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»Man lügt über mich wie über einen Toten«

Alexander Solschenizyn im Gespräch mit Rudolf Augstein über den Romanzyklus »Das Rote Rad« *
Von Rudolf Augstein
aus DER SPIEGEL 44/1987

AUGSTEIN: Alexander Issajewitsch, man darf Sie mittlerweile in einem Atem mit den großen russischen Romanschriftstellern Tolstoi und Dostojewski nennen. Da Sie selbst mehr Wert darauf legen, ein geschichtsmächtiger Schriftsteller zu sein, dürfen wir vielleicht die belletristischen Aspekte Ihres Werkes hintanstellen. Sind Sie damit einverstanden?

SOLSCHENIZYN: Bei dem Urteil über Wert und Bedeutung meiner Bücher wird es mir wie allen anderen gehen: Es wird sich zwanzig, fünfzig oder hundert Jahre nach dem Tode des Autors fällen lassen. Jetzt ist es zu früh, darüber zu reden. Ja, ich will wirklich, daß meine Bücher auf das Bewußtsein meines Volkes einwirken. Aber dieser Umstand darf nicht davon ablenken, daß sie zur schöngeistigen Literatur gehören. Ohne die literarische Form könnten sie nicht ernsthaft wirken. Denn die politische Publizistik unterscheidet sich von einem künstlerischen Werk dadurch, daß ihr Autor für einen Artikel oder für eine Rede einen bestimmten Standpunkt einnehmen muß. Ich habe dann die jeweiligen Opponenten vor mir, die ihrerseits auch einen bestimmten Standpunkt einnehmen, so daß meine Darlegung immer linear sein wird. Ein Werk der schöngeistigen Literatur aber bietet eine umfassende Vorstellung, bietet nicht nur drei Dimensionen, sondern Dutzende von Richtungen. In der politischen Publizistik fühle ich mich stark eingeengt, darum habe ich damit schon vor viereinhalb Jahren Schluß gemacht.

AUGSTEIN: Schon als Zehnjährigem stand Ihnen das Vorbild des Grafen Tolstoi vor Augen, sicherlich am meisten sein Werk »Krieg und Frieden«. Wir gehen wohl nicht fehl in der Annahme, in Ihnen habe sich damals schon der Gedanke auszubilden begonnen, daß Sie für Ihre Zeit ein ähnlich geschichtsmächtiges und geschichtsträchtiges Epos zustande bringen würden?

SOLSCHENIZYN: Tatsächlich, Tolstois »Krieg und Frieden« hat mich auf den Gedanken gebracht, daß man so großformatige Werke überhaupt schreiben kann. Aber da meine Aufgabe sich auf das 20. Jahrhundert bezieht und ich die Revolution zu beschreiben hatte - ein sehr seltenes und sehr ungewöhnliches Phänomen -, so hört damit die Verbindung zu »Krieg und Frieden« auf. Ich habe mir keineswegs die Aufgabe gestellt, »Krieg und Frieden« zu wiederholen. Zunächst ist die Schilderung einer Revolution eine ganz andere Aufgabe als die eines Krieges. Außerdem verlangt das Tempo des 20. Jahrhunderts eine ganz andere Sprache, eine ganz andere Struktur, einen ganz anderen Rhythmus.

AUGSTEIN: Auch Unterschiede Ihrer geschichtlichen Betrachtungsweise und der des Grafen Tolstoi lassen sich kaum übersehen. Tolstoi schreibt eigentlich, wie wir nach heutigen Begriffen sagen würden, als Strukturalist. Sie hingegen kennen noch oder schon wieder den positiven Helden, der, wenn auch oft vergeblich, versucht, die Dinge zum Besseren zu wenden.

SOLSCHENIZYN: Nein, das trifft nicht zu. Es gibt bei mir keinen Haupthelden. Georgij Worotynzew spielt zwar eine gewisse Rolle in den militärischen Operationen des »August vierzehn«, nämlich als Offizier im Generalstab. Ich arbeite so: Für mich ist der Hauptheld immer derjenige, dem das entsprechende Kapitel gewidmet ist. Ich muß das ganze Kapitel aus seiner Psychologie gestalten, muß versuchen, die Wahrheit dieser Figur wiederzugeben. Mehr noch. Ich richte mich sogar als Autor mit meiner Sprache - also nicht nur bei der direkten Rede der handelnden Personen - darauf ein, daß sie den richtigen Hintergrund für eben diesen Helden in eben diesem Kapitel abgibt. Daher gibt es so viele Standpunkte in meinen Romanen, wie sie Helden haben. Schon in »November sechzehn« kommt Worotynzew in eine Lage, in der er hilflos ist, er kann eigentlich gar nichts machen und sieht auch keinen Ausweg. Seine einzige Besonderheit ist vielleicht, daß er keine extremen Standpunkte einnimmt, eine mittlere Linie einhält. In »März siebzehn« ist er angesichts der Ereignisse völlig hilflos.

AUGSTEIN: Ich sehe hier einen Unterschied in der historischen Auffassung. Tolstois Feldherr Kutusow handelt eigentlich durch Nichthandeln. Die Dinge verwirklichen sich in ihrer eigenen Gesetzlichkeit. Solschenizyns Ansatz hingegen ist ein anderer, vergleichsweise. Sie haben mit dem »Iwan Denissowitsch« und dem »Archipel GULag« Geschichte gemacht. Diese Absicht hat dem Grafen Tolstoi völlig ferngelegen.

SOLSCHENIZYN: Hier scheint mir folgendes wichtig: Ich stimme mit Tolstois Interpretation von Kutusow nicht überein. In Wirklichkeit war Kutusow ein sehr erfahrener Feldherr, der viele Feldzüge gewonnen hat, ein sehr kluger Mann. Er hat die Ereignisse des Feldzuges von 1812 hervorragend gesteuert und nicht etwa deshalb gewonnen, weil er alles sich selbst überließ.

AUGSTEIN: Ich bin Ihrer Ansicht.

SOLSCHENIZYN: Ich meine, daß jeder, absolut jeder Mensch mit seinem Willen und seinen Handlungen in irgendeiner Weise auf den Gang der Geschichte einwirkt. Betrachten wir ein so grandioses Schauspiel wie die Ereignisse der ganz Rußland betreffenden, also nicht russischen, sondern »rußländischen« Revolution.

AUGSTEIN: Sie sprechen vom Februar 1917, als nicht nur das russische Volk aufstand, sondern das ganze Reich Rußland erfaßt war, samt allen nichtrussischen Völkerschaften.

SOLSCHENIZYN: So ist es, hier hat der Wille einzelner Menschen, und zwar vieler Menschen, und der Wille der Masse, die jede Selbstkontrolle verliert und von Sinnen wird, eine Rolle gespielt, auch das Verhalten der einzelnen Parteien, auch die ökonomischen Gesetze. All das ist miteinander verflochten, spielt ineinander.

AUGSTEIN: Hier darf ich vielleicht den späten Friedrich Engels zitieren, der seine Philosophie etwa in folgende Worte faßt: Jeder hat seine eigenen Interessen und Absichten, und herauskommt, was niemand gewollt hat.

SOLSCHENIZYN: Sehr viele Kraftvektoren und eine überraschende Resultierende.

AUGSTEIN: Ich sehe Sie hier in einem Spannungsverhältnis zwischen Tolstoi und Dostojewski und habe das Gefühl eben das, was Sie von Tolstoi wegzieht, das führt Sie hin zu Dostojewski. Besteht hier ein Zusammenhang?

SOLSCHENIZYN: Mit manchen Eigenschaften steht mir Tolstoi näher, mit anderen Dostojewski. Es ist schwierig, das wie auf einer Waage auszuwiegen. Mit vielen Thesen der Tolstoischen Philosophie bin ich überhaupt nicht einverstanden. Aber bitte, halten wir uns vor Augen, daß nach Tolstoi und Dostojewski in der russischen Geschichte ein Abgrund aufklafft. Wir sind ins 20. Jahrhundert wie auf einen anderen Planeten gegangen. Das Bewußtsein unseres Volkes wurde in einem solchen Maße erschüttert, daß man sehr vorsichtig sein muß, Verbindungslinien zu knüpfen und Parallelen zu ziehen.

AUGSTEIN: Hat sich die Literatur damit von Grund auf verändert?

SOLSCHENIZYN: Die Literatur, als hochkulturelles Phänomen, hat ihre eigene Tradition, die gleichsam oberhalb, in der Luft, verläuft. Ich bin der russischen Tradition, der Tradition der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts ergeben. Unter den Bedingungen dieser neuen Welt aber müssen wir uns anders verhalten und anders schreiben.

AUGSTEIN: Das ist klar. Doch immer noch sehe ich Zusammenhänge mit Dostojewski, wenn beispielsweise jemand, ich glaube Worotynzew, in »November sechzehn« von der »anonymen, von unbekannten Formeln beherrschten Masse« der Arbeiter spricht, zugleich aber von der Reinheit und Größe des russischen Bauern, des Muschik. Das ist eigentlich auch ein Grundgedanke von Dostojewski.

SOLSCHENIZYN: Da muß ich einwenden: Genau so einen Ausdruck, wie Sie ihn angeführt haben, gibt es bei Worotynzew nicht. In »November sechzehn« zeige ich sowohl die Arbeiter als auch die Bauern. Man kann überhaupt nicht sagen, daß die Arbeiter seelenlos wären. Sie haben ihr eigenes, vielfältiges Leben. Im übrigen muß ich darauf hinweisen, daß Dostojewski den Mythos vom reinen, einfachen russischen Menschen etwas übertrieben hat. Im »Dritten Knoten« - »März siebzehn« - und auch im »Vierten« - »April siebzehn« - hatte ich beim Blick auf die Revolution das entgegengesetzte Bild vor mir: Gänzlicher Unverstand ergreift die Massen, alle fangen an zu stehlen, zu rauben, einzubrechen, zu töten, so wie das in einer Revolution eben ist. Den heiligen Gottesträger, wie Dostojewski ihn gesehen hat, den gab es hier anscheinend überhaupt nicht. Das heißt nicht, daß es nicht einzelne solcher Menschen gibt. Es gibt sie. Aber sie wurden überspült von dieser roten Welle der Revolution.

AUGSTEIN: Ich möchte noch einmal auf Tolstoi zurückkommen. Wenn ich es richtig sehe, verargen Sie es ihm, daß er sich ein Gottesverständnis ohne das christliche Kreuz vorstellen kann. Und gerade das christliche Kreuz hat Sie, den früheren Marxisten und Atheisten oder Agnostiker - ich weiß nicht, welchen Ausdruck Sie bevorzugen -, zum Glauben zurückgeführt, nicht zuletzt an der Hand Dostojewskis. Ist das so?

»Die feurige Walze hat den Glauben nicht zermalmt«

SOLSCHENIZYN: Man kann nicht sagen, daß ich Tolstoi etwas verarge oder vorwerfe. In »November sechzehn« stellt ein Geistlicher lediglich fest, daß Tolstoi von den Grundpostulaten des orthodoxen Glaubens abgewichen ist. Sehen Sie, öffentlich über die eigene Haltung zum Glauben zu sprechen ist schwierig. In meiner Kindheit ist mir das orthodoxe Christentum in seiner schlichten volkhaften Form vermittelt und von mir auch so aufgenommen worden. Meine Großmutter und mein Großvater waren einfache Leute. Diese Volksfrömmigkeit wurde in der sowjetischen Schule rigoros verfolgt und unterdrückt. Es war für mich sehr schwer, diesem Druck zu widerstehen. Ich will mit Nachdruck wiederholen, in meiner Kindheit war mein Glaube so, wie das einfache Volk glaubt. Später dann, im Zuge des sowjetischen Lebens, bin ich unter den sehr starken Einfluß des Marxismus gekommen, mit dem man uns auf der Universität indoktriniert hat. So bin ich vom Glauben abgekommen. Im Lager war ich dann eine gewisse Zeit Agnostiker - in dem Roman »Im ersten Kreis« ist das niedergelegt. Aber gegen Ende meiner Lagerzeit und vor allen Dingen, als ich an Krebs erkrankte und vom Krebs wieder genas, habe ich zum Glauben zurückgefunden.

