Wolfgang Harich über Fritz J. Raddatz: "Karl Marx. Eine politische Biographie" Marx mit Mixed Pickles
Marx soll einmal tagelang darauf bestanden haben, daß eine billige Zigarre, die jemand ihm, spaßeshalber, als echte Havanna angeboten, tatsächlich eine Havanna gewesen sei. Raddatz kommentiert diese Lappalie so:
»Nun ist nicht Revolutionär der; der die Wahrheit ändern will, sondern der, der die Wirklichkeit ändert. Seine von ihm als solche erkannte eigene Wahrheit aber zu verwalten, richterlich, hohepriesterlich, ja diktatorisch -- das war für Marx mit dem Gebot seiner elften Feuerbach-These identisch.«
Welche eigenen Wahrheiten verwaltet Fritz J. Raddatz? Sie besagen unter anderem, daß Trier ab 1815 »die Hauptstadt der Rhein Provinz« war und Lassalle 1843 »zu Hegel nach Berlin« ging (auf den Dorotheenstädtischen Friedhof vermutlich). Mit Geschichtsschnitzern dieser Preislage sind in meinen Exzerpten 30 Seiten angefüllt. Wobei die Sorgfalt, mit der der neueste Marxologe Texte interpretiert, ein Kapitel für sich ist.
Über die Kritik an der Hegelschen Rechtsphilosophie zum Beispiel sagt er, sie sei, mit Ausnahme der Einleitung (von 1844), »nie entstanden«, nachdem ihm 22 Seiten vorher ihre 39 Manuskriptbogen noch ein »eigenartiges Licht« auf Marx« Kreuznacher Flitterwochen zu werfen schienen.
Und den Standpunkt, den Marx und Engels in der »Heiligen Familie« verfechten. verwechselt er mit dem, gegen den sie darin polemisieren. Was setzen sie hier den Berliner Junghegelianern um Bruno Bauer entgegen? Laut Raddatz »das Ideal des denkenden Individuums, das sich über die Massen und über materielle Interessen erhebt«. Diesem Ideal huldigten Bauer und Konsorten. In der »Heiligen Familie« wird es zerfetzt. Macht Raddatz Schule, dann wird der Nachwelt nicht verborgen bleiben, daß 1975 Herr Lorenz Anarchisten entführt hat, derweil in Sonthofen der CSU durch einen Herrn Spiegel die Schürung der derzeitigen Krise empfohlen worden ist.
Leckerbissen vollends sind die Hypothesen des Buchs. So, wenn es aus dem Fragment gebliebenen »Kapital« auf Marx« Affinität zu Friedrich Schlegel schließt, weil der in der »Lucinde« Fleiß und Nutzen verdammt hat. Oder wenn vermutet wird, Lenin dürfte Engels« Weigerung, Lebensregeln der Zukunftsgesellschaft im einzelnen festzulegen, als »defätistisch« empfunden und es wohl deswegen auf seiner ersten Westeuropa-Reise, 1895, vermieden haben, von Paris aus zu Engels nach London weiterzufahren. Vielleicht hatte er aber ein patriotisches Motiv: »Er hat Engels nie gesehen. Allerdings: Er gehörte einer von Marx wie Engels gehaßten und verachteten Nation an: er war Russe. Bei Marx ein Schimpfwort.«
Nonsens von A bis Z. Mit dem »Kapital« hat die »Lucinde« etwa soviel zu tun wie »Lolita« mit dem Club of Rome. Realitäten zu analysieren, statt Zukunftsentwürfe auszufabeln, unterscheidet den Marxschen Sozialismus vom utopischen. Nennt man die Differenz »Defätismus«, dann war Lenin selber Defätist. Und Engels konnte, ein Vierteljahr vor seinem Tode, schwerer Krankheit wegen keine strapaziösen Besucher mehr empfangen. Was aber die Russen angeht, so hatten Marx und Engels denen angesichts der Narodnaja Wolja schon 1882 attestiert, daß ihr Land nun »die Vorhut der revolutionären Aktion von Europa« bilde. Ein Galimathias jagt somit den anderen, aus einer Ungereimtheit stolpert der Verfasser in die nächste. Seine Marx-Büste hat er mit einem unentwegt ausglitschenden Meißel aus Seife hergestellt.
Doch wie weit reicht seine Autorschaft überhaupt? In Massen sind, ganze Absätze lang, Auszüge aus Schriften anderer von ihm kompiliert und durch einen dürftigen Zwischentext verbunden worden. Wie in seinen Rezensionen. Wie in seinen Vorworten« die von Doubletten der Texte leben, in die er einführt. Vom gewöhnlichen Plagiieren hebt das Verfahren sich ab durch die Bequemlichkeit, der Mühsal tarnender Neuformulierung enthoben zu sein.
