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MEDIZIN / RÖNTGENSCHÄDEN Mal versuchen

aus DER SPIEGEL 21/1970

Vladimir Killmann, Facharzt für Röntgenologie und Strahlenheilkunde in Limburg an der Lahn, fertigte vier Röntgenaufnahmen von der Wirbelsäule des Patienten. Dann stellte er die Diagnose: Bandscheibenschaden. Zur Linderung des Leidens empfahl der Limburger Facharzt fünf therapeutische Röntgenbestrahlungen.

Als der bandscheibengeschädigte Maximilian C. Gerhardt, Finanz- und Versicherungsmakler, am zweiten Tag der Strahlenkur auf dem Behandlungsbett in der Killmann-Praxis lag, schwenkte eine ärztliche Helferin die Röntgenröhre über seinen Rücken. Dann schaltete sie das Gerät ein.

Jeweils eine Minute und 55 Sekunden wurde die Wirbelsäule des Patienten zwischen dem neunten und zwölften Brust- und dem zweiten und fünften Lendenwirbel bestrahlt. Die Auswirkungen des beinahe vierminütigen Strahlenbombardements waren verheerend. Denn der Patient erhielt mehr als das Hundertfache der verordneten Dosis.

In der folgenden Nacht plagte Maximilian Gerhardt an den bestrahlten Wirbelsäulenabschnitten heftiger Juckreiz. Nach vier Tagen verfärbten sich die Hautbezirke; vier Wochen später brachen Geschwüre auf. Bis jetzt -- nahezu drei Jahre nach der Fehlbehandlung -- sind die Verbrennungen nicht abgeheilt, und es ist noch nicht absehbar, wann der Patient wiederhergestellt sein wird.

Der strahlenverbrannte Makler zog vor Gericht, verklagte den Röntgenologen und beanspruchte Schmerzensgeld sowie Schadenersatz für Vergangenheit und Zukunft. Inzwischen wurde bekannt, daß noch zwei weitere Patienten in der Killmann-Praxis Strahlenschäden davongetragen haben; aber zumindest einer von ihnen hofft noch immer, sich mit dem Arzt außergerichtlich zu einigen.

Im Falle des geschädigten Maklers Gerhardt verurteilte das Limburger Landgericht bereits vor etlichen Monaten den Röntgen-Arzt in erster Instanz wegen eines »groben Behandlungsfehlers« zur Zahlung von 15 000 Mark Schmerzensgeld und bestätigte den Schadenersatz-Anspruch des Patienten,

Daß er nicht die »erforderliche Sorgfalt« habe walten lassen, mußte sich Facharzt Killmann in dem erstinstanzlichen Limburger Urteil bescheinigen lassen. Gerade »bei der Benutzung eines Gegenstandes, von dem besondere Gefahren für andere drohen«, so die Urteilsbegründung, »muß der zur Sorgfalt verpflichtete Arzt in erhöhtem Maße umsichtig sein«.

Zwar machte Röntgenarzt Killmann geltend, er sei während der folgenschweren Behandlung in der Praxis zugegen gewesen. Aber er konnte nicht beweisen, daß die unausgebildete Hilfskraft Vera Bülow ständig unter seiner Aufsicht gehandelt hatte, als sie sich den »groben Bedienungsfehler des Röntgengerätes« (Urteilsbegründung) zuschulden kommen ließ. Patient Gerhardt erinnert sich sogar ("Ich schaute der Helferin über die Schulter"), daß auf der Patienten-Karteikarte »außer den persönlichen Daten keinerlei andere Werte«, also etwa über die zu verabreichende Strahlendosis, vermerkt gewesen seien.

Die Praxisgehilfin entschloß sich daraufhin, selbst zu handeln. Sie befragte den Patienten, wo es ihn schmerze, und setzte entsprechend seinen Auskünften den 30 Zentimeter hohen Bestrahlungstubus an. Bei einer Kollegin, so Gerhardt, habe sie sich sodann »nach den Bestrahlungswerten erkundigt«, dann schaltete sie ein.

