KREBSFORSCHUNG Mantel zerstört
Der Professor berief sich auf einen Professor: Eines fernen Tages, so habe der Kollege vorausgesagt, werde es »bei gewissen Tumorerkrankungen ... neben Stahl, Strahl und Chemie auch die sehr gezielte Immunoprophylaxe« geben -- zu deutsch: einen Impfstoff gegen bestimmte Krebsarten.
Geradezu demonstrativ vorsichtig bewertete Professor Hans Gerhard Schwick von den Behringwerken in Marburg ein Forschungsergebnis, das er und seine Mitarbeiter jüngst erarbeitet haben. Es läßt den Tag zumindest ein wenig näher rücken, an dem die Ärzte Krebskrankheiten womöglich auch mit der Impfpistole bekämpfen werden.
Mit Hilfe einer Art Impfserum, so erläuterte Schwick Ende vorletzter Woche in Frankfurt auf einer »Forschungspressekonferenz« des Pharma-Konzerns Hoechst, sei es den Marburger Wissenschaftlern in Tierversuchen jetzt gelungen. Brustkrebsgeschwülste zum Schrumpfen zu bringen: Der Impfstoff, hergestellt aus den Tumorzellen krebskranker Hunde, mobilisiert im Organismus der Tiere körpereigene Abwehrkräfte, die das entartete Gewebe jedenfalls teilweise vernichten.
Immer häufiger fanden die Forscher in den letzten Jahren den Verdacht bestätigt, daß zwischen der Entstehung und dem Wachstum von Tumoren und, andererseits, dem körpereigenen Immunsystem ein Zusammenhang besteht. Offenbar, so erkannten die Wissenschaftler, reagieren die Immunkräfte nicht nur auf Krankheitserreger oder etwa auf Fremdgewebe mit Abwehrreaktionen, sondern auch auf Krebszellen, die im Körper entstehen -- wird die Abwehr geschwächt, so wächst die Gefahr der Tumorbildung.
Zugleich aber stellte sich heraus, daß Krebszellen häufig die Fähigkeit besitzen, das Immunsystem gewissermaßen zu täuschen: Sie hüllen sich etwa in einen Schutzmantel aus Schleimsubstanzen, der sie gegen die Attacken der Immunkräfte sicher abschirmt.
So verbargen sich die Brustkrebszellen bei den Marburger Versuchstieren unter einer Kohlenhydrat-Hülle. hinter der sie von der körpereigenen Immun-Polizei als Feind nicht ausgemacht werden konnten. Mit einem Trick jedoch gelang es den Wissenschaftlern. die arglosen Abwehr-Instanzen zu alarmieren.
Sie entnahmen dem Tumor eines jeden Versuchshunds eine Krebszellen-Probe und setzten sie der Wirkung eines Enzyms namens Neuraminidase aus. Das Enzym, das in bestimmten Bakterien, etwa Cholera-Erregern, gebildet wird, zerreißt den chemischen Schutzmantel der Tumorzellen.
Anschließend injizierten die Forscher den Hunden eine genau bemessene Dosis der jeweils in ihrem Körper entstandenen, nunmehr aber gleichsam nackten Krebszellen -- die jetzt von der Immun-Polizei als gefährliche Fremdlinge identifiziert wurden: Das Immunsystem machte mobil und sandte Antikörper aus, die den Kampf gegen die Tumorzellen aufnahmen.
Das Ergebnis der Impfaktion: Bei 13 von insgesamt 15 Versuchstieren schrumpften die (spontan entstandenen) Krebsgeschwülste auf einen Bruchteil ihres vorherigen Umfangs zusammen. Gänzlich aufgelöst haben sich die Tumoren bislang allerdings nicht.
Immerhin, das Marburger Forscher-Team hält seine Versuchsergehnisse für ermutigend genug, um sie an menschlichen Krebskranken zu erproben -- vorerst in den USA: Dort wird das Verfahren an drei großen Spezialkliniken geprüft. Erst im nächsten Jahr sollen klinische Versuche auch in Europa anlaufen.
Dennoch glauben die Behring-Forscher, daß es frühestens in einer Reihe von Jahren einen Impfstoff zur Vorbeugung gegen Krebserkrankungen geben wird. Die Injektion von entmantelten Krebszellen oder abgeschwächten Krebsviren bei Menschen, so urteilte in Frankfurt Professor Schwick, stoße »vorerst an ethische Grenzen«. Bei den Tierversuchen in Marburg wurde auch das Risiko sichtbar: Als die Forscher hei den Krebs-Injektionen die Dosis überzogen, wurde das Tumor-Wachstum nicht gebremst, sondern jäh beschleunigt.