Meine Hypothese: Als Raddatz in den Westen ging, warfen im Osten die Publizisten zweiter Garnitur noch mit todsicheren Zitaten um sich. Inzwischen hat sich das gebessert. Nicht so bei ihm. Trotz westkonformer Politgesinnung ist er unserer Zitierwut rührend treu geblieben. Nur wuchs ihr bei ihm eine milieubedingt neue Motivation nach: Die demonstrative Dogmengläubigkeit wich dem zeilenschindenden Kommerz. Raddatz über Marx: Dieser habe »seine Arbeiten ganz bewußt aufgebläht, um der Vorliebe des deutschen Publikums für dicke Wälzer entgegenzukommen«. Der das rügt, blüht den eigenen Wälzer dadurch auf, daß er fremdes Geistesgut unverdaut abtippt.
Die Quelle seines Grundkonzepts allerdings zitiert er wohlweislich nicht: die Marx-Biographie von Otto Rühle, Hellerau 1928.
Man vergleiche etwa Rühle, Seiten 457-460, mit Raddatz, Seiten 356, 359, um den Plagiarius in flagranti zu erwischen. Von Rühle stammt der Neurotiker Marx, dem Leberschäden und Furunkel die Vorwände liefern, unangenehmen Situationen zu entfliehen. Man überzeuge sich aber auch davon, daß Rühle solider war; daß er der Geschichtsbezogenheit und dem Gehalt der Marxschen Lebensleistung den Vorrang ließ, den in dem Ableger eine Hochflut anekdotischer Nichtigkeiten wegschwemmt.
Denn das Private, bei welthistorischen Personen kaum der Rede wert, am belanglosesten an Gelehrten, gerät dem auf Sensatiönchen erpichten Raddatz zum Hauptthema. Hegel mokierte sich über die Unangemessenheit einer Geschichtsschreibung aus der Sicht des Kammerdieners, für den der Held keiner ist, weil er ihm schon die Stiefel ausgezogen hat und ihn Champagner hat saufen sehen. Für die Historiker und Philologen. die Deutschlands Weitgeltung auf wissenschaftlich-biographischem Gebiet begründeten. blieb das richtungweisend. Bei Raddatz nun sinkt die Kammerdienerpsychologie auf den Tiefstand der Regenbogenpresse, wenn sie in der Intimsphäre von Filmstars herumstochert: Marx als Romy Schneider.
Eine politische Biographie? Wäre sie's, dann müßten in ihr Staat und Geschichte vorkommen; dann müßte sie zum Beispiel Marx' Bruch mit Lassalle in den Zusammenhang des preußischen Verfassungskonflikts stellen. Wird der. wie bei Raddatz, mit keiner Silbe berührt, so bleibt nur der rechthaberische Marx übrig, undankbar zu einem Freund, der so nett gewesen war, ihm einen Verleger zu besorgen.
Auch hier überwuchert das Private. Erst recht macht dessen Präponderanz die Fernwirkung des Marxismus unfaßlich. Womit steht heute Marx, friedlich in Portugal, kriegerisch vor Saigon, wieder mal ante portas? Mit seiner Mehrwerttheorie? Seiner Lehre vom Klassenkampf? Seinem Ruf an die Proletarier aller Länder? Wichtiger scheinen sein Monokel, sein Appetit auf Mixed Pickles, seine Unbeholfenheit in Gelddingen gewesen zu sein. Und das denkwürdigste Problem, das er der Nachwelt zu knacken gab, bleibt offenbar die vielleicht von ihm geschwängerte Haushälterin.
Selbst aus dem Intimbereich hat dabei Raddatz nichts Neues zu bieten. Was er an Anekdotenkram, an Recherchen von der Hintertreppe, an befühlten Karbunkeln und beschnupperten Unterhosen zusammenschleppt, war längst bekannt. Originell sind einzig die spießig moralisierenden Glossen. die so vieles »erschreckend« -- seine Lieblingsvokabel -- finden. Man denke nur: Ein Sohn, der, wenn er Trier besuchte, lieber im Gasthof abstieg als im Vaterhaus! Ein Bräutigam. mehr in Hegel als in seine Braut vertieft! Und andererseits: Ein Revolutionär, der seiner Tochter eine gute Partie wünschte. der auf Reisen gern in ersten Hotels abstieg! Na so was! Dann der schmuddelige Haushalt, die Schlamperei mit dem Geld, gar das Schweinigeln im Briefwechsel mit Schürzenjäger Engels! All dies wird, mit erhobenem Zeigefinger, durch eine viktorianische Gouvernanten-Lorgnette observiert. Bis plötzlich der Seifenmeißel abermals ausrutscht. um unvermittelt beim modernsten streitbaren Feminismus zu landen mit dem Vorwurf, Marx habe. »männchenhaft« egoistisch, seiner Jenny zuviel Kinder gemacht.
