FERNSEHEN Mal hierhin, mal dahin
Sie kamen ohne Arme, ohne Beine zur Welt, robbengliedrig, gehörlos, im Gesicht gelähmt. Damals, vor nun fast zwanzig Jahren, sprachen britische Wissenschaftler vom »schlimmsten Unglück in der Geschichte der modernen Arzneimitteltherapie«.
Contergan, ein angeblich harmloses Schlafmittel, hatte allein in der Bundesrepublik 5000 Kinder im Mutterleib deformiert, weltweit forderte die Schlafpille 8000 Opfer. Viele starben im Säuglingsalter, in Westdeutschland leben derzeit noch 2646 Contergangeschädigte.
Was ist aus denen geworden, die in der Bundesrepublik mit ihrer Behinderung aufwuchsen und jetzt volljährig sind? Sie sind jetzt zwischen 17 und 20 Jahre alt. Zwei der behinderten Mädchen, eines in England, eines in der Bundesrepublik, haben vor kurzem gesunde Kinder zur Welt gebracht.
Nach jahrelangen Kontakten mit Eltern und Kindern haben Lutz Lehmann und Luc Jochimsen für das NDR-Fernsehen Lebensläufe von fünf Contergan-Opfern nachgezeichnet, die nun an der Schwelle zum Erwachsenenalter stehen.
Weder die Baby- noch die frühen Teenager-Jahre, das zeigt ihr »Bericht vom Ende einer besonderen Kindheit« (30. Dezember, 20.15 Uhr, III. Programm NDR/RB/SFB/WDR), bedeuteten die große Zerreißprobe. Viel schwerer ist der Schritt in Beruf und Selbständigkeit -- viele der Betroffenen schaffen ihn nicht.
Ein Drittel der behinderten jungen Leute sind heute in der Ausbildung, die meisten in speziellen Lehrstätten für Behinderte. Aber nur wenige können dort lernen, was ihrer Neigung entspricht. 236 ehemalige Contergan-Kinder haben inzwischen eine abgeschlossene Lehre. Aber nur 13 von ihnen, so der im Fernsehen beschriebene Stand, bekamen eine qualifizierte Arbeit.
Für die contergangeschädigten Kinder solle alles Erdenkliche getan werden, so hatten Anfang der sechziger Jahre Behörden und Ministerien versprochen. Während Väter und Mütter um Abfindungen rangelten, gingen die Ärzte ans Operieren. Korrigierende Eingriffe an den Stummelgliedern und prothetische Versorgung schienen damals das Wichtigste. Mittlerweile hat sich gezeigt, daß dies oft nur »törichte Aktivitäten« waren, wie die Mutter der 18jährigen Dorothee aus Overhagen feststellt.
Denn zahlreiche Contergan-Kinder verbrachten dadurch mehr Zeit im Krankenhaus als daheim. Und mancher ärztliche Eingriff verschlimmerte die Behinderung noch. Dorothees seitwärts gerichtete Fußstummel etwa wurden nicht funktionstüchtiger, und die Narben schmerzten noch lange. Das Laufen mit den Prothesen wurde zur Qual, auch für den 19jährigen Norbert: »Das hat überhaupt nicht geklappt, keinen Millimeter.«
»Sich so maßlos anzustrengen, nur um so hoch zu sein wie andere Leute«, lehnen die beiden ab. Sie wollen anerkannt werden, wie sie sind, auch »auf dem Hintern und mit den Händen rutschend« (Dorothee).
Schlimmer als Dorothee, Stefan, Norbert und Barbara -- die sich robbend oder per Rollstuhl oder Elektromobil fortbewegen können -- ist Andreas ("Andy") dran. Er wurde ohne Innenohr und mit einer schweren Gesichtslähmung geboren und hat, trotz jahrelanger Übungen in der Gehörlosenschule, große Mühe, sich verständlich zu machen.
Wie die andern findet Andy, Sohn eines Chemikers der Contergan-Firma Grünenthal, zu Hause Geborgenheit und bei den Freunden Solidarität. Aber nun, mit der Volljährigkeit, beschäftigt Sorge um die Zukunft ihn und seine Eltern stärker denn je.
Dabei sind finanzielle Probleme nicht einmal die drängendsten, auch nicht bei den anderen vier, die aus sozial unterschiedlichen Verhältnissen stammen. Die Kinder haben Abfindungen erhalten -- meist um 30 000 Mark -und bekommen heute aus dem »Hilfswerk für behinderte Kinder« eine monatliche Rente, höchstens 562 Mark.
Viel schwieriger, so zeigt der TV-Film, ist für die Behinderten das Problem, in der Erwachsenenwelt eine Aufgabe zu finden, insbesondere beruflich. Andy beispielsweise möchte kein Frührentner sein. Aber wer bildet einen 18jährigen Gehörlosen aus, der nur die Hauptschule besucht hat?
Der Junge möchte Zahntechniker werden. Aber die Suche nach einer Lehrstelle ist so aufreibend, daß den Eltern die Kindheitsprobleme dagegen »wie eine Lappalie« erscheinen: »Andy
Szene aus der TV-Dokumentation »Wir waren Contergan-Kinder«.
meint im Moment, er wär' eine Schachfigur, er würde mal hierhin, mal dahin gestellt. Er hätte nicht die Möglichkeit, seinen Unwillen hinauszuschreien.«
Von den Lehrbetrieben abgewiesen, vom Berufsbildungswerk vertröstet oder in eine andere Ausbildung gedrängt, verlieren Behinderte wie Andy kostbare Jahre. So arbeiteten Ende 1978, wie TV-Autorin Luc Jochimsen ermittelte, 48 von 236 ausgebildeten Contergan-Kindern als ungelernte Hilfskräfte, 175 waren ohne Beruf. Nur der Rest, ein gutes Dutzend, fand einen passenden Job.
Norbert etwa, der im Rehabilitationszentrum Hessisch-Lichtenau lebt, möchte Mathematiklehrer werden. Aber die Arbeitsvermittlung setzt, wie es heißt, auf das »Restvermögen": Norberts Augenlicht. Er wird mit monotoner Tätigkeit abgespeist -- etwa im Berufspraktikum bei der Fernsprechauskunft vorm Sichtgerät.
Im Getto des Behindertenwerks möchte freilich auch keiner der Contergan-Geschädigten weiterhin sein Leben zubringen müssen. Norbert: »Das ist schlecht, schlimm, arg. Man ist echt kein Mensch mehr. Man kommt aus den Bauten überhaupt nicht raus.«
Nicht nur Hauptschüler Andy und Gymnasiast Norbert, auch die drei anderen Oberschüler haben wenig Hoffnung auf einen annehmbaren Platz im Berufsleben. Die fünf stehen beispielhaft für fast alle übrigen.
So droht nun nach zwei Jahrzehnten den Contergan-Opfern ein weiterer Schock, oft größer noch als das Trauma der verkümmerten oder fehlenden Gliedmaßen.