AUGSTEIN: Gläubiger Christ oder Agnostiker: Halten Sie für möglich, daß Ihr Aufwachsen in Südrußland, noch dazu in einem klassisch aufrührerischen Gebiet, Ihre Entwicklung zu einer gewissen Härte hin beeinflußt hat, zu einer gewissen Unbeugsamkeit?

SOLSCHENIZYN: Daß ich aus Südrußland stamme, und zwar aus der Gegend von Rostow am Don und Nowotscherkassk, hat eine große Rolle bei der Auswahl des Themas Bürgerkrieg gespielt und damit für »Das Rote Rad«. Aber die sowjetische Erziehung ist in der ganzen Sowjet-Union ein und dieselbe, und deshalb spielt es keine Rolle, wo man sie erhält, im Süden oder im Norden.

AUGSTEIN: Obwohl der Süden in allen Ländern immer etwas anders ist als der Norden.

SOLSCHENIZYN: Auf mich hat der Süden einen negativen Einfluß gehabt. Denn im Süden gibt es keine echte, keine reine russische Sprache. Erst als ich in den Norden kam, habe ich verstanden, was mir eigentlich fehlte, und deshalb habe ich mich in den folgenden vierzig Jahren intensiv mit der russischen Sprache beschäftigt, um den Reichtum der gesamten russischen Sprache ganz ausschöpfen zu können.

AUGSTEIN: Uns fällt auf, daß Sie seit langem einen Grundgedanken verfolgen, der besagt, die christliche Welt habe sich seit vierhundert Jahren von Gott abgewandt. Die Beweise dafür könnten Sie uns leicht liefern. Wir wagen dennoch den Einwand, daß sich die christliche Welt nur scheinbar - der Marxist würde sagen, im Überbau - Gott zugewandt hat.

SOLSCHENIZYN: Soll das heißen, daß die christliche Welt im Grunde nie eine christliche war? Also nicht nur in den letzten vierhundert Jahren, sondern überhaupt nie?

AUGSTEIN: Ja.

SOLSCHENIZYN: Meine Urteile fußen natürlich vor allem auf meinem eigenen Land, das ich am besten kenne. Das russische Volk hat das Christentum so tief und restlos in sich aufgenommen, wie man es kaum schildern und kaum verstehen kann. Das russische, auf dem Land lebende Volk nannte sich selbst nicht »Bauer«, sondern »krestjanin«, einen, der das Kreuz trägt. Das christliche Fasten wurde von den Bauern, den Kreuzträgern, freiwillig eingehalten, auch in den schwersten Arbeitsphasen, die mehr Nahrung erforderten. Genauso hielten sie die Sonntagsruhe ein, selbst wenn sie günstiges Wetter für die Feldarbeit verloren. Unser Volk, die unteren Schichten, kannte früher gar nicht den offiziellen Kalender. Der Staat hatte seinen Kalender, das Volk aber richtete sich nach dem Kirchenkalender. Jeder Tag war der Tag eines Heiligen. Der gesamte Lebensrhythmus, alle landwirtschaftlichen Arbeiten und Überlegungen richteten sich nach der Aufeinanderfolge der Namen der Heiligen.

AUGSTEIN: Im Kloster Sagorsk habe ich gesehen, wie alte Mütterchen über weite Strecken zu Fuß gelaufen sind, unter großen Entbehrungen, nur um ihrem Glauben nahe zu sein.

SOLSCHENIZYN: Wobei ich noch dazu sagen möchte, daß man sie zwar ins Dreifaltigkeitskloster, nicht aber in Sagorsk ins Hotel läßt.

AUGSTEIN: Welcher nicht prominente Russe darf sich schon in einem Hotel blicken lassen?

SOLSCHENIZYN: Der orthodoxe Glaube ist bei uns in das Gedankensystem und das Gefühlssystem eingedrungen. Als Dostojewski schrieb, war all das noch zu einem sehr großen Teil erhalten. Seit dem letzten Jahrzehnt des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist der Glaube einer Erosion erlegen, sogar auf dem Dorf. Das hat unsere Revolution vorbereitet.

AUGSTEIN: Der Abfall vom christlichen Glauben?

SOLSCHENIZYN: Ich möchte nur sagen, der Glaube saß in unserem Volk außerordentlich tief. Aber in den letzten zwanzig bis dreißig Jahren vor der Revolution ist er verwittert. Diese Erosion ging von oben nach unten. Die gebildete Mittelklasse wurde religionslos, atheistisch, und allmählich hat sich die Erosion nach unten ausgebreitet. Aber wie tief verwurzelt muß dieser Glaube sein, wenn Sie heute nach sechzig oder siebzig Jahren, in denen er von der feurigen Walze zermalmt werden sollte, diese alten Mütterchen sehen. Nach all der Zerstörung. Doch vergessen wir nicht, die alten Mütterchen sind ja in der Sowjet-Union aufgewachsen.

AUGSTEIN: Es waren auch junge Leute dabei.

SOLSCHENIZYN: Ja, heute kommen in unserem Land immer mehr junge Leute zur Religion.

AUGSTEIN: Ob einer an Gott glaubt oder nicht, ist eine sehr subtile oder gar eine scholastische Frage. Wie wollen Sie den Glauben an Gott definieren? Ich kann mir keinen Menschen vorstellen, der an Gott glaubt und nicht mindestens die Absicht hat, fromm zu sein.

SOLSCHENIZYN: Ich meine, die Geschichte der menschlichen Gesellschaften, des menschlichen Denkens, zeigt uns verschiedene Wege, an Gott zu glauben oder sich ihm zu nähern. Die einen leben einfach in der Überzeugung, daß es eine höhere Kraft, eine oberste Vernunft im Weltall gibt. Andere gehören einer konkreten Religion an und stellen sich ihren Gott so vor, wie ihre Religion es sie lehrt. Die Christen glauben an Christus. Intellektuell weniger entwickelte Leute erfahren gleichsam die Wärme des Umgangs mit Gott, schätzen in der Kirche am meisten die liturgischen Rituale. Hochintellektuelle Menschen ...

AUGSTEIN: ... Heinrich Böll beispielsweise ...

SOLSCHENIZYN: Sein religiöses Empfinden möchte ich nicht beurteilen. Schließlich gibt es Menschen, die sich ganz der Theologie widmen, der Erforschung der religiösen Wahrheiten, der Ergründung der Frage in ihrer ganzen Kompliziertheit.

»Der Marxismus hilft nie, ein wahres Bild von den Dingen zu gewinnen«

AUGSTEIN: Es gab ohne Zweifel schon vor Christus Menschen, die an Gott glaubten. Und nun gibt es ernst zu nehmende Leute, die keinen wesentlichen Einschnitt im Verhalten der Menschen, der Menschheit vor Christus und nach Christus, sehen, vor dem Ärgernis des Kreuzes und nach dem Ärgernis des Kreuzes. Mögen Sie diesen Einwand ernst nehmen?

SOLSCHENIZYN: Das Leben der Menschheit ist außerordentlich vielgestaltig. Wir sehen in allen Jahrhunderten verschiedene Niveaus der geistlichen Entwicklung. Als mein Land vor tausend Jahren das Christentum annahm und sich vom Heidentum abkehrte, hat es sich geistlich verwandelt. Es wurde zu einem anderen Land. Wenn wir jedoch von Europa oder überhaupt vom Westen sprechen, so wage ich doch zu sagen, daß in den letzten drei Jahrhunderten das allgemeine Niveau der Sittlichkeit ununterbrochen gesunken ist. Heute sind wir nicht zu dem erträumten großen Fortschritt gelangt, sondern zu so tödlichen, ungeahnten Gefahren, zu einem solchen sittlichen Verfall, wie man ihn sich im 19. Jahrhundert nicht hätte vorstellen können. Wenn es Sie interessiert, kann ich Ihnen dazu die Auffassung von Igor Sikorsky erzählen, einem großen Flugzeugkonstrukteur. Bevor er im Ersten Weltkrieg nach Amerika ging, hat er in Rußland das erste viermotorige Flugzeug konstruiert, das allergrößte jener Zeit, benannt nach einem Helden der russischen Sage: Ilja Muromez.

AUGSTEIN: Das ist doch der berühmteste Recke in den russischen Bylinen.

SOLSCHENIZYN: Im Zweiten Weltkrieg hat Sikorsky einige Flugzeug- und Hubschraubertypen entworfen. Und nicht nur das. Als ein Mann mit sehr weit gespannten geistigen Interessen hat er sich mit der Entwicklung der biologischen Arten und überhaupt mit der Philosophie des Lebens auf der Erde befaßt. Er hat ein Prinzip aufgestellt, das ich das Sikorsky-Gesetz nennen möchte. Ausgehend davon, daß jedes Lebewesen eine intellektuelle und ethische Entwicklung durchmacht, hat er folgendes postuliert: Wenn sich in einer biologischen Art die ethische Komponente unterproportional entwickelt, also hinter der intellektuellen Entwicklung zurückbleibt, so ist diese Art zur Entartung oder zum Aussterben verurteilt. Ich meine, die Menschheit hat diese Talfahrt angetreten.

AUGSTEIN: Für den Marxisten ist die Sache klar. Wo immer ein materielles Interesse gegen ein ideelles stößt, setzt sich das materielle Interesse durch. Die Ökonomie beherrscht das Geschehen. Daran ist vieles richtig, auch wenn die Marxsche Utopie sich nirgends verwirklicht hat und sich wohl nirgends verwirklichen wird. Wir kennen aus der Vergangenheit aber auch Vorgänge, die sich materiell und ökonomisch allein nicht erklären lassen, obwohl die materiellen Interessen immer auch mit im Spiel waren.

SOLSCHENIZYN: Natürlich, da will ich nichts einwenden.

AUGSTEIN: Kommen wir auf Ihr Land zurück. Nehmen wir die russische Geschichte. Uns scheint, Sie sehen hier eine Fehlentwicklung bereits vor dem Zaren Peter, als wegen vergleichsweise unbedeutender Unterschiede ein Teil der russischen Christenheit den anderen, die heute so genannten Altgläubigen, gnadenlos verfolgte. Es war wohl so, daß der Patriarch Nikon von Byzanz und Kiew her gebildeter war als sein innerrussischer Gegner Awwakum. Der Russe Awwakum wurde 1682 verbrannt. Die Streitigkeiten waren so ähnlich, wie wir sie auch in der westlichen Christenheit kennen, etwa, wenn man an den Zwist denkt, ob es »das ist« oder »das bedeutet« heißen soll. Es ging um Dinge, in die sich der heutige Mensch kaum noch hineinversetzen kann: Ob man sich mit zwei Fingern oder mit drei Fingern bekreuzigt, ob man gleichzeitig gegeneinander ansingt oder die Teile der Liturgie hübsch einen nach dem anderen singt - das waren damals auch Machtfragen ersten Ranges. Hier hilft uns der Marxismus überhaupt nicht weiter, ein richtiges Bild zu gewinnen.

SOLSCHENIZYN: Der Marxismus hilft nie, ein wahres Bild von den Dingen zu gewinnen. Der Marxismus hat unser Land durchdrungen, und dann noch zwanzig andere Länder, und man sieht ja, wohin er sie gebracht hat. Der Marxismus lehrt, die Praxis sei das Kriterium der Wahrheit. Und wir sehen die Praxis. Die Praxis hat den Marxismus widerlegt.

AUGSTEIN: Bei der Kirchenspaltung war es wohl so ...

SOLSCHENIZYN: Ich halte sie für die größte Tragödie unseres Volkes in den letzten tausend Jahren, wobei ich natürlich an die Zeit vor dem bolschewistischen Umsturz denke. Die Gegner der Religion erheben immer den Vorwurf, daß in religiösen Auseinandersetzungen ein solcher Fanatismus herrscht. Das ist ganz einfach deswegen so, weil es der Religion um das geht, was den Menschen am wichtigsten ist.

