Malvolio in Kalifornien
In Walsers Welt, sie reicht vom Bodensee bis zu den Sternen und langsam fast bis zum Tod, ist das Leben eine Kette von Niederlagen.
Nichts Großes, nichts Spektakuläres, weiß Gott nicht, nur diese kleinen Zurichtungen, die einem den Übermut so lange austreiben, bis man den Glauben an alle Unsterblichkeiten eingebüßt hat.
Niederlagen sind dann am schlimmsten, wenn nur man selbst sie bemerkt; zwar kann man sich dann aufrappeln ohne Publikum, das hämisch applaudiert, aber es fehlt auch die Wohltat des heroischen Scheiterns.
Jede Sekunde arbeitet die Zeit gegen einen, und wenn man nicht mehr alle Fehler selbst machen kann, belehren einen die Kinder, daß man auch tatenlos in den Niedergang schlittern kann - soweit ist der Held in Walsers neuem Roman »Brandung« _(Martin Walser: »Brandung«. Suhrkamp ) _(Verlag, Frankfurt; 320 Seiten; 34 Mark. )
jetzt.
Es ist Held Helmut Halm, der Stuttgarter Studienrat, den Walsers Leser seit dem »Fliehenden Pferd« kennen. Da machte er am Bodensee Ferien und hätte einen Studienfreund im See fast zu Tode gebracht. Eben nur fast.
Ein anderer Studienfreund aus Tübingen verschafft ihm jetzt eine Gastprofessur in Kalifornien. Halm also bricht zu neuen Ufern auf, auch weil es zu Hause nicht zum besten steht; er leidet unter seinen Kollegen, seine Schwiegermutter ist gestorben, seiner Tochter ist der Mann bei der Psychotherapie wegbehandelt worden: Mit der mühsam aufgeknüpften Mutterbindung konnte er sich auch gleich von der Frau abseilen.
In Amerika ist der Freund nicht wiederzuerkennen. Der frühere Lyriker ist ein handfester Trinker, der sich seine kaputte Ehe durch die Gurgel jagt und den ankommenden Freund vollquatscht wie einen Schrank.
Im College ist der 55jährige Halm einem Ansturm von Jugendlichkeit ausgesetzt - sportiver, braungebrannter, gesunder, graublaugrünäugiger Jugendlichkeit; weiblicher - versteht sich.
Und während er im Konversationskurs mit der Studentin - Fran heißt sie - nicht ins Gespräch kommt, hängt sie sich nach jeder Stunde an ihn, um mit ihm irgendwelche Aufsatzthemen zu besprechen.
Irgendwelche? Ein Shakespeare-Sonett, aus dem der Liebeswahn eruptiv hervorbricht. Eine Shakespeare-Komödie, in der das Paar seine Liebe in Beschimpfungen voreinander versteckt.
Und mit dem Mädchen, ihren Aufsatzthemen, die sie mit seiner Hilfe so schreibt, daß sie miserable Zensuren dafür bekommt, gerät er in den Spott der Kollegen; die Angst, sich lächerlich zu machen, verführt ihn zu Lächerlichkeiten. Schließlich projiziert Halm sein Verhältnis zu Fran in die Malvolio-Figur Shakespeares.
Wie, wenn alle ihn dazu ausersehen hätten, auf dem College die lächerliche Figur des verliebten älteren Gockels abzugeben? Malvolio, der durch einen falschen Brief zuerst in die absolute Lächerlichkeit, dann in Schande und Beinahe-Wahnsinn getrieben wurde.
Halms Niederlagen - wie gesagt - sind unspektakulärer. Zwar kauft er sich - darin Malvolio ähnlich, der sich ja knallgelbe Strumpfbänder anlegt - einen zu grellbunten Anzug, als ihn das Mädchen ermuntert, zu einer Video-Aufzeichnung der Bayreuther »Walküre« zu kommen. Doch mit einem grellbunten Anzug kann man sich in den USA, zumal in Kalifornien, nicht blamieren.
