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GASTRONOMIE Mageres Fest

Frankreichs Nouvelle-Cuisine-Stars verfallen zunehmend der Schmalkost. Devise: »Jedes Mahl ein Magerfest.«
aus DER SPIEGEL 3/1977

Wo einst die rosigen Speckfalten des Kochs Schmackhaftes versprachen, gilt heute ein dünner Koch als beste Werbung. Stolz brüsten sich immer mehr französische Star-Köche nicht mit ihren sahnigen Soßen, sondern mit den Kilos, die sie abspeckten. und dem Gewicht, das sie trotz Einnahme des eigenen Essens halten.

Michel Oliver, 44, vom »Bistrot de Paris« schaffte sich 23 Kilo weg und sprintet nur noch im knappen Shetland-Pullover durch sein Restaurant. Alain Senderens, 40. in dessen »L'Archestrate« manchmal auch Giscard einkehrt, verlor 13 Kilo und trägt nun hohle Wangen überm Spitzbart. Und Michel Guérard, 43, der vor drei Jahren den Magertrip der Meisterköche überhaupt erfand, schnallt seither seinen Kroko-Gürtel ständig ins engste Loch.

Die meisten Bannerträger der Nouvelle Cuisine pilgern neuerdings, um ihre Pfunde loszuwerden, in ein Mager-Mekka im schweizerischen Crans-sur-Sierre, wo sie ein ehemaliger Journalist zum Tagespreis von 160 Schweizer Franken entfettet und zu eigenen Mager-Menüs inspiriert.

Guérard indes wird seine Über-Kilos bei Selbstgekochtem los: im eigenen Luxusdiät-Hotel im pyrenäennahen Eugénie-les-Bains. 160 seiner schlankmachenden Nobelrezepte veröffentlichte er jetzt in Buchform und verkaufte davon binnen zehn Tagen 20 000 Exemplare*; von der amerikanischen Ausgabe gingen, schon vor Erscheinen, 50 000 weg; eine deutsche Übersetzung kündigt Ullstein an.

Guérard, auch insofern ein normales Übergewicht, magerte für seine hübsche neue Frau Christine ab. Kurz vor der Heirat hatte sie ihm ("Welch ein Schock!") ins Ohr geflüstert: »Sie könnten richtig gut aussehen, Michel -- Sie müßten nur ein paar Kilo abnehmen.«

Doch bei erfolgreichen Köchen, die sonst berufsmäßig essen und ständig frohe Esser um sich haben, wühlt willentlicher Nahrungsverzicht offenbar Freudsche Tiefen auf: Sein »langer Marsch durch geraspelte Möhrenfelder«, die nackten Steaks, wenn andere sich an Soßen gütlich taten, erweckten in dem 3-Sterne-Guérard eine geradezu »klaustrophobische Frustration«; er kam sich vor »wie von einer ansteckenden Krankheit befallen und isoliert«.

* Michel Guérard. »La Grande Cuisine Minceur. Éditions Robert Laffont, Paris. 448 Seiten: 78 Franc

Seither tüftelte er unermüdlich daran, die freudlose Magerküche auf die Höhe der Grande Cuisine zu hieven, ihm zufolge soll »jede Mahlzeit ein Magerfest« werden.

Sein Schmuckstück wurde ein 500-Kalorien-Mahl: Krebsschaum mit Kresse, Lammkeule in Kräutern gedünstet und, als Dessert, Schnee-Äpfel. Er ist aber auch stolz auf seine Spiegeleier. die statt in brutzelndem Fett in Wasser knusprig braten.

Soßen dickt Guérard nicht mehr mit Sahne, Butter oder Mehl, sondern mit Magerquark, Milchpulver und besonders mit Gemüsebrei. Fruchtspeisen verpanscht er unbesorgt mit Süßstoff. Die Fettaugen auf Salatblättern stammen meist von Paraffinöl. das in Apotheken zum Abführen verkauft wird.

Hauptsächlich aber müht er sieh, die oft faden Diätspeisen geschmacklich aufzuputschen. So schmort er Lammkeulen, leicht mit Wasser und Wermut benetzt, auf frischem Heu; gebratene Gänseherzen ruhen auf einer Matte von Zwiebelmus und Blumenkohlröschen; und eine Ente verfeinert er mit in Rotwein gekochten Feigen.

Natürlich ist nicht jeder der kunstvollen Mager-Küche zugetan. Der spindeldürre Pariser Freßpapst Philippe Couderc verachtet sie als » Klinik-Menüs": »Als begäbe man sich mit einem ärztlichen Rezept ins Restaurant.«

Doch für das Volk der Übergewichtigen und ihren »Sündenspeck« (Guérard) hat der »Express« das Urteil schon gefällt: »Für künftige Generationen ist Guéard wahrscheinlich der große Cuisinier unserer Epoche.«

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