlicher Situationen, von denen ihre Erkenntnisreichweite abhängig ist.

Mit dieser Wendung gegen den Absolutheitsanspruch der Vernunft widerspricht Hübner allen Versuchen, logisch-abstrakte Theorien der Erkenntnis, Wissenschaft und Forschung ohne Rücksicht auf die Geschichte zu entwerfen oder auch die Erfahrung zur heiligen Kuh der Wissenschaft zu machen.

Damit ist neben dem abstrakten Rationalismus auch der abstrakte Empirismus überholt. Auch »die« Erfahrung wird von Hübner nicht mehr zum Fundament der Wissenschaft erklärt -- wie es seit Francis Bacon Philosophen und Naturforscher zumal in Großbritannien und den USA getan haben.

Diese konsequente Historisierung der Naturwissenschaft trifft nun aber auch die populäre Vorstellung von der Wissenschaft gleichsam mitten ins Herz.

Denn im öffentlichen Bewußtsein hat eine geradezu frenetische Wissenschaftsgläubigkeit die Wissenschaft von heute in die Theologie von gestern verwandelt: »Wie man früher meinte, keiner werde selig ohne theologische Unterweisung. so glaubt man heute, niemand werde glücklich, er habe denn an einer Universität studiert.«

Die alleinseligmachende Rolle der Wissenschaft -- als Ideologie des Szientismus -- stammt laut Hübner aus der Aufklärung. Sie meinte, allein die Wissenschaft bahne den rechten Weg zur absoluten Wahrheit, nähere sich ihr (und damit dem wahren Wesen der Dinge) immer weiter an, vervollkommne sich ständig und stütze sich dabei ebenso auf »objektive Tatsachen« wie auf »notwendig geltende Grundsätze«.

* Zentrale des Atomkraftwerks Stade.

Von diesem Szientismus ist freilich -auch wenn ihn nach wie vor sogar Nobelpreisträger vom Blatt singen -- in den Erkenntnissen der modernen Wissenschaftstheorie nichts mehr zu spüren.

Schon Karl Popper hat immer wieder betont. daß es absolute Tatsachen nicht gebe, denn jede wissenschaftliche Beobachtung geschehe im Lichte von Theorien. Die Theorie hat damit die Priorität. Erfahrungen und Tatsachen sind nur als gedeutete. also nur in Abhängigkeit von einer bestimmten Theorie, wissenschaftlich begreifbar.

Hübner geht jedoch noch weiter. Für ihn sind nicht nur Beobachtung und Erfahrung von der Theorie abhängig. sondern auch jede Theorie mit den ihr eigenen Tatsachen und Grundsätzen von den Zeitläuften und Situationen der Geschichte.

Das Geschichtliche an einer wissenschaftlichen Theorie besteht also darin, daß ihre Grundsätze nicht mehr allgemein für alle Zeiten gültig sind. sondern laut Hübner »kontingente Festsetzungen darstellen, die sich aus bestimmten historischen Umständen ergeben und sich mit ihnen auch wieder verändern können.

Ändern sich die Festsetzungen, auf denen eine Theorie beruht, dann ändern sich auch die Theorien. Kommt es zu neuen Theorien, werden aber auch die alten Tatsachen geändert, nämlich »teils umgedeutet, teils ausgeklammert, teils überhaupt für bloßen Schein erklärt«.

Es ist nun ein entscheidender Gedanke Hübners. daß solche Übergangszeitalter wissenschaftlicher Revolutionen, die Festsetzungen und Theorien neu bestimmen, gleichsam im Zeitalter der modernen Technik kulminieren: Die Technik gilt ihm nämlich als einzige »permanente Revolution«.

Hübner nimmt hierbei die Rede von der »Verwissenschaftlichung« der Welt beim Wort. Für ihn ist die Technik dank der Kybernetik vollständig in Theorie, also in Wissenschaft, übergegangen. Die elementare Veränderung der Welt durch die Technik beruht also darauf, daß deren neue Rationalität nunmehr alle Lebensbereiche des Menschen durchdrungen hat, in ihnen gegenständlich geworden ist.

Ausgelöst wurde dieses Vordringen der Technik in die Lebenswelt durch die Neuschöpfung wissenschaftlicher Exaktheit in der Industrieproduktion. Erst mit dieser »wahren Philosophie des Konstruierens« (Nasmyth), mit Schalthebel, Knopfdruck und Hießband wurden Massenproduktion und Massenkonsum möglich.

Eine derart »entfesselte Rationalität« deutet Hübner als »Leidenschaft zum Wandel. zur permanenten technischen Resolution. zum Ausprobieren von Möglichkeiten«.

Mit dieser ständigen Jagd nach dem Neuen wird jedoch die mögliche »Selbstbewältigung der Techni« immer unwahrscheinlicher. So gibt sich die Leidenschaft zum Wandel letztlich als Wille zu erkennen. »der sich an seiner eigenen Geschichtlichkeit geradezu verzehrt«, also auch: der an seiner Endlichkeit schier verzweifelt.

Eine Schlußfolgerung, die Hübner nicht zieht, liegt hier nahe: Der technologische Perfektionsdrang. die wilde Welt der Natur durch eine von Menschen vollständig neu erdachte und gemachte Welt der Technik nicht nur zu beherrschen, sondern schließlich auch zu ersetzen, ist im Grunde der Versuch, jeder Art von Abhängigkeit zu entrinnen, sich von Natur, Not und Tod -- und von Gott -- ein für allemal zu befreien. Dieser Versuch muß jedoch scheitern, denn auch die Technik ist geschichtlich-zufällig und nicht geschichtslos-notwendig.

Auch aus diesem Grund ist eine an der Geschichte orientierte Neubesinnung auf die Wissenschaften und deren Theorie erforderlich.

Einerseits lebt nämlich auch die moderne Wissenschaft aus dem abstrakten Pathos der technischen Welt. aus deren Formalismus und deren entfesselter Rationalität.

Andererseits ist ihr Pathos von der alten Metaphysik ererbt. Denn wie sie will auch die Wissenschaft der Moderne -- zumindest als Ideologie des Szientismus oder als Ideologie des dialektischen Materialismus -- das Wesen der Dinge, die wahre Wirklichkeit erkennen.

Hübner bilanziert denn auch seine Kritik der wissenschaftlichen Vernunft: »Was ich hier versucht habe. könnte man einen Beitrag zur Entzauberung der rationalistisch-empiristisch verstandenen Wissenschaften nennen, worunter man den Glauben an absolute wissenschaftliche Tatsachen und Grundsätze versteht. Damit bestreite ich zugleich den Anspruch, die Wissenschaften hätten allein den Zugang zur Wahrheit und Wirklichkeit »gepachtet«.«

Was aber kündigt sich bei Hübner nach der Entzauberung einer Wissenschaft an. die zum Religionsersatz geworden ist? Die Rückkehr zur Religion gewiß nicht.

Und doch wird auch bei ihm so etwas wie neue (alte) Religiosität spürbar: Hübner billigt die -- hoffnungslos irrationalistische -- Religionsphilosophie des »Numinosen« (Rudolf Otto). er untersucht im letzten Kapitel seines Werkes die Strukturen des (griechischen) Mythos, er verspricht ein neues Buch ausschließlich über die Theorie des Mythos.

Merke: Wenn Ideologie A entzaubert ist, dann nicht auch Ideologie B.

Rudolf Ringguth
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