TOURISMUS Mast auf dem Meer
Der italienische Kreuzfahrer »Galileo Galilei« passierte eben die Straße von Gibraltar -- da griff eine 45jährige Engländerin mit spitzem Schrei zum Teller und schleuderte ihrem schmatzenden Tischnachbarn eine Portion Spaghetti Bolognese ins Gesicht: Eine Woche lang hatte sie den Chef-Stewart vergebens um einen anderen Platz im Speisesaal gebeten.
»Alles sehr ruhig und harmonisch«, freute sich dagegen eine 29jährige Münchnerin nach 14 Tagen Kreuzfahrt auf der westdeutschen »Europa": Zwischen Venedig und Haifa hatte sie sich »blendend amüsiert«, acht Pfund zugenommen und ihren späteren Ehemann kennengelernt.
Zwischen solchen Extremen -- kalorienreicher Erholung und gelegentlichen Reibereien -- bewegt sich eine Urlaubsart, die immer beliebter wird: Rund 240 000 Bundesbürger, nahezu doppelt so viele wie noch vor fünf Jahren, enterten 1978 Musikdampfer aller Größen und Klassen -- und buchten sich, übertroffen nur von den Amerikanern, zur zweitgrößten Kreuzfahrer-Nation der Welt hoch. »Die Kähne«, konstatiert Sectours-Manager Otto Schüüssler, »sind voll.«
So waren Hapag-Lloyds »Europa« im vergangenen Jahr zu 80, die drei Kreuzfahrer der norwegischen Royal Viking Line gar zu 84 Prozent ausgelastet -- bei 65 Prozent beginnt für die Reeder das Verdienen: Allein die »Europa« fuhr 1978 etwa acht Millionen Mark Gewinn ein. »Die Branche«, meint Experte Schüssler, »bat gut verdient.«
Rund 280 Millionen Mark werden sich die Westdeutschen ihren Hang zur Wellenbummelei in diesem Jahr kosten lassen: Mal 695 Mark für einen siebentägigen Billigst-Trip durchs Mittelmeer (Trans Tirreno Express) -- in Vierbettkabinen, deren Maße an fortschrittlichen Strafvollzug gemahnen; mal 48 695 Mark für eine zweieinhalbmonatige Weltreise in großzügigen Luxussuiten (Royal Viking Line).
Im Sommer schippern sie vornehmlich ums Nordkap oder im Mittelmeer, winters kreuzen die meisten zwischen Kanarischen Inseln und Karibik: »Für eine Kreuzfahrt greifen die Leute tief und tiefer in die Tasche«, kommentiert Hapag-Lloyd-Verkaufsleiter Dirk Penner.
»Dieser Trend zum Kreuzfahren«, so ein Touropa-Sprecher, »geht einher mit einer Verjüngung und sozialen Streuung des Publikums.« Denn inzwischen stechen nicht mehr ausschließlich betagte Reiche, die den Musikdampfern einst den Ruf geriatrischer Brillantenkreuzer einfuhren, in See: Wie eine Passagieranalyse der Caribbean Cruise Line jüngst ergab, ist der Altersdurchschnitt auf 47 Jahre gesunken.
Die »Herrschaften im besten Alter« (Schüssler) suchen beim Kreuzfahren das Abenteuer der Fremde, ohne dabei auf gewohnten Komfort und europäische Kost verzichten zu müssen. Daß sie während der meist eintägigen Landausflüge nur wenig zu sehen bekommen, verdrießt rechte Kreuzfahrer kaum: »Kein Kofferpacken, kein Chaos auf Flugplätzen, das deutsche Zuhause schwimmt immer mit«, schwärmt ein Passagier. Und die Münehner Reisebüro-Angestellte Angelika Betz lobt: »Es gibt keine bequemere Art zu reisen.«
Freilich auch kaum eine opulentere: Bei fünf bis sieben Mahlzeiten am Tag gilt erfahrenen Meereskreuzern als Faustregel -- eine Woche auf See ist gleich zwei Kilo Gewichtszunahme. Gegen diese Mast auf dem Meer helfen die allmorgendlichen Kämpfe um die besten Liegestühle ebensowenig wie Volleyball. Tischtennis, Tontaubenschießen oder kräftige Schwimmstöße im Mini-Pool. Und auch der abendliche Tanz, bei dem sich die Schiffsoffiziere weisungsgemäß um alleinstehende Damen mühen, hilft nicht gegen den Kalorienüberschuß.
Auf sowjetischen Kreuzfahrtschiffen sind Essen und Freizeitangebot noch im bescheidensten. »Öfter Hack als Steak und auch sonst wenig los«, mäkelte ein Passagier nach zwei Wochen Schwarzmeerfahrt. Dafür lagen in der Bordbibliothek die Parteitagsreden des Genossen Generalsekretär zur kostenlosen Mitnahme aus.
Viele schätzen freilich die zwanglose Atmosphäre auf Russen-Dampfern ohne den auf den meisten West-Schiften üblichen gesellschaftlichen Kreuzfahrerstreß mit Smokingzwang und Dinnerjacket. Und vor allem sind die Sowjet-Kreuzer, obwohl sie sich mit Volldampf dem Weltpreisniveau nähern, »immer noch billiger als viele andere« (Schüssler). So haben allein die Branchenführer Neckermann und Reisen (NUR), Touropa und Seetours für 1979 neun Russenschiffe gechartert.