Sie haben völlig recht, Herr Augstein, daß es damals bei der russischen Kirchenspaltung tatsächlich um relativ unbedeutende Berichtigungen ging, die man vielleicht auch hätte sein lassen oder die man eine nach der anderen langsam, durch Überzeugung und mit dem Einverständnis der Betroffenen hätte einführen können. Aber sie wurden mit Gewalt durchgesetzt, durch Verfolgung der Menschen, durch Verbrennen der heiligen Bücher und schließlich durch Verbrennen der Menschen. Davon ist in einem der »Knoten« auch die Rede. Sie haben völlig recht, das Problem gab es schon vor Peter. Peter hat nur das Auseinanderdriften, die Spaltung des russischen Volkes, die Spaltung der gesellschaftlichen Schichten weiter vorangetrieben ...

AUGSTEIN: ... und die gesamte Orthodoxie in sein Herrschaftssystem eingebaut.

SOLSCHENIZYN: Ja. Aber die Volksschichten, die sich unter Peter herauskristallisierten, sind bis 1917 nie mehr zusammengekommen. Der Hauptgrund der rußländischen Revolution, der Februarrevolution, bestand darin, daß diese verschiedenen Schichten auseinandergerissen waren, sich feindlich gegenüberstanden, sich nicht mehr verständigen konnten.

AUGSTEIN: Deshalb haben sie revoltiert?

SOLSCHENIZYN: Darin lag der Hauptgrund der Revolution.

AUGSTEIN: Damit haben Sie schon eine Frage vorweg beantwortet. Aber Sie sprechen von Besonderheiten, die das russische Volk vor anderen auszeichnet, vor allem von seiner überlegenen Moral. Wie vereinbart sich das mit Ihrer Erkenntnis, niemals habe es »auf Erden ein grausameres, blutdürstigeres und teuflischeres« Regime gegeben?

SOLSCHENIZYN: Mit dieser Frage überspringen wir die gesamte rußländische Revolution. Man muß Schritt für Schritt betrachten, wie das eine in das andere überging. Die »Knoten« meines Werkes verfolgen genau dieses Ziel. Ich bin gern bereit, jetzt an einzelnen Momenten darzulegen, wie die Dinge zusammengehören. Ich brauche nicht zu wiederholen, daß Rußland aus dem 19. Jahrhundert tief gespalten in die zwei Schichten, und zwar in die der Gebildeten und die der Ungebildeten, hervorging. Nach der Bauernbefreiung aus der Leibeigenschaft 1861 wurde die Bauernschaft von der Obrigkeit mit Gewalt im Gemeindeverband festgehalten. Die Behörden verfolgten damit den Zweck, daß sie die Bauernschaft leichter kontrollieren und sie im Falle von Gesetzesverletzungen insgesamt dafür haftbar machen konnten. Auch die Steuern wurden so erhoben. Niemand durfte ein bestimmtes Stück Ackerland für eine längere Zeit behalten. Es gibt immer bessere und schlechtere Lagen. Diese verschieden guten Ackerstücke wurden in schmale Streifen aufgeteilt. Keiner konnte dort unabhängig vom Nachbarn anpflanzen, was er wollte; der Boden wurde an ein und demselben Tag gesät, an ein und demselben Tag geerntet. Es hatte auch keinen Sinn, unter diesen Bedingungen viel Mühe für Düngung und anderes aufzuwenden. Nach drei Jahren wurde alles wieder umverteilt. Ein absurdes System, das unsere Wirtschaft am Boden gehalten hat. Es behinderte jede ökonomische Verbesserung, jede freie Entscheidung, was angebaut werden soll, jegliche Freiheit, etwas besser oder schlechter zu machen. Und das Erstaunlichste: Wer war denn nun für dieses System? Wer war denn der Reaktionär in Rußland? Erstens die Obrigkeit ...

AUGSTEIN: ... der Zar ...

SOLSCHENIZYN: ... zweitens die Sozialisten! Warum? Weil das schon ein Kolchos war, schon Sozialismus. Man brauchte also nur noch den Zaren umzubringen, und dann hatte man schon einen sozialistischen Staat. Und da waren drittens die, die sich selbst Liberale nannten, aber in Wirklichkeit Radikale waren - die »Kadetten« (Konstitutionelle Demokraten). Da sie, nämlich die gebildeten Schichten, begriffen, was mit der Bauernschaft los war, sich mit den Sozialisten aller Schattierungen nicht zerstreiten wollten, mit denen sie einen linken Block bildeten, kam es dazu, daß Rußland in die Armut absank und sich nicht entwickeln konnte.

AUGSTEIN: Aber es gab nach der Revolution von 1905 den Versuch einer Reform von oben unter dem Premier Stolypin, dessen Bild hier über Ihrem Schreibtisch hängt.

SOLSCHENIZYN: Er leitete eine energische Gruppe von Fachleuten und Staatsmännern, und er war ja derjenige, der dieses System der Gesamthaftung des Gemeindeverbandes zerstören wollte. Stolypin bemühte sich um ein Landwirtschaftssystem im westlichen Sinne, mit selbständigen Bauern.

Nie ein »grausameres, blutdürstigeres und teuflischeres« Regime?

AUGSTEIN: Er verlor das Wohlwollen des Zaren. Als er 1911 ermordet wurde, war er politisch schon ein toter Mann.

SOLSCHENIZYN: Das war nicht ganz so. Er hat diese Reform durchgeführt. Die Staatsduma dagegen, unser Parlament, hatte drei Jahre lang versucht, diese Reform abzuwürgen. Wer war hier nun der Liberale, und wer war der Reaktionär? Stolypin war der Liberale! Doch Sie haben völlig recht, daß die extreme Rechte ihn haßte. Auch die extreme Linke. Er hat seine Reform trotzdem durchgeführt. Seine Idee war, den Bauern von der ökonomischen Abhängigkeit zu befreien, dann werde er zum Bürger. Zunächst müsse man den Bürger schaffen, dann entstehe auch Bürgerbewußtsein.

AUGSTEIN: Es gab in Rußland keinen Mittelstand.

SOLSCHENIZYN: Deshalb führte Stolypin bis zu einem bestimmten Grade dieses neue System der Einzelgehöfte nach westlichem Vorbild tatsächlich ein.

AUGSTEIN: Wer hat sich diesen Reformen entgegengestellt, wer hat sie wieder rückgängig gemacht?

SOLSCHENIZYN: Die Provisorische Regierung hat Stolypins Reform nach der Februarrevolution 1917 rückgängig gemacht. Die Bolschewiken haben nach dem Oktober die Einzelgehöfte verboten und endgültig vernichtet. Ich will damit deutlich machen, warum ich so viel Aufmerksamkeit auf Stolypin lenke, nicht nur hier in unserem Gespräch, sondern auch in meinem Buch. Er war ein wirklicher Liberaler, der versuchte, die Wirtschaft zu befreien und die Menschen zu einem Bürgerbewußtsein hinzuführen.

AUGSTEIN: Stolypin hätte die Oktoberrevolution verhindern können? Ihr Buch »November sechzehn« schildert Rußland schon als reif für den Umsturz.

SOLSCHENIZYN: Beileibe nicht! Gehen wir zur nächsten Frage, die schon dem »November sechzehn« näher ist. Dank der Freundlichkeit meines Verlegers Piper konnte ich vierzig Rezensionen meines Werkes »November sechzehn« lesen. Die Besprechungen zu »August vierzehn« von 1972 habe ich nicht lesen können, weil die sowjetische Zensur sie kassiert hatte. Jetzt habe ich bei der Lektüre von Rezensionen viel gelernt, was das Deutschland von heute über das Rußland von damals weiß, und auch, was es vom heutigen Rußland weiß - und was nicht. In den Besprechungen ist zum Beispiel verhältnismäßig weit die Meinung verbreitet, Solschenizyn schildere Rußland in »November sechzehn« als reif für die Oktoberrevolution. Was ich schildere, ist tatsächlich die ungeheure innere Spannung, die in diesem Staate herrschte. Die Spannung zwischen den Schichten, das völlige gegenseitige Unverständnis führte dahin, daß die Lage labil wurde. Man wußte nicht, wohin die Reise ging.

AUGSTEIN: Und der Krieg war für Rußland verloren.

SOLSCHENIZYN: Nein, damals noch nicht. Erstens hatte Rußland Bundesgenossen, zweitens war Anfang 1917 die Versorgung der Truppe sehr gut. Die Artillerie hatte zum Beispiel Anfang 1917 überhaupt alles, was sie brauchte. Rußlands Schwäche bestand im Konflikt der Gesellschaftsschichten, und diese Spannung hatte tatsächlich eine Instabilität geschaffen. Die Revolution war nicht unvermeidlich, aber sie konnte ausbrechen.

AUGSTEIN: Man muß aber doch sagen, daß die Selbstherrscher in Rußland, in Deutschland und in Österreich-Ungarn den Problemen nicht gewachsen waren, welche die Demokratien leichter lösten. Der Zar konnte nicht regieren.

SOLSCHENIZYN: Über die innere Lage in Österreich-Ungarn oder Deutschland möchte ich nicht sprechen. Was ich sagen kann, ist dies, daß der den alten zaristischen Staatsapparat ablösende neue Staatsapparat erheblich schlechter war als der alte zaristische. Zu behaupten, daß der Zar nicht regieren konnte, wäre nicht richtig. Der Zar konnte nur keine gemeinsame Sprache mit den gebildeten Schichten finden, und diese wiederum vermochten sich nicht mit dem Volk zu verständigen. Aber ich möchte den Faden nicht verlieren. Die Revolution konnte ausbrechen oder auch nicht. Doch welche Revolution? Die rußländische, die dann im Februar auch kam. Was jedoch die Oktoberrevolution angeht, so ist es ein lächerliches Gerede, sie habe sich schon 1916 in der Vorrevolutionsphase abgezeichnet. Nein, nichts hat zu ihr hingeführt, selbst Lenin hat im Februar 1917 in der Schweiz auf einer öffentlichen Versammlung gesagt: »Unsere Generation wird die Revolution nicht erleben«, er habe beschlossen, in die Vereinigten Staaten auszuwandern.

AUGSTEIN: Gerade das hat mir an Ihrem Buch so gut gefallen. Ich habe aus ihm, besser als durch irgendein historisches Werk, verstanden, warum die erste, die von Ihnen so genannte rußländische Revolution so kam und kommen mußte.

SOLSCHENIZYN: Gut, gut. Als sie nun kam - ich hoffe, daß der deutsche Text des »März siebzehn« Sie auch irgendwann einmal erreicht -, geschah etwas Überraschendes. Es brach plötzlich eine uneingeschränkte Freiheit aus. Sie war so uneingeschränkt wie noch nie in Europa. Diese Freiheit des Februar breitete sich sehr schnell von oben nach unten aus: Die einfachen Arbeiter konnten arbeiten oder auch nicht, konnten Geld verlangen, ohne zu arbeiten. Sie konnten ihre Meister und Ingenieure verprügeln, und die Soldaten konnten ihre Offiziere umbringen und die Front verlassen. Die Bauern konnten die Gutshöfe und Mühlen zerstören, konnten rauben und stehlen.

Obwohl die Periode der sogenannten Februarrevolution acht Monate beträgt, herrschte in Wirklichkeit drei Monate nach der Revolution bereits völlige Anarchie. Die Provisorische Regierung (die Kadetten) war nicht in der Lage, das Land zu regieren. Sie hat es zu dieser Anarchie kommen lassen. Das Land fiel auseinander, nicht wegen eines Mangels an Rechten, sondern wegen eines irrsinnigen Mißbrauchs der Rechte und Freiheiten. So hat die Februarrevolution dazu geführt, daß das ganze Land sozusagen auf der offenen Hand lag, für jeden Beliebigen: Nimm, was du willst. Dann, erst dann, wurde der Oktoberumsturz unausweichlich.

AUGSTEIN: Hier muß ein Einwand kommen: Die Selbstherrschaft des Zaren hinterließ keine funktionsfähigen Institutionen. Sie lassen in Ihrem Buch »November sechzehn« die Geliebte des Helden Worotynzew sagen: »Für das einfache Volk ist es natürlich, einen persönlichen Willen über sich zu haben. Die Monarchie wiederholt im kleinen die große Weltordnung. Von allen wird einer anerkannt, der gnädig oder streng ist, zu dir ebenso wie zu deinem Feind.« Was erwarten Sie, wenn dieser Führer versagt?

