Märchen: »Lebenshilfe für Kinder«
Realistisch betrachtet, sind die Geschichten grausamer, als ein Reporter des Satans sie ersinnen könnte: Da soll ein Junge zur Strafe für seine Naschhaftigkeit geschlachtet und gekocht werden. Ein Mädchen wird lebendigen Leibes von einem wilden Tier verschlungen, ein anderes von einem Schwein begattet. Eine Frau vergiftet ihr Stiefkind. Ein Mann beschläft jede Nacht eine Jungfrau und läßt sie bei Morgengrauen töten.
Verbrechen und Sadismus, Kannibalismus und Sodomie sind gängiges Repertoire in dieser schwarz-weißen Wunderwelt, in der viele Helden immerzu den Endsieg erfechten.
Daß Böses, wenn nicht gar Faschistoides aus den Märchenbüchern käme und daß die uralten Geschichten, als »Instrumente bürgerlicher Repression«, endlich aus der Kindererziehung verbannt werden müßten, war zum Beispiel 1972 ein beherrschendes Thema während der sogenannten Heidelberger Märchentage.
Doch nun kommt aus den USA die entgegengesetzte Meinung als fortschrittliche Erkenntnis eines Professors: »Kinder brauchen Märchen«, so der deutsche Titel eines im März erscheinenden Buches des Kinderpsychiaters Bruno Bettelheim*.
Der gebürtige Österreicher, der ein Jahr in den Konzentrationslagern Dachau und Buchenwald inhaftiert war und 1939 in die Vereinigten Staaten emigrierte, wurde dort berühmt wegen seiner Therapieerfolge bei seelisch schwer gestörten Kindern. Er schrieb über autistische Kinder und geisteskranke Erwachsene, über gesellschaftliche Veränderungen und Gemeinschaftserziehung, und »jedes Buch wurde ein Klassiker«, wie das Nachrichtenmagazin »Time« urteilte.
Die Märchenstunde des alten »weisen Mannes« -- Bettelheim ist 73 -- kam dem »Time«-Rezensenten »provokativ und spitzfindig« vor. Doch von anderen Kritikern wurde das Buch enthusiastisch gefeiert. Der Rezensent der »New York Times« etwa fühlte sich bei
* Bruno Bettelheim: »Kinder brauchen Märchen. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart; 380 Seiten; 39,80 Mark.
der Lektüre »auf geheimnisvolle Weise« an seine eigene Kindheit erinnert: »Wie soll ich mir sonst die Wogen von Angst und Hochstimmung, von Hoffnung und Trostlosigkeit erklären, die mich erfaßten?«
Tiefenpsychologen haben darauf hingewiesen, daß die Märchen der gleichen Deutung wie die Träume unterliegen und als Wachträume der Völker zu verstehen sind. Doch anders als ein Träumer, der stets ein Dichter seiner individuellen Probleme bleibt, künden die Märchen dank ihrer jahrhundertealten Tradition von universellen Phänomenen der Psyche. Bettelheim: »Nur wenn ein Märchen das bewußte und unbewußte Verlangen vieler Menschen enthielt, wurde es immer wieder erzählt.«
Viele Geschichten handeln, »unrealistisch, aber nicht unwahr«, wie der Analytiker meint, von oralen und ödipalen Konflikten, von gewalttätigen und phallischen Phantasien, von Furcht vor Sexualität oder Kastration, von Erniedrigung durch andere oder Destruktion durch sich selbst, und immer wieder von der größten Angst der Menschen, der Trennungsangst, die aus der Frühzeit der Persönlichkeitsentwicklung herrührt, als Verlassensein noch Verhungern bedeutete.