Den Gipfel indes erklimmt Raddatz. wo er die Vielseitigkeit der Marxschen Geistesinteressen. das Schmökern in Aischylos. Shakespeare und Balzac. die Beschäftigung mit Stickstoffdüngerchemie und höherer Analysis, mit Darwinismus, dänischem Staatsrecht und russischer Grammatik, nicht etwa anstaunt, sondern als Allotria tadelt, die, aus Abscheu vor »ernsthafter« Arbeit. aus genüßlich sich verzettelnder Faulenzerei im Grunde. die Vollendung des »Kapitals« verhindert hätten ... In einem Schulzeugnis«. meint er, »hätte gestanden. ;Der Schüler Marx treibt Nebendinge.'«
Allein für diese ignorante Unverschämtheit müßte dem Noten austeilenden Oberlehrer sein Machwerk um die Ohren geschlagen werden. Es graust einen bei der Vorstellung, er könnte sich jemals zur Verzettelung von Leonardo. Leibniz oder Goethe äußern. Und hat Raddatz nie von der gegenwärtigen Überlebenswichtigkeit interdisziplinärer Forschung gehört? Nie von dem »Generalisten«, nach dem Jungk wie Forrester rufen? Kann jemand. heute über Marx schreibend, blind dafür sein, daß aus dessen gelehrten Allotriis der Universalitätsanspruch des dialektischen Materialismus und damit die Zukunftshoffnung auf eine dem »Generalisten« als Bildungsleitbild verpflichtete Massenbewegung hervorwuchs?
Keine politische Biographie. Wohl aber ein Politikum. Insofern, als hier einer, der gestern noch, angeblich Freund Feltrinellis, auf der Apo-Woge schwamm, jetzt dem neuen Restaurations-Trend vorausrennen möchte. Mag am Anfang die horrende Selbstüberschätzung gestanden haben, ganz auf die Schnelle als der Fest von Marx reüssieren zu können, so nahm offenkundig, parallel zur ansteigenden CDU-Stimmenzahl, beim Niederschreiben des Buches die Lust überhand, der Reaktion Material zuzuspielen. das es ihr erleichtern soll. »Ätsch« und »Siehste« zu sagen.
Sich von der Linken argumentierend zu trennen, dazu fehlen Raddatz alle Voraussetzungen. Erkannt hat er jedoch, daß sie infolge esoterischer Kopflastigkeit verwundbar ist. Also verabschiedet er sich von ihr, indem er ihr mit Schmähungen des privaten Marx populär in die Magengrube boxt. Und schon nimmt er auch die mitleidheischende Pose heutiger Konservativer an: So, wie diese die Massenmedien von einer Linksdiktatur beherrscht wähnen -- Axel Springer, Gerhard Löwenthal e tutti quanti zählen ja nicht
gerade so erweckt er den Eindruck, die Bundesrepublik sei mit Marx-Denkmälern übersät, die er anpinkeln muß, damit kein Heroenkult aufkomme.
Deshalb stiehlt Raddatz von Rühle den neurotischen Marx. Deshalb fügt er ihm die autoritären Ingredienzen hinzu, die Leopold Schwarzschild an Marx, dein »roten Preußen«, auszusetzen Cand. Und deshalb auch trägt er beides vermischt mit vagen Anspielungen auf die aus ihren singulären Extrembedingungen herausgelöste Stalin-Ära vor. Denn für die, wie der »Archipel GULAG«, die Oktoberrevolution per se verantwortlich zu machen, genügt Raddatz anscheinend nicht. Der davon beeinflußte Leser vielmehr soll glauben, daß Marx bereits Stalin war. wenn auch noch ohne Macht, reduziert auf die Bosheit der Pamphlete, mit denen er zeitweilige Verbündete, von Ruge bis Bakunin, auf der Strecke ließ. Was historisch zwar hinten und vorne nicht stimmt. was aber ausreicht, bei Ahnungslosen die Furcht zu nähren: sich Marx anvertrauen heiße Stalin wiederbeleben.
Kein Zweifel: ein Brautgeschenk an die CDU/CSU. Die Fairness gebietet, ihr zu dem windigen Burschen, der sich ihr da an den Hals wirft, aufrichtig Beileid zu bekunden.