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PHILOSOPHEN / BENJAMIN Marxistischer Rabbi

aus DER SPIEGEL 16/1968

Am Abend des 25. September 1940 versuchte der jüdische Philosoph Walter Benjamin (1892 bis 1940), aus dem noch unbesetzten Frankreich nach Spanien zu fliehen. Im Grenzort Port Bou drohten Franco-Beamte, den Flüchtling zurückzuschicken, was einer Auslieferung an die Gestapo gleichgekommen wäre.

In der Nacht nahm Benjamin Gift. Morgens lehnte er ab, sich den Magen auspumpen zu lassen, und starb.

Hannah Arendt, eine Freundin Benjamins aus seinen letzten Emigrationsjahren in Paris, die heute in New York Philosophie lehrt, schrieb über Benjamins Tod: »Einen Tag früher wäre er anstandslos durchgekommen, einen Tag später hätte man in Marseille gewußt, daß man zur Zeit nicht durch Spanien konnte. Nur an diesem Tag war die Katastrophe möglich.«

Die Katastrophe traf einen Mann, der nach Überzeugung seiner Freunde zu den größten Denkern des Jahrhunderts gehörte:

* Theodor W. Adorno sah in ihm die »Energie intellektuellen Atomzerfalls« am Werk.

Gershom Scholem, der älteste noch lebende Freund und Professor für jüdische Mystik in Jerusalem, rühmte Benjamins Sprache, die »dem Leser den Atem verschlägt«. Ernst Bloch lobte den »einzigartigen Blick ... fürs bedeutsame Detail«.

Ernst Fischer, der österreichische Marxist, schilderte ihn als »Geisterseher in der Bürgerwelt«.

* Bert Brecht sagte bei der Nachricht von Benjamins Tod, das sei der erste wirkliche Verlust, den Hitler der deutschen Literatur zugefügt habe.

Als Journalist, Schriftsteller und unersättlicher Büchersammler lebte Benjamin -- dessen im KZ ermordeter Bruder mit DDR-Ex-Justizminister Hilde Benjamin verheiratet war -- in Berlin, wo er zeitweise ein 300-Mark-Stipendium der vom Zionismus geförderten Universität Jerusalem erhielt.

1934 emigrierte er nach Paris. Dort schrieb er an seinem, Fragment gebliebenen Hauptwerk der sogenannten »Passagen«-Arbeit, später »Paris, die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts« benannt -- und verfaßte Aufsätze für Max Horkheimers marxistische »Zeitschrift für Sozialforschung«. Das New Yorker Horkheimer-Institut unterstützte den mittellosen Emigranten mit 1000 Franc monatlich und beschaffte ihm kurz vor seinem Tod das Visum für die USA.

Obschon Benjamin von Zionisten und Marxisten subventioniert wurde, war er weder Zionist noch Marxist im üblichen Sinn.

»Er war«, so Bloch-Anhänger Hans Heinz Holz, »eine Art marxistischer Rabbi' für den das heilige Wort sich als Welt der Dinge und Dingbeziehungen materialisiert hatte.«

In den scheinbar nebensächlichen Dingen des täglichen Lebens sah Benjamin verschlüsselte Signale einer neuen Welt, die aus der Versöhnung von Theologie und Marxismus entstehen könnte.

Benjamins messianisch-marxistisches Zwei-Phasen-Denken ist in den Brennpunkt einer Kontroverse gerückt, die um Edition und Interpretation des Benjamin-Erbes geführt wird.

Der viele Tausende von Zetteln umfassende Nachlaß (Briefe, Notizen, Entwürfe und zahllose Exzerpte) wurde zum größten Teil von Freunden in der Pariser Nationalbibliothek versteckt. Er bildet den Grundstock des von Theodor Adorno verwalteten Benjamin-Archivs in Frankfurt.

Ein kleiner Bestand -- vor allem Briefe an Benjamin, Briefentwürfe und die Erstfassung der Baudelaire-Arbeit -- wurde von der Gestapo beschlagnahmt, nach Oberschlesien ausgelagert und 1945 von der Sowjet-Armee sichergestellt.

Im Jahre 1957 gaben die Sowjet-Behörden diesen Teil der Benjamin-Hinterlassenschaft an das Deutsche Zentralarchiv der DDR in Potsdam zurück' ohne daß die Rückgabe zunächst der Öffentlichkeit bekannt wurde.