SOLSCHENIZYN: Damit wird ein Argument der Monarchisten wiedergegeben, es ist nicht etwa ein Argument des Autors. Ihm stimmt auch Worotynzew nicht zu.

AUGSTEIN: Verstehe.

SOLSCHENIZYN: Aber in dem damaligen Regierungsapparat gab es natürlich eine große Menge hoher Beamter, die nicht arbeiten wollten, aber es gab auch viele gesunde, sehr erfahrene Leute, die Stolypin anführen konnte, um große Reformen durchzuführen. Diesen gesunden Kräften im Staate stand in allererster Linie die verknöcherte Spitze der Beamtenschaft in den höchsten Schichten, in der Umgebung des Zaren, im Wege.

AUGSTEIN: Schon der Machtantritt des Volksbeauftragten Gutschkow bei Kriegsbeginn eröffnete ja eine Art Doppelherrschaft.

SOLSCHENIZYN: Also noch vor der Revolution, ja! Da der Zar der Meinung war, er müsse der Gesellschaft etwas Gutes tun, hat er die Gründung solcher Organisationen wie des Semgor, der kommunalen Selbstverwaltung, und der Kriegsindustrie-Komitees zugelassen.

»Drei Monate nach der Februarrevolution bereits völlige Anarchie«

AUGSTEIN: Was für Befugnisse hatten die schon?

SOLSCHENIZYN: Fünfundneunzig Prozent ihres Haushalts haben sie aus der Staatskasse bekommen - ohne jede Kontrolle. Und sobald die Forderung nach Kontrolle ihres Gebarens aufkam, haben sie sich aufgeregt und gesagt, das sei unzulässig. Ihren Arbeitsplan haben sie sich selbst aufgestellt - nach eigenem Belieben. Die Granaten, die sie herstellten, waren teurer als die von den staatlichen Unternehmen. Dann haben die so eine Tätigkeit entfaltet, wie sie Soldaten gefällt: Wir sind die, die alles machen für die Armee; da haben Sie recht, Herr Augstein, das war Doppelherrschaft. Es war eine Folge der Tatsache, daß es eben keine normale Beziehung zwischen der staatlichen Obrigkeit und der gebildeten Schicht gab.

AUGSTEIN: Alexander Issajewitsch, ich muß zurück in die Geschichte. Gegen Zar Peter scheinen Sie aus Ihren kirchlichen Kindheitstagen ein lebenslanges Ressentiment bewahrt zu haben; ich bitte, das Wort Ressentiment nicht negativ aufzufassen. Sie nehmen ihm auch sicherlich übel, daß er die innerkirchlichen Streitigkeiten ausgenutzt hat, um sich die orthodoxe Kirche einzuverleiben. Das ist nun aber nicht neu, das haben ja viele christliche Herrscher getan, und Zar Peter war vermutlich gar kein Christ.

SOLSCHENIZYN: Ressentiment oder Übelnehmen, nein, aber ein Nicht-Annehmen. Ich heiße es nicht gut.

AUGSTEIN: Sie gelten bei einigen Leuten als »überzeugter Großrusse«, aber ich glaube, Wort und Tat widerlegen das. Sie haben noch im Lager, zwischen 1945 und 1953, in »Der Weg« folgende Verse geschrieben, die ich zitieren will:

Natürlich, Fortschritt, aber ich bin da ein Abweichler. Mit welchem Recht wurde unser Land in diese Richtung getrieben? Hier ist doch folgender Punkt, ich nenne das den schwedischen Weg. »War denn gerechtfertigt, was Poltawa uns gekostet hat?« 200 Jahre Eroberung, Eroberung, Eroberung - Vernichtung und endlose Kriege mitallem, mit allem Ruin -

Und nun kommt es:

Aber die Schweden, die wir an der Worskla geschlagen haben, sind inzwischen fett geworden wie Kapaune.

Mir gefällt das Gedicht und auch die Moral, aber man fragt sich, ob man dem russischen Bären verwehren kann, was alle anderen auch getan haben. Schweden ist doch nicht freiwillig friedlich geworden, sondern aufgrund einer zu geringen Bevölkerung und mangelnder Ressourcen.

SOLSCHENIZYN: Sie haben damit angefangen, ich würde mich von Zar Peter abgestoßen fühlen, weil er die Kirche dem Staat unterworfen hat. Aber das ist nicht das Zentrale seines Handelns. Meine Einstellung zu Peter wird nicht hauptsächlich von dieser Tat bestimmt. Es ist etwas ganz anderes, warum ich ihn nicht akzeptiere: weil er mit gewaltsamen Mitteln die Kultur, die Kultur des alltäglichen Lebens und die Weltauffassung unseres Volkes zerstört hat, allein zu dem Zweck der raschen Militarisierung und um seine »auswärtigen Vorhaben« zu verwirklichen. Und das in einem Tempo, das nicht auszuhalten war. Was zwei Jahrhunderte benötigt hätte, hat er in zwanzig Jahren erzwungen.

AUGSTEIN: Das ist sozusagen die »preußische Überanstrengung«.

SOLSCHENIZYN: Mir liegt am meisten daran, daß sich das Volksleben natürlich und in geordneten Bahnen entwickelt. Ich bin nie ein Anhänger der imperialen Machtentfaltung gewesen.

AUGSTEIN: Das war Peter ...

SOLSCHENIZYN: Peter war es. Aber in Ihrer Frage klang so nebenbei an, wie man im Westen über mich denkt. Was man über mich sagt und schreibt, über mich - wie es bei uns heißt - lügt wie über einen Toten ...

AUGSTEIN: »Ein großrussischer Chauvinist. »

SOLSCHENIZYN: Das ist nur der Anfang. Wirklich, über mich lügen sie wie über einen Toten.

AUGSTEIN: Aber die Leute in Deutschland unterscheiden auch nicht zwischen dem Literaten Dostojewski und dem politischen Publizisten Dostojewski, der nun wirklich ein großrussischer Chauvinist war - selbst Indien wollte er noch haben.

SOLSCHENIZYN: Konstantinopel wollte er auch haben, leider.

AUGSTEIN: In seinen großen Romanen ist aber davon nichts zu spüren. Ich muß noch eine Frage anhängen. In der deutschen Ausgabe, ich weiß nicht, ob das richtig übersetzt ist, es geht um die Kirchenspaltung, heißt es, »hier pfuschte auch Peter hinein«; was war da wohl gemeint?

SOLSCHENIZYN: Worauf bezieht sich das?

AUGSTEIN: Auf die Kirchenspaltung, die ja vor Peter war.

»Politische Publizistik ist linear, künstlerische Wahrnehmung umfassend«

SOLSCHENIZYN: Gemeint ist da einfach, daß Peter und Katharina die Verfolgung der Altgläubigen fortsetzten.

AUGSTEIN: Ja, aber sie haben noch mehr getan. »Fortsetzen« ist ein bißchen wenig. Ich hatte als Kind, als Meßdiener in Hannover, einen Jesuitenpater namens Kologriwow. Er kam aus Rußland, aus St. Petersburg. Er bestand mir gegenüber darauf, daß die zaristische Autokratie die positive Seite des russischen Wesens sei und die Diktatur Lenins und Stalins die negative. Er war ein zorniger Herr, einmal hat er mir sogar das Meßbuch vor die Füße geworfen, als ich es ihm nicht rechtzeitig von der einen Altarseite auf die andere getragen habe. Ich frage nun, ob man in solchen Schwarzweiß-Begriffen denken kann und darf, ob der Kommunismus nicht irgendwelchen Bedürfnissen dieser Welt entspricht, die sich in ein einziges Schema niemals passen und fügen wird, sogar bei Strafe des Untergangs nicht.

SOLSCHENIZYN: Sie haben ja richtig bemerkt, daß man den Publizisten Dostojewski nicht mit dem Schriftsteller, mit dem Künstler Dostojewski verwechseln darf. Das ist das, was ich anfangs sagte: Politische Publizistik ist linear, während die künstlerische Wahrnehmung umfassend ist. Wenn ich nun anfangen würde, über die Rolle der russischen Autokratie im Laufe der Jahrhunderte zu sprechen oder über die Ausbreitung des Kommunismus über die ganze Welt, dann würde ich notwendigerweise als politischer Publizist auftreten. Das möchte ich nicht mehr.

Als Künstler aber habe ich konkret die russische Autokratie, den russischen Staat und seine Gesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts gestaltet. Da wage ich zu behaupten: Ich habe bisweilen Sachen gesagt, die viel bitterer gewesen sind als das, was mir manche politischen Publizisten entgegenhalten, und zwar Publizisten, die für die russische Geschichte nicht kompetent sind.

AUGSTEIN: O Gott, jetzt kommt Richard Pipes!

SOLSCHENIZYN: Ich könnte Ihnen Beispiele für deren Inkompetenz aufzählen. In meiner künstlerischen umfassenden Darstellung hingegen kann man alles sehen, so wie es lebt. Da war noch der Rest einer Frage übrig ...

AUGSTEIN: Wie, Alexander Issajewitsch, ist es dazu gekommen, daß sich Rußland dem Bolschewismus unterworfen hat?

SOLSCHENIZYN: Um das zu erzählen, muß ich die literarische Serie meiner historischen »Knoten« weiter fortsetzen. Doch eine Bemerkung kann ich auch jetzt machen: Der Kommunismus ist selbstverständlich kein auf eine Nation beschränktes Phänomen. Er spricht von Internationalismus, er nennt sich selbst international, er ist ein International-Sozialismus.

AUGSTEIN: Das Wort Internationalismus muß ja nicht schlecht sein.

SOLSCHENIZYN: Ich möchte ihm den Begriff des Kosmopolitismus entgegensetzen, den ich entschieden höher werte. Lateinisch inter heißt zwischen, das meint nicht, daß Internationalismus die Nationen in sich aufsaugt. Er heißt eben Internationalismus, also zwischen den Nationen. Entgegen ihren offiziellen Äußerungen unterdrücken die Kommunisten alle nationalen Kulturen. Der Kosmopolitismus dagegen nimmt alle nationalen Kulturen bewahrend in sich auf. Das findet sich auch bei Dostojewski in dem Begriff vom Gesamtmensch und von der Gesamtmenschheit. Nur muß der Kosmopolitismus ehrlich, anständig sein bis zur letzten Konsequenz.

Leider hat man in Europa den Kosmopolitismus immer nur als gesamteuropäisch verstanden, er vereinte nur ganz Europa und nicht die Welt. In Wirklichkeit besteht die Menschheit aus vielen Kulturen, die sich durchaus nicht parallel zueinander entwickeln, sondern auch in verschiedene Richtungen gehen. Wir müssen jetzt den gleichen Respekt für alle hegen, nicht nur für die Kulturen der Alten oder der biblischen Welt, sondern auch für die mohammedanische, indische, chinesische, japanische, russische Kultur, auch für die Kulturen kleiner Völker jenseits des Polarkreises oder auf den polynesischen Inseln. Wenn wir allen Achtung zollen ...

AUGSTEIN: ... ohne europäischen Chauvinismus ...

SOLSCHENIZYN: ... wenn wir auf den Anspruch verzichten zu sagen: Macht alles wie wir, lebt alle nach unserem Muster, dann ist alles richtig; das ist Kosmopolitismus.

AUGSTEIN: Ich will ja gar nicht den Künstler Solschenizyn mit dem politischen Schriftsteller verquicken, das sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Für das Verständnis seines imposanten Werkes ist aber doch eine klare Antwort auf die Frage höchst wichtig: War die Leninsche Revolution eine wirkliche Unterbrechung, ein Abbruch, oder ist sie in einer Tradition zu sehen, die vom Zaren Peter und vielleicht noch früher begründet wurde und sich fortentwickelt hat.

SOLSCHENIZYN: Der Zustand Rußlands, wie ich ihn in »November sechzehn« dargestellt habe, bietet für die Oktoberrevolution und die Machtergreifung der Bolschewiken keine Voraussetzung, das konnte so oder so ausgehen. Dagegen hat der Zustand Rußlands im März, April, Mai 1917 den Oktoberumsturz unausweichlich gemacht.