Aber meist wird ein glücklicher Ausgang verheißen. »Jedes Märchen ist ein Zauberspiegel«, schreibt Bettelheim, »in dem sich gewisse Aspekte unserer inneren Welt und der Stufen spiegeln, die wir in unserer Entwicklung von der Unreife zur Reife zurücklegen müssen.«
Deswegen seien für Kinder die Märchen eine »wichtige Lebenshilfe«, meint Bettelheim, »um die chaotischen Spannungen ihres Unbewußten zu bewältigen": Die kleinen Zuhörer sind erfrischt wie nach einem guten Traum, dem freilich das Märchen überlegen ist
es hat einen logischen Aufbau und erschließt der Phantasie neue, sonst unentdeckte Felder der Assoziation.
Weil alle Kinder nach Bettelheims Erfahrung an Zauberei glauben und in ihrer animistischen Weitsicht etwa zuschlagenden Türen eine böse Seele und wispernden Bäumen eine schöne Sprache beimessen, entspricht das Märchen ihrem Wunsch nach dem Wunderbaren ebenso wie ihrer Furcht vor dem Schrecklichen.
Doch während Hexen, geboren aus den eigenen Angstphantasien, ein Kind verfolgen, wirkt eine Märchen-Hexe, die in den eigenen Ofen gestoßen und verbrannt werden kann, befreiend.
Nach Bettelheims Urteil sind die Märchen gerade wegen ihrer Elemente der Bedrohung und Grausamkeit, die viele Eltern bestimmten, sie ihren Kindern vorzuenthalten, den modernen und »sicheren« Erzählungen überlegen, in denen selbst die Ungeheuer gutmütig sind wie ein Krümelmonster.
Ein Kind, so belehrt der Autor die Erwachsenen, sei in seiner Phantasie »gewaltig, destruktiv und sogar sadistisch«, ja hege bisweilen »mörderische Wünsche«, und dieses »Ungeheuer, als das es sieh fühlt«, bereite ihm am meisten Sorgen.
In der Bilderwelt des Märchens findet es indirekte Erklärungen für das eigene Unwesen -- in der Geschichte vom Geist in der Flasche etwa, der seinen Befreier erst reich machen, dann aber nach vierhundertjährigem Warten töten will. Sosehr derlei Ungeist auch der Erwachsenenmoral widersprechen mag, für ein im Kinderzimmer alleingelassenes Wesen ist es typisch, daß sich Sehnsüchte nach den Eltern in Aggression verwandeln, und aus dem Märchen erfährt es, daß sich die monströsen Wünsche wie die Monster mit List in die Flasche zurückzwingen lassen.
Auch kommen einem Kind seine destruktiven Neigungen durchaus konstruktiv vor, was die Umwelt oft nicht begreifen wolle, meint Bettelheim: Wenn nun der Jäger dem Wolf den Bauch aufschneidet und Rotkäppchen zur Wiedergeburt verhilft -- die Geschichte also Zerstörerisches und Schöpferisches vereint -, lösen sich psychische Spannungen.
Vor allem die böse Stiefmutter habe ihre guten Seiten, so erläutert der Psychiater: Genauso wie die Schwarz-Weiß-Zeichnung der Märchen ist auch die kindliche Weltsicht von der Polarisierung beherrscht, genauso wie den symbolischen Figuren fehlen einem noch unreifen Menschen differenzierte Gefühle.
So erlebt ein Kind seine Mutter von einem zum anderen Augenblick entweder als gut oder als böse. Diesen Gefühlsumschwung, der Schuldbewußtsein erregt, vermag es besser zu verkraften, wenn es seinen Zorn auf eine Ersatzfigur wie Schneewittchens giftmischende Stiefmutter richten kann, die sich in rotglühenden Schuhen tottanzen muß.
Solche gnadenlosen Strafen sind nach Bettelheims Meinung durchaus kindgemäß, weil Mitleid mit einem Schuldigen zwar beim gereiften Menschen, nicht aber bei kleinen Kindern zu erwecken sei. Auch könne sich ein Kind, dessen unrealistische Ängste unrealistischer Hoffnung bedürfen, um so sicherer fühlen, je schwerer das Böse bestraft werde.
