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ENGLAND Maggie la Douce

aus DER SPIEGEL 41/1964

Die beiden Hauptdarsteller können nicht singen, und die Musik hat einen Bart - dennoch ist »Maggie May«, das neue Musical von Lionel Bart, der hochgelobte Großerfolg der neuen Londoner Theatersaison.

Von den 37 Theatern in London führen gegenwärtig neun Musicals auf. Barts »Maggie«, so urteilt die »Daily Mail«, ist »das bestgespielte seit langer Zeit«.

Lionel Bart, 34, der selber keine Noten schreiben kann und seine Einfälle Kundigen diktiert, hatte 1960 mit dem Slang-Musical »Fings ain't wot they used t'be« (zu deutsch etwa: »Is' alles nich mehr, wasses früher war") einen frischen proletarischen Ton in das verstaubte englische Amüsiertheater ("Daily Express": »Teetassen, Tennisschläger und rosigwangige Pastoren") gebracht. Im selben Jahr brach er mit der Charles Dickens-Bearbeitung »Oliver!« das Erfolgsmonopol der amerikanischen Musical-Macher. Vor zwei Jahren siegte Bart mit »Blitz«, einer Musicalisierung des deutschen Bombenkrieges gegen Engeland im Zweiten Weltkrieg.

In seinem neuen Singspiel hat der Schneidersohn aus dem Londoner Eastend - mittlerweile auch Buchverleger, Filmproduzent und Besitzer von vier Automobilen - eine konventionellere Fabel mit einem erst neuerdings beliebten-Milieu kombiniert: Titelheldin Maggie May ist eine Prostituierte mit Herz und Schnauze aus der nordenglischen, Hafen- und Beatle-Stadt Liverpool.

Diese Maggie la Douce verehrt seit Kindertagen einen Pat Casey. Als der entschwundene Pat eines Tages zu ihr heim kehrt, weiß die Professionelle: »Ich muß meinen Amateur-Status zurückgewinnen.« Doch die Liverpooler Dockarbeiter küren Casey zum Führer in einem wilden Streik: Sie wollen keine Waffen verladen, die zur Unterdrükkung eines Volksaufstands in Südamerika bestimmt sind. Als die Kollegen sich von einem korrupten Gewerkschaftsfunktionär bestechen lassen und den Streik abbrechen wollen, zerstört Held Casey die Waffenladung im Alleingang und kommt dabei ums Leben - bessere Musicals halten heute auf Unhappy-Ends.

Publikum und Kritiker waren von »Maggie« begeistert. Barts neues Proletkunststück hat den vitalen Chic der »West Side Story« und den brutalen Charme der Beatles. »Ein Knockout!« jubilierte die Londoner Zeitung »Sun«. Und der kommunistische »Daily Worker« informierte seine Leser: »Die Dockarbeiter in 'Maggie' sehen echter aus, als Sie sich das vorstellen würden.«

Die Hauptrollen waren mit ersten Bühnenkräften besetzt: Rachel Roberts, Gattin des »My Fair Lady«-Stars Rex Harrison, spielte die Maggie; Kenneth Haigh, einst erster Darsteller von John Osbornes zornigem jungen Mann Jimmy Porter, gab den Pat.

Das mit authentischem Liverpool -Slang kräftig gewürzte Libretto hatte Bart von dem Nachwuchsdramatiker Alun Owen schreiben lassen, der schon das Drehbuch für den witzigen Beatle-Film »Yeah! Yeah! Yeah!« verfaßte. Die imposante Liverpool-Kulisse entwarf Sean Kenny, der auch »Oliver!« und »Blitz« für Bart dekorierte - seine »Maggie«-Dekoration kostete über 300 000 Mark, Gesamt-Produktionskosten des Musicals: 850 000 Mark.

Mit einem Seitenblick zum New Yorker Broadway freute sich der Londoner »Observer« über das Liverpool-Spiel: »Es ist das erste Musical, das ohne Herkunftsbezeichnung sofort als englisch zu erkennen ist.«

Einen Verfilmungs-Vertrag, hatte Lionel Bart schon vor der Premiere abschließen können, und auch eine Broadway-Aufführung ist in Aussicht. Denn, wie ein Londoner Theaterintendant sagt, »die Dinge haben sich geändert es sind die Amerikaner, die jetzt auf englische Musicals Jagd machen, nicht umgekehrt«.

Bart-Musical »Maggie May« mit (Rachel Roberts): Aus der Stadt der Beatles ...

Musical-Komponist Bart

... ein frischer proletarischer Ton

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