AUGSTEIN: Nicht der Zar hat die Zeit der Wirren produziert, sondern der republikanische Ministerpräsident Kerenski?

SOLSCHENIZYN: Der Kommunismus ist nicht aus dem alten Regime Rußlands hervorgegangen, sondern aus diesem Februar-Gebilde. Aber diese Situation beschränkt sich bei weitem nicht nur auf Rußland. Sie hat sich in verschiedenen Ländern wiederholt. Ich bin weit davon entfernt zu behaupten, der Kommunismus sei völlig unerwartet in der Welt aufgetaucht. Der Kommunismus ist nur das linke Extrem des International-Sozialismus. Mehr nicht. Unsere Februar-Situation, diese völlig labile und anarchische Situation, hat den Weg frei gemacht, und sie ist nicht charakteristisch für Rußland allein. Wir haben jetzt etwa fünfzehn Kommunismen in verschiedenen Ländern. Es wäre also naiv zu sagen, der Kommunismus Kubas, Nicaraguas, Äthiopiens, Vietnams oder Chinas stamme von Peter I.

AUGSTEIN: Muß die Anarchie im Gefolge einer bürgerlichen Revolution in den Kommunismus führen, oder war nicht die Person Lenin konstituierend für seine eigene Revolution? Hätte jemand anderes ihn ersetzen oder einen anderen Weg gehen können?

SOLSCHENIZYN: Sie kennen meine Meinung, daß der Gang der Geschichte bestimmt wird sowohl von Persönlichkeiten als auch von den Zielrichtungen der Parteien, dem Chaos der Menge, der Ökonomie. Das kommt alles zusammen. Die Situation Rußlands im April und Mai 1917, die Folge der rußländischen Revolution, hat der extremsten linken Strömung alle Wege geöffnet. Lenin hatte die geniale Fähigkeit, eine Situation auszunutzen. Er hat das so gemacht, wie es am besten für ihn war, und hat es auch äußerst schnell durchgeführt. Aber man darf nicht annehmen, daß die Ausgangslage, wenn es keinen Lenin gegeben hätte, nicht in den Kommunismus hätte einmünden können. Es gab noch andere, ausgeprägte ...

AUGSTEIN: ... da hätte dann eben Trotzki einen anderen Lenin abgegeben ...

SOLSCHENIZYN: Ja, Trotzki, Krassin, Sinowjew, Kamenjew, Dserschinski, Swerdlow - viele. Sie hätten es vielleicht nur nicht so schnell und so geschickt gemacht.

»Lenin hatte die geniale Fähigkeit, Situationen auszunutzen«

AUGSTEIN: Ihren Weltruhm, Alexander Issajewitsch, verdanken Sie Werken, die Sie unter unglaublichen Bedingungen in Rußland verfaßt haben. Sie mußten beispielsweise ganze Passagen immer wieder auswendig lernen, weil man Ihnen alles Geschriebene weggenommen hätte. Und nun sind Sie frei, zu schaffen und zu schreiben, und Sie haben sich jetzt eines der monumentalsten Werke vorgenommen, von denen die Weltgeschichte weiß. Zwei Bände liegen vor, der dritte ist in Arbeit. Offenkundig wollen Sie die Geschichte von 1914 bis zur Vollendung der Leninschen Diktatur 1918 neu aufarbeiten.

SOLSCHENIZYN: Neu im Vergleich wozu - zu dem, wie die Kommunisten die Geschichte darstellen?

AUGSTEIN: Ja, zur Partei-Historiographie, aber auch zu den im Westen vorliegenden Forschungsergebnissen.

SOLSCHENIZYN: Ich habe hier im Westen Arbeitsmöglichkeiten gefunden, wie ich sie mir in der Sowjet-Union nicht einmal hätte träumen lassen. Dort waren mir sogar die besten sowjetischen Quellen unzugänglich. Ich durfte nicht in Moskau wohnen, der Zugang zu den großen Bibliotheken wurde mir verwehrt, ganz zu schweigen von all den Quellen, die im Westen herausgekommen sind. Außerdem ist es mir hier im Westen gelungen, dreihundert Menschen persönlich zu befragen, die Teilnehmer der Revolution waren. Aber in der Sowjet-Union hatte ich kein Recht, Zeitzeugen aufzusuchen, ihnen Fragen zu stellen. Auch hätte kaum einer geantwortet, aus Furcht ...

AUGSTEIN: Wie kann jemand unter solchen Umständen arbeiten?

SOLSCHENIZYN: Das muß jeder, der heute in der Sowjet-Union gedruckt wird, obwohl inzwischen die Rahmenbedingungen etwas weiter gezogen sind. Aber ich kann es dem deutschen Leser erleichtern oder ihn erfreuen, eine so riesige Anzahl »Knoten«, wie ich glaubte, muß ich nicht schreiben. Und zwar aus folgendem Grund: Ich muß berücksichtigen, daß in unserer Zeit die Leute weniger lesen und auf die Geduld meiner Leser Rücksicht nehmen muß. Außerdem erlaubt mir mein Alter nicht mehr, immer neue große Aufgaben anzupacken. Und das Wichtigste: Ich nähere mich mit der Arbeit dem Ende des »Vierten Knotens«.

Das Buch geht nach dem alten russischen Kalender am 5. Mai 1917 zu Ende. Da sehe ich, daß das Bild bereits vor mir liegt, das ich soeben schilderte: Rußland griffbereit für den Bolschewismus. In gewissem Sinne habe ich meine Aufgabe erfüllt. Natürlich hätte ich Lust, wäre es sehr interessant weiterzuarbeiten: der Oktoberumsturz und was im Jahre 1918 kam. Aber dazu wird es nicht mehr kommen. »August vierzehn« besteht aus zwei Bänden, »November sechzehn« auch, in Deutschland und in Frankreich sind sie jeweils in einem Band herausgekommen. Mit zwei Bänden »März siebzehn« und einem »April siebzehn« steht dem deutschen Leser nur noch eine Geduldsprobe für drei Bände bevor.

AUGSTEIN: Sie bersten vor Schaffenskraft, aber muten auch Ihrem Leser einiges zu. Er muß mitarbeiten, darf sich manchmal auch nicht entmutigen lassen.

SOLSCHENIZYN: Ich habe natürlich immer den russischen Leser vor mir. Für den westlichen Leser müßte ich die Zeit finden, etwas verkürzte Fassungen zu schreiben. Aber diese Zeit hatte und habe ich nicht. Deshalb habe ich die Übersichts-Kapitel verfaßt. Die Leser dürfen sie auch überschlagen. Die russischen Details braucht der Westen nicht, aber das Gesamtbild ist auch für den Westen sehr lehrreich. All das kann im Westen passieren.

AUGSTEIN: Durchaus. Ich weiß nicht, wer Shakespeare war und wie er gearbeitet hat, aber der Anspruch und die Willenskraft, mit denen Sie den Leser schier überfallen, die erscheinen mir einzigartig. Wieder zeigt sich da der alte Solschenizyn, der mit Rosenkränzen aus Brotkügelchen auswendig lernt, was er schreiben ja nicht durfte, und wenn geschrieben, gleich wieder vernichten mußte. Ich habe überhaupt keinen Vergleich in der Weltliteratur für diesen Willen.

SOLSCHENIZYN: Ich möchte nicht annehmen, daß ich den Leser überfalle.

AUGSTEIN: Man will ja gern überfallen werden.

SOLSCHENIZYN: Meistens biete ich dreißig, vierzig verschiedene Gesichtspunkte. Dokumentarisch gebe ich nur die Tatsachen wieder. Ich weiß, daß jede Auswahl auch eine Wertung bedeutet. Aber ich habe sie so repräsentativ wie möglich getroffen. In den Übersichts-Kapiteln stehen einige kurze Bemerkungen von mir, die für das Verständnis unabdingbar sind. Die berühmte Rede Miljukows, zum Beispiel, in der er die Kaiserin angriff, sie führe Separatverhandlungen mit den Deutschen.

AUGSTEIN: Er berief sich auf die Wiener »Neue Freie Presse«, die er auf deutsch zitierte, damit der Duma-Präsident ihn nicht verstehen konnte.

SOLSCHENIZYN: Das war im November 1916. Im Juli 1917 aber hat er vor der Außerordentlichen Untersuchungskommission dazu Aussagen gemacht. Da wurde ihm entgegengehalten, er habe doch gesagt, daß die Naryschkina, eine Vertraute des Hofes, mit einem Auftrag von Wilhelm gekommen sei. Er hat geantwortet, sie sei es nicht gewesen, sondern eine andere Naryschkina. In solchen Fällen muß ich die Dokumente jener Zeit heute als Autor kommentieren.

AUGSTEIN: Alexander Issajewitsch, ich finde manchmal, Sie bieten uns auch Steine statt Brot. Es stehen zu viele »leider« in Ihrer Geschichte.

»Leider hat der Zar versagt«, »leider hatte er keine gute Regierung«, »leider haben die sogenannten fortschrittlichen Kräfte zuviel und zuviel auf einmal gewollt«. Und leider wird dann auch noch Lenin kommen. Ich denke aber, daß da Tolstoi recht hat: Die Weltgeschichte besteht aus diesem »leider«. Ihr Geschichtsverständnis mutet den Leuten zuviel zu. Man kann nicht davon ausgehen, daß immer alles gutgeht. Man muß eigentlich davon ausgehen: Es geht alles immer so, wie es geht.

SOLSCHENIZYN: Ich weiß nicht, ob Sie in meinen Werken viele Stellen finden, wo ich als Autor selbst »leider« sage. Das sagen verschiedene Figuren. Die haben das Recht, zu leiden und zu bedauern.

AUGSTEIN: Ich habe das genau untersucht und unterschieden. Die ganze Weltsicht des Autors ist ein großes »leider": Leider scheiterte Stolypin, versagte der Zar, erhob sich das Volk, fiel in Zügellosigkeit - leider.

SOLSCHENIZYN: Außer in den kleinen Bemerkungen in den Übersichts-Kapiteln spricht bei mir der Autor überhaupt nicht. Die Übersichts-Kapitel bestehen im wesentlichen aus Zusammenfassungen von Dokumenten. Wenn es in der Geschichte einfach wäre und sie sich leicht darstellen ließe, oder wenn ich meine Gedanken einfach unmittelbar hätte ausdrücken wollen, hätte es nicht eines so komplizierten Gebildes wie eines Romans mit Hunderten von handelnden Personen bedurft. Außerdem vergessen Sie bitte nicht, ich schildere nicht irgendeinen Abschnitt der Geschichte unseres Landes, sondern den unglücklichsten. Alle Beteiligten sehen, daß es ein Unglück ist, und keiner kann dem abhelfen. Dabei habe ich aus dem Ersten Weltkrieg nur die Niederlage Samsonows geschildert.

AUGSTEIN: Die Schlacht von Tannenberg und den Selbstmord des russischen Befehlshabers.

»Das Material, das ich vorfand, hat mich erschüttert«

SOLSCHENIZYN: Ich hätte auch eine siegreiche Schlacht wählen können.

AUGSTEIN: Sie hätten auch den ganzen Zweiten Weltkrieg schildern können und haben sich wiederum mit Ostpreußen begnügt. Übrigens lagen wir damals, 1944, ganz dicht beieinander - der Hauptmann der Roten Armee Solschenizyn und der deutsche Artillerist Augstein.

SOLSCHENIZYN: Ach, Sie waren damals in der Nähe, auf der anderen Seite.

AUGSTEIN: Es ist klar, daß der heute gezwungenermaßen im Exil lebende Alexander Solschenizyn anders denkt und schreibt als jener Artilleriekommandeur, der 1945 in Ostpreußen wegen einiger naiver Passagen in einem Brief an einen Jugendfreund zu einer vergleichsweise milden, wenn auch unter Umständen tödlichen Strafe verurteilt wurde. In einem Grundzug sind Sie sich bis heute gleichgeblieben: Sie haben eine unvergleichliche Gabe, die Wirklichkeit zu erkennen, aber gleichzeitig auch die große Gabe, sie nicht anzuerkennen, wenn Sie wissen, was ich meine. Immerhin, in Ihrem Briefwechsel sprechen Sie von der Notwendigkeit einer zweiten Partei in der Sowjet-Union. Das war ja wohl Verrat an den heiligsten Gütern eines Sowjetmenschen.