Die einzige Schmach für Halm: daß er zuschauen muß, wie seine Fran sich mit ihrem Freund (einem Wasserball-Superathleten), angeregt durch die sehrende Musik der »Walküre«, in der Pause heftig abknutscht. Malvolios Bühne ist in Halms Kopf.
Und seine auffälligste Tat: Er spielt bei einer Party so wild den Tänzer, daß er beim Sturz dem Mädchen ein Bein bricht und sich ein blaues Auge holt.
Halm kommt also mit einem blauen Auge davon. Wie Walsers Helden immer. Etwas kleiner, etwas zerfetzter, etwas resignierter kommt er nach dem amerikanischen Gastspiel nach Stuttgart zurück: »Brandung« ist ein Buch über das Altern. Malvolio ist ja eine Rolle für einen älteren Herrn.
Für dieses Altern, für die ebenso unerbittlichen wie lautlosen Niederlagen, hat Walser um seinen Helden Halm die anderen Figuren wie Parabolspiegel aufgestellt, die ihm seine Niederlagen reflektierend auf den Pelz brennen.
Da gibt es Kabinettstücke tödlicher Ironie: etwa im Porträt des College-Dichters und seiner 30 Jahre jüngeren Frau, die, indem sie dauernd über das Altern sprechen, vorführen, wie sie sich versprochen haben, nicht über das Altern zu sprechen. Ihre Unterhaltungen (zu so eingeübten Verletzungen sind nur Ehepaare nach langjähriger Übung fähig) münden in Schwächeanfälle des Mannes, die die Frau zur Krankenschwester degradieren und erhöhen.
Da gibt es eine deutsche Skatrunde im amerikanischen »Exil«, lauter gestandene, ja über-standene Männer, die sich den Fäkalwörtern und zotigen Anspielungen des Skatspiels hingeben wie Studenten knapp jenseits der Pubertät: ein grausiger Zirkel von Eheverkrüppelten und Altersgeschädigten, die sich, dies der Höhepunkt ihrer Freundschaftsbezeigungen, immer wieder wechselseitig als Arschlöcher titulieren.
Die wirksamste Ironie des Buchs aber besteht darin, daß der Held, in die Lächerlichkeitsfurcht der ihm aufgedrängten Malvolio-Rolle eingesponnen, sich von Feinden, also von Überlegenen, Stärkeren umgeben wähnt, vor denen er nur komisch straucheln könne.
Wenn er wüßte! »Brandung« überführt auch noch die Egozentrik Halms ins Lächerliche. Vor sich selbst ist jeder der Schwächste. Aber wenn all die Schwächlinge einander beobachten, überschätzen sie sich gegenseitig so, daß sie vom andern nichts wahrnehmen außer der vermuteten Bedrohung.
So wird Halm am Ende Zeuge von fremden Katastrophen, die er alle nicht voraussah, weil er nur mit der Abwehr seiner Katastrophe beschäftigt war. Erfolgreich. Er hat sich nicht blamiert, weil er erst gar nichts erlebt hat. Altwerden heißt, sich seine Erlebnisse schon vorher zu untersagen. Nur er weiß, mit welchen Blessuren er zurückkehrt.
Übrigens ist die »Brandung« (auch) eine Liebesgeschichte ihres Autors mit Amerika: Walser hat, wie seine Figur Halm, in Kalifornien unterrichtet, wozu er, wie Halm, den Bodensee verlassen mußte.
Eine vertrackte Liebesgeschichte. Im »Fliehenden Pferd« hätte Halm um ein Haar seinen Nebenbuhler im schwäbischen Meer ertränkt. Jetzt genügt eine Welle des Pazifik, um Halm außer Gefecht zu setzen. Nach einmaligem Baden ist er so zugerichtet, daß er sich nicht mehr allein die Schuhe zubinden kann, so sehr hat ihn eine Welle durcheinandergewirbelt. In Amerika ist alles größer. Auch die Brandung.
Martin Walser: »Brandung«. Suhrkamp Verlag, Frankfurt; 320 Seiten;34 Mark.