Umgekehrt stärkt das gute Ende eines Märchens, wenn fortan die Helden »herrlich und in Freuden« leben, den Optimismus der kindlichen Zuhörer -- und das brauchten sie dringend, so rät der Therapeut, weil sie sich oft genug den Erwachsenen gegenüber erbärmlich und unfähig fühlten. Denn phantastischer als die gewaltigsten Taten der siegreichen Märchen-Figuren kommt einem Kind nur die Vorstellung vor, es könne einmal den Eltern überlegen sein und an ihre Stelle treten.
Nach Bettelheims Erfahrung verführen die Märchenlösungen nicht dazu, sie auch im späteren Leben zu erwarten. Er hält ganz im Gegenteil die frühen Ausflüge in die Irrationalität für eine Voraussetzung, zum »Realitätsprinzip« zu gelangen. Wenn aber Kinder, die noch kein abstraktes Denkvermögen haben, aus ihrer Versponnenheit gerissen werden, können sich Fehlentwicklungen einstellen, wie der Psychiater warnt: »Viele junge Menschen, die heute plötzlich in Drogenträumen der Welt zu entfliehen suchen, irgendeinem Guru nachfolgen, an Astrologie glauben, sich der Schwarzen Magie verschreiben ... wurden vorzeitig gezwungen, die Wirklichkeit in der Art der Erwachsenen zu sehen.«
So einleuchtend die meisten amerikanischen Kritiker Bettelheims Plädoyer für die Märchen in der Kindererziehung auch fanden, so geteilter Meinung waren sie über seine Märchen-Interpretationen, die den zweiten Teil des Buches ausmachen. Der »Newsweek«-Rezensent prophezeite, da werde »so manchem Leser die Spucke wegbleiben«, sein »Time«-Kollege fand »auf des Doktors enger Freudscher Couch keinen Platz zum Umdrehen«, während der Schriftsteller John Updike in der »New York Times Book Review« lobte, die Analysen seien ihm »nie hergeholt vorgekommen«.
Bettelheim selbst war auf derlei widersprüchliche Reaktionen gefaßt, berief sich auf den Dichter William Butler Yeats ("Tritt sachte auf, denn du trittst auf meine Träume") -- und scheute auch vor unsanften Deutungsversuchen nicht zurück.
Der finstere Märchenwald steht nach Bettelheims Ansicht stets für »die dunkle, verborgene, fast undurchdringliche Welt unseres Unbewußten«, und wenn einer nach allerlei Verirrungen ein Königreich erworben hat, so bedeutet das: Er regiert das eigene Ich.
Einen Vorgriff auf die Psychoanalyse sieht der Analytiker in der Rahmenerzählung
von Tausendundeiner Nacht: Wenn der König Schehrijâr nach dem Ehebruch seiner Frau mit einem schwarzen Sklaven jede Nacht mit einer frischen Jungfrau schläft und sie dann töten läßt, symbolisiere sein Leben der Lust einen Rückfall auf das Es. Die Wesirtochter Schehrezâd, die den kranken König in Erfüllung einer moralischen Pflicht retten will, sei von ihrem Über-Ich geleitet.
Sie erzielt durch ihre Erzählkunst tagtäglich einen Hinrichtungsaufschub, und nach tausend Nächten, also fast dreijähriger Psychoanalyse, sind mit Hilfe der Märchen die psychischen Konflikte gelöst: So fänden Es und Über-Ich zum Ich.
Hänsel und Gretel deutet Bettetheim als Parabel auf die orale Gier. Das Lebkuchenhaus, »ein Bild, wie es niemand wieder vergißt«, symbolisiere ein Leben auf der Stufe primitivster Befriedigung wie einst an der Mutterbrust, als Lieben noch Fressen bedeutete.
Aus der Lust des Knusper, Knusper Knäuschen aber komme die Angst, selber gefressen zu werden. So stelle denn auch die Hexe die destruktiven Aspekte der Oralität dar. In solche Psycho-Logik fügt sich, daß am Ende die feindlichen weiblichen Mächte -- die Hexe wie auch die böse Mutter, die die Kinder in den Wald schickte -- tot und die oralen Konflikte überwunden sind.