SOLSCHENIZYN: Natürlich. Wenn ich heute anders schreibe als zu jener Zeit, da ich mit dieser Arbeit angefangen habe, und das sind jetzt schon fast fünfzig Jahre, dann hängt das nicht damit zusammen, daß ich aus der Sowjet-Union in den Westen gekommen bin, und auch nicht damit, daß ich aus schlechten Lebensumständen in gute Lebensumstände gekommen bin, sondern das Material, das ich vorfand, hat mich erschüttert. Ich wundere mich, Herr Augstein, daß Sie den Eindruck gewonnen haben, ich stünde mit der Wirklichkeit auf Kriegsfuß und würde sie nicht anerkennen. Das stimmt nicht, ich wüßte nicht, wo.

AUGSTEIN: Ich bin mißverstanden worden: Alexander Solschenizyn steht mit der Wirklichkeit auf außerordentlich gutem Fuß, will sie aber trotzdem nicht anerkennen.

SOLSCHENIZYN: Nehmen wir zum Beispiel meine »Krebsstation": Da ereignen sich fürchterliche Dinge, die Leute sterben, sie kämpfen um ihr Leben, es steht Leben gegen Tod. Wo könnten Sie bei mir irgendwie lesen, daß ich den Tod nicht akzeptiere? Ich akzeptiere gleichermaßen Tod und Leben. Ich habe übrigens nach der »Krebsstation« viele Briefe bekommen, auch Briefe von Ärzten, da hieß es, ich sei wohl Arzt, sogar Onkologe. So wirklichkeitsnah ist jedes Detail im Roman.

AUGSTEIN: Was hatten Sie selbst für eine Überlebenschance?

SOLSCHENIZYN: Eine sehr geringe.

AUGSTEIN: Noch einmal zum Krieg: Sie fochten in einem gerechten Krieg, ich nahm an einem Krieg teil, von dem ich überzeugt war, er müsse unbedingt verloren werden. Ihr Krieg wurde ein ungerechter, unser Krieg war es von Anfang an. Stimmen wir in dieser Definition überein?

SOLSCHENIZYN: Sehen Sie, zu jener Zeit war ich davon noch überzeugt, war erfaßt vom Marxismus, und ich verstand noch nicht, daß wir uns mit unseren Siegen eine Grube gruben. Wir waren zu der Zeit auch noch nicht bis nach Osteuropa gekommen. Daß wir halfen, die Stalinsche Tyrannei für weitere dreißig Jahre zu sichern, kam uns nicht in den Kopf. Die aktive sowjetische Propaganda lief auch so: Nach dem Krieg wird alles anders, da gibt es keine Kolchosen, da gibt es Meinungsfreiheit. Wir kamen uns so stark vor, wir Frontkämpfer. Wir kommen zurück in die Heimat, da ändern wir alles, da bringen wir alles in Ordnung.

AUGSTEIN: Noch einmal den Artilleristen im Unterstand vor Augen: Wir haben solche Gespräche, wie Ihr Artillerieoffizier Sanja sie im Jahre 1916 mit seinem Feldgeistlichen fuhrt, nicht gekannt. Ich halte für möglich, daß christlich erzogene Russen in diesem Punkt doch anders sind als Deutsche. Ihr Sanja spricht und denkt nach über den im 17. Jahrhundert verbrannten Awwakum und über die Spaltung der russischen Christenheit. Ausdrücklich lassen Sie ihn sagen, der beste Teil des Volkes sei damals von der Verfolgung betroffen gewesen.

Es war aber eine Zeit extremer Wirren und Grausamkeiten, die man sich schwerlich zurückwünschen kann. Ihr Leutnant erregt sich und sagt wörtlich: »Mein Gott, wie konnten wir die Besten unseres Volkes vernichten?« Nun frage ich Sie: Wer sagt Ihnen, daß es die Besten waren? Sind denn alle, die hartnäckig und widerborstig sind, auch gleich die Besten?

SOLSCHENIZYN: Entschuldigen Sie bitte. Diese Menschen waren nur in dem einen Sinne hartnäckig, daß sie für ihren Glauben ihr Leben opferten. In diesem Sinne waren sie besonders selbstlos, waren am meisten der religiösen Tradition verbunden. Und - das wird Sie in Erstaunen versetzen - sie waren die Allergebildetsten. Der Bildungsstand war im 19. Jahrhundert bei den Altgläubigen höher als bei den Bauern.

AUGSTEIN: Das ist für mich neu, weil ich natürlich die russische Geschichte nicht gut kenne und schon gar nicht so gut wie Sie. Ich dachte, daß gerade der Patriarch Rußlands von Byzanz über Kiew her gebildeter war als etwa Awwakum.

SOLSCHENIZYN: Es ist zwar richtig, daß er unter starkem Einfluß von Byzanz stand, aber entscheidend ist, daß er sich gegenüber den Altgläubigen unglaublich halsstarrig und grausam verhielt. Nikon hatte nicht begriffen, daß es in Byzanz zwei kirchliche Riten gab, die einander in einem langen Prozeß abgelöst hatten, und daß der alte Ritus, an dem die Altgläubigen festhielten, auch aus Byzanz stammte. Er führte allein den späteren Ritus auf Byzanz zurück und setzte ihn mit Gewalt und Grausamkeit durch.

AUGSTEIN: Und er hatte einen Zaren, der ein vergleichsweise milder Zar war.

SOLSCHENIZYN: Aber, mild oder nicht, in vielem hat Zar Alexej den Zaren Peter schon vorbereitet.

AUGSTEIN: Mir fällt an Ihrem Werk auf, daß Sie für gewisse Personen gewisse Sympathien haben, die mitunter überraschen. Den schwächlichen Zaren Nikolai II., der zwar rudern konnte, aber nicht telephonieren wollte, diesen letzten Selbstherrscher aller Reußen halten Sie offenbar für eine tragische Figur. Dann waren aber auch der Großadmiral Tirpitz oder Ludendorff oder Kaiser Wilhelm II. tragische Figuren. »Gott spielt mit uns«, sagt ein Somali zu seiner weißen Herrin in Tania Blixens Roman »Out of Africa«. Ich sehe bei all diesen Figuren überhaupt keine Tragik.

SOLSCHENIZYN: Ich mußte die Gestalt des Zaren so vielschichtig wie möglich mit all ihren Schwächen und Gedanken darstellen. Ich, der angebliche Freund der Zaren und Anhänger der Monarchie, habe Nikolai II. so geschildert, daß mir viele Monarchisten vorwarfen, sein Bild sei zu negativ.

AUGSTEIN: Mir hat es gut gefallen.

»Mit unseren Siegen haben wir uns eine Grube gegraben«

SOLSCHENIZYN: Aber ich bin Nikolai II. innerlich nicht näher als dem Bolschewiken Schljapnikow, wenn ich gerade ihn beschreibe. Oder dem revolutionären Demokraten Obodowski oder dem Kadetten Schingarjow oder Miljukow. Man kann mir vorwerfen, daß ich bei Miljukow nicht gutheiße, wie er sich im November 1916 verhält. Aber in »April siebzehn«, wenn Miljukow ungerecht aus der Provisorischen Regierung gejagt wird, wenn alle ihn bedrängen, empfinde ich für ihn eine natürliche Sympathie. Ich kann mich ja zu einem Menschen nicht immer gleich verhalten. Jeder ändert sich im Laufe seines Lebens, teils abhängig von einer Situation, teils von seiner eigenen Entwicklung.

AUGSTEIN: Die Situation, der Erste Weltkrieg, war außergewöhnlich, jeder reagierte auf unvorhergesehene Weise.

SOLSCHENIZYN: Was für eine Tragödie für Europa war der Erste Weltkrieg! Da wurde der ganzen europäischen Geschichte das Rückgrat gebrochen. Ganz Europa war schuld, keiner hätte Krieg führen dürfen. Doch warum Rußland, jenes Rußland und jenes Deutschland?

AUGSTEIN: Keine größere Tragödie als der Peloponnesische Krieg. Daß Sie dem schlauen Bauern Rasputin einigermaßen wohlwollend begegnen, ist mir nicht verwunderlich. Er war gegen den Krieg, er hat die Politik nur in dem Sinn beeinflußt, daß er als schlauer Bauer ernst genommen werden wollte. Daß er ein frommer Mensch gewesen sei, behaupten auch Sie nicht, oder?

SOLSCHENIZYN: Rasputin weckt als Persönlichkeit bei mir keine Sympathie, er hatte viele Laster. Aber es stimmt, er war entschieden gegen Rußlands Kriegseintritt, das muß man ihm anrechnen. Sein Einfluß auf die Politik wurde von der Opposition stark übertrieben, er war nicht so groß.

AUGSTEIN: Der war wahrscheinlich sogar gering. Nur in personellen Dingen kam es Rasputin darauf an, anerkannt zu werden.

SOLSCHENIZYN: Er war überzeugt, die eine oder andere Kandidatur unterstützen zu müssen, und hat über die Kaiserin einige Fälle durchgesetzt. Aber andere Ernennungen hatten mit ihm überhaupt nichts zu tun.

AUGSTEIN: Aber es ist schon einigermaßen komisch, bei Ihnen zu lesen, wie die Kaiserin sinngemäß zur Auflösung der Duma sagt: Ja, da kann ich auch nichts machen, gehen Sie zu Rasputin, und holen Sie sich seine Genehmigung.

SOLSCHENIZYN: Nein, das habe ich nicht geschrieben. Das ist bei mir nicht so. Zu den politischen Ratschlägen, die er gegeben hat, gehörte auch, man solle die Arbeit der Duma einstellen. In deutschen Rezensionen lese ich fast überall, die Duma sei ein Scheinparlament gewesen. Aber sie hatte volles Budgetrecht und genoß eine enorme Autorität in der ganzen gebildeten Gesellschaft.

AUGSTEIN: Ein Podium, das einzige Podium.

SOLSCHENIZYN: Mit mehr moralischer Autorität, als manche europäischen Parlamente sie heutzutage haben. Wenn man darauf hinweist, daß die Duma nicht die Regierung abwählen konnte, dann muß man daran erinnern, daß der amerikanische Kongreß dieses Recht auch nicht hat.

AUGSTEIN: Die Duma verkörperte ein Übergangsstadium, und indirekt besaß sie auch Macht. Aber hat Rasputin die russische Revolution nicht mehr gefördert als etwa Lenin?

SOLSCHENIZYN: Ich würde den Vergleich nicht ziehen. Erstens, weil Lenin mit der rußländischen Revolution fast nichts zu tun hatte. Er hatte darauf einfach keinen Einfluß, hat daran nicht teilgenommen. Seine Partei war in Petrograd und unbedeutend. Lenins Bedeutung begann erst, als er durch Deutschland aus der Schweiz nach Rußland zurückkam. Rasputins Wirkung war anders: Die Tatsache, daß er immer bei Hofe zu sehen war, hat die Gesellschaft so aufgeregt und gereizt, daß dadurch die Atmosphäre immer mehr angeheizt wurde. Und als Rasputin ermordet worden war, hat das den Ausbruch der Revolution beschleunigt.

AUGSTEIN: Der Zar war verloren, als er die Mörder Rasputins nicht zur Rechenschaft gezogen hat.

SOLSCHENIZYN: Das war wirklich einer der entsetzlichsten Momente, der die Revolution beschleunigt hat.

AUGSTEIN: Die Zarin und ihre Minister werden von Ihnen verständnisvoll, beinahe liebevoll geschildert. Ich kenne gar keine andere derart einfühlsame Beschreibung des Herrscherpaares, das doch lieber friedlich auf einem Gutshof gesessen hätte. Der Ehrgeiz der Zarin allerdings scheint mir bei Ihnen etwas zu kurz zu kommen.

SOLSCHENIZYN: Ich habe aus ihrer Korrespondenz sehr extreme Ausdrücke von ihr ausgewählt und auch extreme Auffassungen von anderen über sie zitiert. Aber diese Gestalt wird sich im Roman weiterentwickeln, denn sie macht noch die Februarrevolution durch.