In den sechziger Jahren liefen die Sowjets erstmals mit Dumpimigpreisen zum Devisenfang aus und erschlossen den westlichen Veranstaltern eine neue Kreuzfahrt-Klientel: Der Urlaub hinter der Reling, bis dahin Domäne ler Wohlhabenden, war plötzlich auch für weniger Betuchte erschwinglich. Überdies sind Seetouristen ein besonders treues Publikum -- jeder zweite, ler mal auf einem Musikdampfer fuhr, kehrt wieder an Bord zurück.
So pflügt inzwischen eine Ferien-Armada von 103 Kreuzfahrtschiffen durch die Weltmeere: Allein während der letzten drei Jahre stellten die Reeder elf neue Schiffe in Dienst -- aus Kostengründen meist Umbauten anderer Schiffstypen.
Für 15 Millionen Mark ließ etwa die Finnlines ihr Fährschiff »Finlandia« zum Kreuzfahrer umrüsten. Und die Emerald Seas« der Eastern Steamship line war einst als US-Truppentransporter »General W. P. Richardson« vom Stapel gelaufen.
Hapag-Lloyd dagegen, die während ler letzten Jahre mit ihrer veralteten Europa« (Baujahr: 1952) gut verdient haben, lassen einen neuen Kreuzer auf Kiel legen: die »Europa II«. die für 169 Millionen Mark in Bremen zusammengeschweißt wird, soll im Herbst 1981 auf Jungfernfahrt gehen.
Während die Branche heute immer mehr zusätzliche Tonnage flottmacht, ging berühmten Luxus-Linern wie der britischen »Queen Elizabeth« oder der französischen »France« schon vor Jahren der Dampf aus.
Die Ozeanriesen, konzipiert für den Linienverkehr zwischen Europa und Amerika, wurden mit sinkenden Flugpreisen unrentabel -- ihre Kundschaft stieg auf die schnelleren und billigeren Jets um.
Auch der Versuch, die mächtigen 70 000-Tonner mit Platz für über 1500 Passagiere durch Kreuzfahrten am Lehen zu halten, schlug fehl. Im Gegensatz zu den üblichen Musikdampfern (10 000 bis 25 000 Tonnen) konnten die Riesen nicht treibstoffsparend durch Kanäle schiffen. Und »wenn eineinhalbtausend Passagiere zum Landausflug aufbrachen, gab es immer ein irrsinniges Chaos«, kommentiert Hapag-Lloyds Penner.
So endeten die noblen Superschiffe, einst maritimer Stolz ihrer Nation, als Schrott -- oder sie dümpeln, wie die ehemals britische »Queen Mary« vor dem kalifornischen Long Beach, als schwimmende Hotels an den Kais fremder Städte.
Nur noch wenige große Passagierdampfer halten die Flagge alter Liner-Herrlichkeit hoch: etwa die britische »Queen Elizabeth II«, die im Sommer 30 Linienfahrter) zwischen Alter und Neuer Welt absolviert und im Winter als Musikdampfer durch die Meere kreuzt -- mit zwei Tonnen Kaviar, 13 Tonnen Hummer, 35 000 Flaschen Champagner, 1200 Passagieren und einigen Särgen an Bord.
Der dreimonatige Queen-Elizabeth-Trip rund um den Globus zählt zu den teuersten Törns der Welt: Die luxuriösesten Suiten, zwei Penthäuser für acht Personen, kosten insgesamt 480 000, die billigsten Kojen immer noch 19 000 Mark.
Für soviel Geld sind echte Meeres-Globetrotter nahezu ein ganzes Jahr unterwegs -- auf Frachtschiffen, die neben Stück- oder Massengut auch noch eine Handvoll Passagiere mit an Bord nehmen.
Ohne übertriebene Bedienung und großartige Buffets touren sie durch die Welt: für rund 7000 Mark vier Monate nach Fernost oder für 700 Mark in Richtung Finnland -- acht Tage lang oder vielleicht auch zwei Wochen.
Denn für Frachter gibt es keinen festen Fahrplan: Agenten dirigieren das Schiff kurzfristig um, streikende Löschmannschaften lassen es manchmal tagelang auf Reede liegen, und plötzliche Stürme zwingen bisweilen zur Kursänderung -- Frachter fahren nicht die sicheren Schönwetterrouten.
Trotz solcher Fährnisse reißen sich die Bundesdeutschen um den Abenteuerurlaub auf See: »Für 1979 sind die meisten Fahrten ausgebucht«, so Anke Homann, Chefin des Hamburger Reisebüros Navis.
Die Langeweile an Bord macht freilich manchem zu schaffen: »Nun bin ich«, beschwerte sich ein Rentner brieflich bei der Reederei, »96 Tage auf See und habe viel gesehen, aber nichts Nennenswertes erlebt.«
Und wenn tatsächlich mal was los ist, steht auch noch die Schiffsordnung zwischen Vergnügen und Passagier: Eine Reisende, die sich die lange Kongoreise auf ihre Weise zu verkürzen suchte, sperrte der Kapitän des belgischen Frachters »Teniers« kurzerhand ein -- als »Nymphomanin«.