Ein wahres Freudsches Feuerwerk entfacht der Psychiater bei Aschenputtel. Das sehr alte Märchen, von dem 345 Versionen bekannt sind, nimmt sich der Qualen der Geschwisterrivalität, die in den meisten Mythen und der biblischen Geschichte von Kam und Abel fürchterliche Folgen haben, mit »tiefem Verständnis« an, wie der Analytiker lobt. Außerdem enthalte es ein Gleichnis für den kindlichen Wunsch, sich »schön schmutzig« zu machen, eine mit Freiheit wie mit Schuldgefühl verbundene Vorstellung.
Der alte Ödipus fummelt dazwischen, denn anders als mit einer ödipalen Beziehung zwischen Aschenputtel und seinem Vater vermag sich der Psychiater den Haß der Stiefmutter auf das an den Herd verstoßene Kind nicht zu erklären. Daß das Mädchen schließlich seinem Prinzen davonläuft, deutet er als Bedürfnis, vom Liebhaber auch in der Erniedrigung, in der Asche, akzeptiert zu werden.
Phantastisches fällt dem Deuter zu Aschenputtels verlorenem Schuh ein, der in vielen Versionen aus Glas ist, also zerbrechlich und nicht dehnbar: Er stehe für die Vagina mit dem Hymen, und mithin müsse der Fuß, der in den Schuh schlüpft, den Geschlechtsakt symbolisieren.
Bei den Stiefschwestern, die ihre Füße verstümmeln, macht der Seelenforscher einen verheerenden Weiblichkeitswahn aus: Sie wollten den von Freud den Frauen zugeschriebenen Penisneid durch eine symbolische Kastration bewältigen. Dem entspreche die Kastrationsangst von Aschenputtels Freier, die ihn derart verblendet habe, daß er das Blut im Schuh der falschen Schwester nicht selber sehen könne. Erst Aschenputtel erweise sich als die rechte Braut, weil es niemanden kastrieren wolle und den Prinzen mithin von dieser Angst befreie.
Viele Märchen, so meint Bettelheim, handeln von sexuellen Problemen, ohne sie direkt zu erwähnen. Mal muß der Phallus als lustig herumspringende Spindel verstanden werden, wie sie Dornröschen sticht, mal auch als ein über Nacht aufschießendes Gewächs, an dem der Held in dem Märchen »Hans und die Bohnenranke« himmelhoch zu klettern pflegt.
In den vielen Tierbräutigam-Geschichten glaubt Bettelheim als »psychologische Wahrheit« zu erkennen, daß in einer frühen Kindheitsphase die Sexualität als etwas Unbegreifliches, Abstoßendes und Tierisches empfunden werde -- eine Erinnerung, die Erwachsene meist aus ihrem Bewußtsein, nicht aber aus ihrem Unbewußtsein verloren hätten.
Mal muß das Mädchen seinen Ekel überwinden wie in »La Belle et la Bête«, da »alles schön ist, was man liebt«, mal auch der Mann seine Unreife überwinden, wie im Froschkönig.
Den Frosch, der sich aufblasen kann, deutet Bettelheim als Penis, zugleich aber als Embryo in Symbiose mit der Mutter, auf deren Schoß er sitzen, aus deren Glas er trinken und in deren Bett er liegen will. Erst als die Prinzessin den Frosch aus dem Bett gegen die Wand wirft und ihn so aus den Fesseln seiner unreifen Existenz erlöst, gewinnt er männliche Gestalt.
Märchen, die sich Erwachsene von Märchen machen? Einem Kind, mahnt immerhin Psychiater Bettelheim, dürfe solch tieferer Sinn eines Märchens niemals erklärt werden -- denn sonst sei dessen Zauberkraft gebrochen.