AUGSTEIN: Auf jeden Fall ist der Vorwurf gegen sie, auf der Seite der Deutschen gestanden zu haben, absurd.

SOLSCHENIZYN: Ja, völliger Unsinn. Natürlich hat sie ihre Liebe zu Deutschland behalten. Deswegen tat ihr der Krieg wahnsinnig weh. Aber sie ist wirklich eins geworden mit Rußland, hat ehrlich den russisch-orthodoxen Glauben angenommen und war ihrer neuen Heimat treu. Sie hat mehrfach Eingaben gemacht, die deutschen Kriegsgefangenen besser zu behandeln. Als Resultat war es ja so, daß die deutschen Kriegsgefangenen in Rußland erheblich besser lebten als die russischen in Deutschland. Die Zustände in deutschen Gefangenenlagern für Russen waren fast so wie im Zweiten Weltkrieg.

AUGSTEIN: Im Zweiten Weltkrieg sind mehr Russen in deutschen Lagern umgekommen als Deutsche in russischen Lagern - eine Tatsache. Ich springe zurück. Das Zarentum verkörperte eine enorme Zentralgewalt und große Autorität. Wenn es sich nicht halten konnte, stellt sich dann doch die Frage, welche Zentralgewalt überhaupt in der Lage gewesen wäre, solch ein Riesenreich daran zu hindern, in seine Teile zu zerbrechen und einer Art »Afrikanisierung« Rußlands anheimzufallen.

SOLSCHENIZYN: Ich habe schon gesagt, daß die Revolution entstanden ist durch die Spannung zwischen der gebildeten Gesellschaft und der Macht. Das ist der Hauptgrund. Diese Revolution konnte ausbrechen oder nicht. Im weiteren Gang der Ereignisse, vor allem im März 1917, sieht man, daß alles ins Wanken geriet, aber die damalige Regierung hätte auch an der Macht bleiben können. Es waren historische Momente, wo ein kleines Übergewicht eine Entscheidung auslösen konnte.

»Rasputins Ermordung hat den Ausbruch der Revolution beschleunigt«

AUGSTEIN: Wenn man weiter akzeptiert, daß Stalin nur ein quantitativer, nicht nur ein qualitativer Sprung in die Zukunft war, so muß man sich doch die Frage stellen, hätte etwa ein gemäßigter Reformer wie Bucharin sich einem Hitler gegenüber halten können?

SOLSCHENIZYN: Als gemäßigt kann ich kommunistische Führer nur mit großen Einschränkungen ansehen. Von Bucharin gibt es sehr scharfe Äußerungen, wie man gegen Schriftsteller kämpfen muß, ganz zu schweigen vom Klassenfeind.

AUGSTEIN: Die Mentalität von Bucharin war so, daß er entweder von Stalin weggefegt wurde oder von Hitler weggefegt worden wäre.

SOLSCHENIZYN: Ich meine, unter den Bedingungen des jungen Leninismus, und ich meine damit die Epoche der ausgehenden zwanziger Jahre, hätte sich ein weicher Führer gar nicht halten können, sondern immer nur ein harter - es gab genug davon.

AUGSTEIN: Wir haben in der Bundesrepublik derzeit einen Streit, den manche Leute für überflüssig und längst erledigt halten. Er geht darüber, ob und wie weit sich Stalin und Hitler wechselseitig beeinflußt haben. Meine Meinung ist da klar, beide Männer hatten ihre persönliche Machtfrage schon geklärt, bevor sie überhaupt Gelegenheit hatten, sich mit der Person des anderen verantwortlich zu beschäftigen. Daß sie einander später bewundert haben, steht auf einem anderen Blatt, das sind die Regeln unter Banditen seit ewigen Zeiten. Ich denke, wir stimmen hier überein, wer von den beiden der bessere Stratege und der bessere Taktiker war. Bewundern müssen wir diese beiden ja gottlob nicht.

SOLSCHENIZYN: Richtig, zu dem, was Sie über ihre persönliche Beeinflussung und ihre gegenseitige persönliche Beziehung gesagt haben, kann ich nichts einwenden. Aber zu dem Streit, der in der Bundesrepublik Deutschland derzeit stattfindet, wäre es vielleicht nicht uninteressant, den offiziellen sowjetischen Standpunkt hinzuzufügen. Er wurde von 1930 an vertreten, als der neue Reichstag mit einer starken Fraktion von Nationalsozialisten gewählt wurde, bis zum Ribbentrop-Molotow-Pakt 1939. Da hieß es, der ganze Hitlerismus und die ganze Bewegung seien nichts anderes als eine Reaktion auf die Oktoberrevolution. Die imperialistischen Kreise hätten Hitler zur Macht verholfen, um dem kommunistischen Staat etwas entgegenstellen zu können. Das ist unserer ganzen Generation ein Jahrzehnt hindurch eingebleut worden.

AUGSTEIN: Das ist historisch überhaupt nicht zu halten. Wohl aber ist wahr, daß das Münchner Abkommen von 1938 gegen die Sowjet-Union gerichtet war.

SOLSCHENIZYN: Das wurde auch in der UdSSR so beurteilt.

AUGSTEIN: Chamberlain wollte mit Hitler gegen Moskau einen Block bilden. Deshalb haben sich manche Russen nachträglich gesagt: Wer anders als Stalin hatte Hitler standhalten können? Dies beiseite gesprochen. Nun möchten wir uns aber nach Ihrem persönlichen, Alexander Solschenizyns Verhältnis zu den Deutschen erkundigen. Daß Sie den Hitler-Überfall mit aller Vehemenz bekämpft haben, versteht sich bei Ihnen von selbst. Ebenso ist klar, daß Ihnen die Pose des Siegers nicht unbedingt behagt hat und daß Sie kaum teil daran hatten. Aber gibt es etwas dazwischen, was Sie uns mit auf den Weg geben könnten?

SOLSCHENIZYN: Daß im Ersten Weltkrieg Deutschland und Rußland gegeneinander gekämpft haben, halte ich für die größte aller Tragödien. Es gab überhaupt nichts zu erobern oder zu teilen, es gab keinen wirtschaftlichen Wettbewerb, keine strittigen Territorien; ja, der Krieg ging ohne persönliche Haßgefühle vonstatten, jedenfalls bis das Giftgas eingesetzt wurde.

AUGSTEIN: Es kam zum Krieg, weil Bismarck die Sprengkraft des deutschen Nationalismus unterschätzt hatte, er dachte, er kann Österreich austauschen wie jeden anderen Partner. Auch Bismarck war kein Staatsmann, der länger als dreißig Jahre zu übersehen vermochte. Er hatte sich in diesem Fall geirrt, auf entschuldbare Weise. Das Wort Nibelungentreue stand nicht in seinem Wörterbuch.

SOLSCHENIZYN: Das war die Vorgeschichte. Im Jahre 1917, als die Disziplin in der russischen Armee nachließ, haben sich die Russen mit offener Brust und Seele mit den Deutschen verbrüdert. Da gab es keinen Haß. Thomas Mann hat 1921 im Vorwort zu einer russischen Anthologie gesagt: »Rußland und Deutschland müssen einander besser und besser kennen. Sie sollen Hand in Hand in die Zukunft gehen.« Mit diesem Gefühl ging er aus dem Ersten Weltkrieg heraus, es war ein verständliches und richtiges Gefühl. Und 1929, in seiner Nobelpreisrede, fand er keinen besseren Ausdruck für den Zustand in Deutschland, als daß dies ein geradezu »russisches Leidenswirrsal« sei.

AUGSTEIN: 1929 unter Stalin, das war kein geeigneter Zeitpunkt eines Zusammengehens der Deutschen mit den Russen.

SOLSCHENIZYN: Die Sache ist die, daß er die Sowjet-Union nicht gemeint hat.

AUGSTEIN: Nein, das Überzeitliche, das »ewige« Rußland.

SOLSCHENIZYN: Ich wollte nur erwähnen, wie die Erfahrung des Ersten Weltkrieges sich bei Thomas Mann niedergeschlagen hatte. Sie haben gesehen, im Laufe des Gesprächs sind wir von Zeit zu Zeit auf den Zweiten Weltkrieg zu sprechen gekommen, aber das ist im Grunde nicht unser Thema. Unser Thema ist der Erste Weltkrieg, und ich bin mit diesem befaßt, meine Intentionen gelten diesem Krieg. Indem ich mich als einen Menschen jener Zeit empfinde, kann ich diesen Krieg nur durchleiden. In keinem meiner Bücher werden Sie einen Ausdruck des Hasses gegen Deutschland finden, um so mehr, als deutsche Literatur und deutsche Musik auf mich und meine ganze Generation eine ungeheuer gute Wirkung ausgeübt haben.

AUGSTEIN: Seit Polen geteilt war, haben sich Russen und Deutsche in der Tat immer gut verstanden.

SOLSCHENIZYN: Was die polnische Teilung betrifft, möchte ich Sie an Ihre eigene Äußerung erinnern, kein Staatsmann könne weiter als dreißig Jahre vorausschauen. Wie viele Jahre haben denn Wilhelm und der deutsche Generalstab vorausgeschaut, als sie Lenin im Eisenbahnwaggon durch Deutschland geleitet haben?

AUGSTEIN: Kein Jahr, drei Monate.

SOLSCHENIZYN: Die Geschichte macht sich gern über jene lustig, die nicht vorausschauen. Aber das kann der Mensch nicht. Wer hat denn die polnische Teilung von 1939 vorbereitet? Das war Polens Pilsudski! Während des Ersten Weltkrieges hat er die polnischen Truppen auf der Seite von Deutschland und Österreich organisiert, hat angenommen, er werde später von Deutschland die Freiheit für Polen erhalten.

AUGSTEIN: Er hat nach Litauen geblickt.

»In keinem meiner Bücher ein Ausdruck des Hasses gegen Deutschland«

SOLSCHENIZYN: Aber 1920 hat er sich leicht mit Lenin verständigt, in der Meinung, daß es mit dem sowjetischen Staat besserginge. So hat er sich auf beiden Seiten Feinde geschaffen, die dann sein Land auseinanderrissen.

AUGSTEIN: In Ihrem Buch »August vierzehn« lassen Sie Ihren Helden Worotynzew reflektieren, es wäre viel besser, in »ewigem Bund« mit Deutschland zu leben, wie Dostojewski gelehrt und wonach er gedürstet hatte, und es wäre viel besser, unserem, dem russischen Volk zu der gleichen Entfaltung und Festigkeit zu verhelfen wie Deutschland dem seinen. Das war 1914, Worotynzew sprach vom Kaiserreich. Eine Ihrer Buchfiguren sagt, wir müssen uns gründlich umschauen, müssen von den Feinden lernen. Die Deutschen witzeln über uns: »Kennt Ihr ein Land, in dem es alles gibt und nichts vorhanden ist?« Nun, ich möchte fragen: Hat das deutsche Volk heute noch den Russen etwas zu geben?

SOLSCHENIZYN: Es geht dabei nicht nur um die zweiseitigen Beziehungen zwischen Deutschen und Russen. Man muß das weiter sehen, es geht um das Wechselverhältnis zwischen Rußland und seiner Kultur und Europa als Ganzem. Diese Frage war das ganze 19. Jahrhundert über außerordentlich aktuell. Sie wissen ja, es gab den Streit bei uns zwischen den Slawophilen und den Westlern.

AUGSTEIN: Der ist noch immer nicht ausgestanden.

SOLSCHENIZYN: Aber damals war es ein Streit auf einem außerordentlich hohen Niveau, wie man ihn in unserem 20. Jahrhundert wohl kaum noch austragen würde. Alle Beteiligten haben damals versucht, vom jeweiligen Gegner alles Richtige und Gute zu übernehmen. So hat dieser Streit die Kultur bereichert.

AUGSTEIN: Die russischen Slawophilen standen ja unter sehr starkem Einfluß der deutschen Romantik.