Schon 1955 hatten Theodor Adorno und seine Frau Gretel -- beide waren seit Anfang der zwanziger Jahre mit Benjamin befreundet -- eine zweibändige Auswahl von Benjamin-Schriften herausgegeben. Erst mit dieser Ausgabe verbreiteten sich Ruhm und Ruf des toten Denkers.

In relativ kurzer Zeit war die Adorno-Auswahl von Benjamins »Schriften« vergriffen. Im Dezember 1966 monierte die »Welt der Literatur«, daß die kritische Gesamtausgabe ausgeblieben sei und die »Publikationsgeschichte von Walter Benjamins Schriften« überhaupt einem »Irrgarten« gleiche.

Einen weiteren Vorwurf erhob Kritiker Helmut Heißenbüttel in dar Zeitschrift »Merkur« 1967, nachdem Adorno und Scholem zwei Bände »Briefe« -- rund 330 von etwa 600 erhaltenen -- herausgegeben hatten. Heißenbüttel: Die Briefe ließen erkennen, daß die Herausgeber die »marxistisch-materialistische« Komponente im Werk Benjamins »gelöscht« hätten.

Heißenbüttels Vorwurf einer Nachlaß-Manipulation griff die intellektuelle Linksaußen-Zeitschrift »Alternative« aus West-Berlin auf. »Alternative« -Herausgeberin Hildegard Brenner forderte im Dezember 1967 in einem Sonderheft über Benjamin »Text-Rekonstruktionen« anhand des in der DDR verwahrten Nachlasses.

Eine Text-Manipulation sieht Hildegard Brenner etwa in der Tatsache, daß ein Brief Benjamins an Adorno in der Briefe-·Edition nicht vollständig abgedruckt wurde. Frau Brenner: Die Herausgeber versuchten, durch ihr »Monopol an Material und Publikationsrechten« der Öffentlichkeit ihr Benjamin-Bild zu »oktroyieren«.

Die ultralinke Kritik, Benjamins marxistische Intentionen durch »zahlreiche Auslassungen« kaschiert zu haben, weist Adorno entschieden zurück: »In den »bisherigen Editionen' finden sich keinerlei für die Sache irgend wesentliche Auslassungen.«

Gleichwohl ist sich Adorno-Schüler und Benjamin-Experte Rolf Tiedemann darüber im klaren, daß die Ausgabe der »Schriften« »wissenschaftlich unzulänglich« gewesen ist. Allerdings konnte die Auswahl von 1955 angesichts des noch unbearbeiteten Nachlasses auch »keine wissenschaftliche Authentizität« (Adorno) beanspruchen.

Anders steht es jedoch nach Tiedemanns Ansicht mit der »Briefe«-Auswahl. Eine »ungekürzte Ausgabe« sei fraglos vorzuziehen gewesen, jedoch: »Verlangen darf sie niemand, wo es um Briefe an Lebende und solche, die von Lebenden handeln, geht.« Den Versuch, sie durch »unautorisierte« Vorabdrucke »erzwingen zu wollen, nennt er »Gewissensterror«.

Auch »textkritisch« fand Tiedemann an der Briefe-Auswahl allerhand auszusetzen: falsch entzifferte Wörter, Anmerkungen an falschem Platz, zwei von ihnen mit Fehlinformationen, und ähnliche Errata mehr.

Freilich resümiert der Benjamin-Experte: »Mit »Nachlaß-Manipulation' oder »Löschung der marxistisch-materialistischen Seite Benjamins' haben diese Irrtümer soviel Ähnlichkeit wie die Methode Heißenbüttels und der »Alternative' mit Wissenschaft und Kritik, also gar keine.«

Im Februar fand die erste Editionskonferenz der Herausgeber von Benjamins »Gesammelten Schriften« statt. Die »Alternative« kündigte derweil ein neues Benjamin-Heft an, mit dem sie der Öffentlichkeit ihr Benjamin-Bild oktroyieren will.

Erst wenn 1974 die kritische Gesamtausgabe in fünf Bänden vorläge, meinen die Herausgeber, würde der polemisch entfesselte Streit um Benjamin wissenschaftliches Niveau erreichen.

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