Zu den je handflächengroßen Verbrennungen kam es, weil die Helferin offenbar vergessen hatte, ein entsprechendes Filter vor die Röntgenröhre zu schieben, Zwar sind alle modernen Röntgengeräte gegen solche Bedienungsfehler abgesichert. Eine mechanische Sperre an der Röhre blockiert normalerweise das Einschalten des Geräts; sie wird erst aufgehoben, wenn -- entsprechend der verordneten Bestrahlungsdosis -- ein bestimmtes Metallfilter (meistens aus sehr dünnen Aluminium- oder Kupferblechen) vor das Strahlenaustrittsfenster der Röntgenröhre geschoben wird. Doch offensichtlich versagte, als Patient Gerhardt darunterlag, diese mechanische Sicherung.

Der technische Defekt, so urteilten die Limburger Richter, enthebe jedoch den Arzt nicht seiner Sorgfaltspflicht. Killmann hätte »sich nicht allein auf die Sicherungsanlage verlassen« dürfen, »sondern mußte die Einstellung am Gerät selbst überprüfen«.

Insoweit konnte auch der Sachverständige vor Gericht, der Röntgenologe Dr. Dietrich Ringleb von der Justus-Liebig-Universität in Gießen, den, wie es im Urteil heißt, »groben Behandlungsfehler« des Limburger Röntgenarztes nicht hinwegdisputieren. Aber zumindest in einem Punkt äußerte sich der Gutachter -- wie es bei derlei Ärzteprozessen fast schon Brauch ist eher kollegial.

Problematisch nämlich war schon die Entscheidung Dr. Killmanns, den Bandscheibenschaden des Patienten mit einer Röntgentherapie anzugehen. In der Regel versuchen Orthopäden und Nervenärzte ein derartiges Leiden zunächst mit Unterwasserstrahl-Massagen, Hitzebädern, Schlammpackungen und Krankengymnastik zu kurieren. Erst wenn diese Behandlungen keine Besserung bringen, werden mitunter krankhafte Veränderungen der Wirbelkörper oder der Puffergewebe zwischen den Wirbeln einer Röntgenbestrahlung ausgesetzt -- mit ungewisser Aussicht auf Erfolg.

»Man kann es mal versuchen«, kommentierte Dr. Ekkehard Müller, Orthopäde an der Hamburger Universitätsklinik, die seltene Therapie. Gutachter Ringleb hingegen äußerte die Ansicht, die Schmerzen des Patienten hätten durch Killmanns Behandlungsvorschlag »optimal beeinflußt werden können«. So blieb auch im vorliegenden Fall die Frage ungeklärt, ob etwa der Wunsch, die hohen Anschaffungskosten der Röntgen-Apparatur (Einrichtungskosten einer Fachpraxis: zwischen 120 000 und 400 000 Mark) rasch zu amortisieren, manchen Arzt geneigt machen könnte, mehr Röntgentherapie zu verordnen als unbedingt notwendig.

Schwerwiegende Folgeschäden, etwa Hautkrebs, Knochentumore oder Leukämie, sind nach einer Röntgenverbrennung, wie sie Patient Gerhardt erlitten hat, nicht ausgeschlossen und können mitunter erst Jahrzehnte nach dem Unfall zutage treten.

Auf das gerichtlich zugebilligte Schmerzensgeld wird der geschädigte Makler freilich noch warten müssen. Killmanns Anwalt legte beim Oberlandesgericht in Frankfurt Berufung gegen das Limburger Urteil ein.

Beraten wurde er dabei von den Juristen der Hamburger Versicherungsgesellschaft »Deutscher Ring«, bei der Facharzt Killmann haftpflichtversichert ist und die mithin für das Schmerzensgeld aufzukommen hätte.

Die Versicherungsjuristen hatten zunächst versucht, »sich mit dem Hersteller der Röntgeneinrichtung«, der Hamburger Philips-Tochter C. H. F. Müller GmbH, »über Schmerzensgeld und Folgekosten zu arrangieren«, so »Ring«-Direktor Martin Steffen. Doch das Arrangement kam nicht zustande.

Nach Ansicht der Versicherer liegt die Schuld allein beim Gerätehersteller, denn bei einer vollautomatischen Apparatur könne »doch der Arzt nicht jedesmal in das Gerät hineinkriechen« (Steffen).

Die Firma Röntgen-Müller hingegen möchte sich an den Urteilsspruch der Limburger Landrichter halten, dem zufolge Facharzt Killmann »zu jeglicher Sorgfalt« verpflichtet war. »Der Schwarze Peter«, so sieht es Harald Uhl, Geschäftsführer bei Röntgen-Müller, »liegt immer beim Arzt.«

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