SOLSCHENIZYN: Alexej Chomjakow, einer der wichtigsten Slawophilen, nannte den Westen ein »Land der heiligen Wunder«. In jenem Gedicht von 1835 heißt es:

Wie herrlich strahlte jener prächtige Westen,

Wie lange hat die ganze Welt - das Knie gebeugt -,

Von seinem hohen Ruhme wundersam erleuchtet

Vor ihm sich schweigend, demutsvoll verneigt.

Nun, im 20. Jahrhundert, wird diese Linie von einer bestimmten Gruppe der modernen Kulturkritik weiterverfolgt. Natürlich gibt es sehr viel Nützliches, was wir Russen von Europa übernehmen können. Aber leider ist es so, daß der heutige Streit auf ein niederes und gehässiges Niveau abgesunken ist: Womit kann man am meisten Popularität erhaschen, und wie kann man am besten das Publikum auf die jeweils andere Seite hetzen.

AUGSTEIN: Die Slawophilen hatten in der Praxis natürlich auch ihren Anteil am Ausbruch des Ersten Weltkrieges, weil sie die österreichisch-ungarische Position angefochten haben.

SOLSCHENIZYN: Die späten Slawophilen sind wirklich in den sogenannten Panslawismus abgerutscht und haben zur Verschärfung der Beziehung zu Österreich-Ungarn beigetragen. Aber: Als der Krieg schließlich im Gange war, hatten die Slawophilen bei uns überhaupt kein Gewicht. Wer forderte denn die Vernichtung der Türkei? Die unbedingte Einnahme von Konstantinopel und die Vernichtung von Österreich-Ungarn? Das waren die Parteigänger der Kadetten mit Miljukow, die Radikalen.

AUGSTEIN: Unser Gespräch zeigt einmal mehr den Nutzen des Rückblicks in die Geschichte für die Gegenwart. Mir will ein Satz von Ihnen nicht aus dem Kopf. Sie haben in einem Gespräch gesagt: »Ich muß sagen, daß ich viele Jahre unter der Frage gelitten habe, warum Rußland ein so unglückliches Schicksal hat. Warum mußte Rußland Banditen in die Hände fallen, die mit ihm machten, was sie wollen? Dann vergingen Jahrzehnte, daß sich, wie ich schon sagte, dieses Bild in der ganzen Welt wiederholte. Und ich begriff: Dies ist das enge, schrecklich schwere Tor, durch das die Welt gehen muß. Rußland ist einfach als erstes gegangen. Wir alle müssen uns durch dieses Schreckliche hindurch einen Weg bahnen, und das bedeutet nicht, daß Gott uns verlassen hat.«

SOLSCHENIZYN (auf deutsch): Wir müssen dadurch, weil es uns bedroht.

AUGSTEIN: Wen bedroht Rußland heute?

SOLSCHENIZYN: Es ist der Kommunismus, der alle bedroht. Wer hätte gedacht, daß Äthiopien eines der ersten Länder wird, das da durch muß. Als ich mir politische Publizistik noch erlaubt habe, wollte ich den Westen davor warnen, damit er diese Gefahr erkennt und vielleicht davor bewahrt bleibt. Es gibt doch in der Geschichte keinen Fatalismus. Alles hängt von der einzelnen Persönlichkeit, von der Masse und von den Parteien ab.

AUGSTEIN: Letztes Thema: Mißverständnis? Da müssen wir uns nun nach Solschenizyns Verhältnis zur Pluralität der Meinungen erkundigen.

SOLSCHENIZYN: Die Frage kommt zur rechten Zeit. Der »Rheinische Merkur« hat nach Heinrich Bölls Tod dessen Briefwechsel mit Theodor Schmidt-Kaler, einem Astrophysiker aus Bochum, abgedruckt. Da schrieb Böll: »Wie mir russische Freunde berichteten, hat Solschenizyn einen Bannfluch gegen den Pluralismus verfaßt, den er für das schlimmste Übel der Welt hält.« Er bezieht sich auf meinen Artikel »Unsere Pluralisten«, der nicht auf deutsch, sondern auf russisch, französisch und englisch erschienen ist. So haben also meinen Freund Böll dessen russische Freunde informiert, und er ist in der Überzeugung gestorben, es stimme, was hier im »Rheinischen Merkur« steht.

AUGSTEIN: Die Überschrift »Unsere Pluralisten« klingt nach Distanzierung.

»Warum mußte Rußland Banditen in die Hände fallen?«

SOLSCHENIZYN: Das ist doch Ironie. In dem ganzen Artikel wende ich mich an keiner Stelle gegen den Pluralismus als solchen. Ich habe nämlich diesen Artikel ironisch »Unsere Pluralisten« genannt. Ich wollte eine bestimmte Gruppe von Emigranten bloßstellen, welche auf bestimmte Weise die russische Geschichte verfälschte - und dabei für sich selbst gern den Terminus »Pluralisten« verwendet.

AUGSTEIN: Sind Sie für die Meinungsfreiheit im politischen Leben?

SOLSCHENIZYN: Selbstverständlich! Ich schreibe ja auch in diesem Artikel: »Die Mannigfaltigkeit, das sind die Farben des Lebens, wir dürsten nach ihnen und können uns selbst ohne sie gar nicht vorstellen.«

In der »Stuttgarter Zeitung« aber stand zu lesen, Solschenizyn habe seinen Artikel unter dem Begriff der Pluralisten generell gegen die Juden gerichtet. Ich habe aber in diesem Artikel geschrieben, »es ist charakteristisch, daß der überwiegende Teil der jüdischen Emigration mit dieser Gruppe nicht übereinstimmt, sondern im Gegenteil eine eigene Position einnimmt.« Die »Stuttgarter Zeitung« hingegen hat das überhaupt nicht zur Kenntnis genommen. Ich wende mich nur dagegen, den Pluralismus dadurch zu beschränken, daß man erklärt, bitte schön, innerhalb eines festgegebenen Rahmens darf Pluralismus herrschen, über diesen Rahmen hinaus aber nicht.

AUGSTEIN: Das war Rosa Luxemburgs Position. Ja Freiheit des Andersdenkenden - aber nur innerhalb der Partei - keine Freiheit für Nichtkommunisten.

SOLSCHENIZYN: Ich meine, wenn schon Pluralismus dann für alle, dann muß er über diese Grenzen hinausgehen.

AUGSTEIN: Sie haben die so definierte Freiheit einmal sogar in der Sowjet-Union genießen können, mit der Veröffentlichung Ihres wirklich atemberaubenden Romans »Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch«. Das Verdienst daran schreiben Sie ausschließlich Ihrem Freund und Förderer Twardowski zu. Da war doch aber auch noch ein gewisser Nikita Chruschtschow. Und wie zu guten alten Zarenzeiten, als Tolstois »Kreutzersonate« vom Zaren persönlich gebilligt werden mußte, hat die Genehmigung oder den Befehl zur Veröffentlichung Chruschtschow gegeben. Das war 1962, als ich gerade im Gefängnis saß. Hegten Sie damals vielleicht nicht doch die Hoffnung, es ließe sich der Sowjetstaat mit Hilfe der Intelligenzija und unter einem machtbewußten Herrscher reformieren?

SOLSCHENIZYN: Bis dahin, also bis zu meinem 43. Lebensjahr, habe ich nichts, aber auch überhaupt nichts unternommen, um in der Sowjet-Union veröffentlicht zu werden. Denn ich empfand mich in der Sowjet-Union fehl am Platze, einfach unvereinbar mit dem sogenannten Sozialistischen Realismus. Ich war niemals der Auffassung, man könne mit einem veröffentlichten Buch das ganze System irgendwie ins Rutschen bringen oder auch nur verschieben. Solche Hoffnungen habe ich auch nicht mit »Iwan Denissowitsch« verbunden. Ich war ja auch nur kurz anerkannt. Im November 1962 wurde der Roman gedruckt, und 1963 folgten »Matrjonas Hof« und zwei andere Erzählungen. Dann war im Grunde Schluß. Ich war in der sowjetischen Literatur kaum mehr als ein Jahr anerkannt. Aber der SPIEGEL hat geschrieben, ich sei im Korsett des Sozialistischen Realismus aufgewachsen (lacht).

AUGSTEIN: Alexander Issajewitsch, in welchem Moment haben Sie sich als einen guten Sowjetmenschen empfunden?

SOLSCHENIZYN: Etwa bis zu meinem 17. Lebensjahr empfand ich mich als diesem System und diesem Staat völlig entgegengesetzt. Vom 18. Lebensjahr an, nach meiner Bekanntschaft mit den Theorien von Karl Marx bis in das erste Jahr der Haftzeit hinein (da war ich 27 Jahre alt), war ich ungefähr das, was Sie sagten. Bei den Streitgesprächen in den Gefängnissen habe ich dann gemerkt, wie leicht ich mit meiner Auffassung von anderen besiegt wurde.

AUGSTEIN: Wir haben das Bild noch vor Augen, wie Sie am offenen Sarg Ihres Freundes Twardowski von ihm Abschied genommen haben. Irre ich mich, wenn ich meine, in keinem anderen Land der Welt hat die Literatur einen so großen Einfluß auf die Politik wie in der Sowjet-Union, oder sagen wir besser in Rußland?

SOLSCHENIZYN: Die Literatur hat einen enormen Einfluß nicht nur auf die Politik, einfach auf alles, auf das gesamte gesellschaftliche Bewußtsein. Das ist eine Tradition des 19. Jahrhunderts, und sie hat jetzt zugenommen, weil sich die Menschen von der offiziellen Literatur abgestoßen fühlen, die man ihnen aufzwingt. Es herrscht ein Hunger nach dem, was zu lesen verboten ist. Wie groß ist daher die Freude, daß einiges von dem Verbotenen jetzt freigegeben wurde.

AUGSTEIN: Sie nehmen selbst für sich in Anspruch, als einziger die wahre Geschichte Rußlands vor dem Vergessen zu retten, wenn ich das richtig zitiere. Ich glaube, einen Teil dieses Anspruchs haben Sie schon beglaubigt.

SOLSCHENIZYN: Ich möchte dagegen einwenden, daß ich überhaupt nicht darauf bestehe, der einzige zu sein, der versucht, die Wahrheit zu sagen und die Vergangenheit vor dem Vergessen zu bewahren. Viele vor mir haben so geschrieben, aber entweder sind ihre Manuskripte vernichtet worden, oder sie sind für ein halbes Jahrhundert irgendwie verschwunden. Ich habe nur die Eigenart, ganz hinter meinen Überzeugungen zu stehen. Im Westen, besonders in den Vereinigten Staaten, hält man es lieber so fifty-fifty.

AUGSTEIN: Einerseits - andererseits, ohne den Anspruch auf Gewißheit.

SOLSCHENIZYN (lacht): So entsteht dann der offenbar falsche Eindruck, daß ich darauf bestünde, ich sei der einzige.

AUGSTEIN: Lassen Sie mich daran erinnern, wie sehr Anton Tschechow den Emile Zola bewundert hat, und zwar nicht darum, weil der ein so großer Romancier gewesen wäre. Er hat ihn bewundert für sein »J'accuse« im Falle des Hauptmanns Dreyfuss. Zola mußte ein Jahr ins Gefängnis. Ihnen, Alexander Solschenizyn, ist Schlimmeres widerfahren, man hat sie am Ende in einen KGB-Häftlingsanzug gesteckt und aus Ihrem Vaterland vertrieben, man muß fürchten für immer. Oder besteht Hoffnung, daß Sie nach Rußland zurückkehren werden?

SOLSCHENIZYN: Meine Bücher werden alle in die Heimat zurückkehren, das ist meine feste Überzeugung. Dieser Strom in die Heimat ist derzeit ein sehr kleines Rinnsal, aber ich weiß genau, daß jedes einzelne Exemplar von mindestens hundert Lesern sehr intensiv gelesen wird. Jedes einzelne Exemplar!

AUGSTEIN: Und Sie selbst?

SOLSCHENIZYN: Ob ich bis zu jenem Augenblick noch lebe, ist natürlich schwer vorauszusagen. Vor meinen Büchern kann ich nicht zurückkehren. Erst müssen die Bücher zurückkehren, dann ich. Die Bücher drängt keine Frist. Ich aber unterliege der Zeit.

AUGSTEIN: Alexander Solschenizyn, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

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