Max Ernst: Psyche in der Gletscherhöhle
Was Max Ernst zusammengeklebt hatte, das sollte kein Betrachter wieder scheiden.
Seine aus fremden Bild-Ausschnitten mit Schere und Kleister komponierten Collagen, die 1920 auf den Surrealisten-Papst Andre Breton »wie eine Offenbarung« wirkten, erklärte der Künstler irreführend zu »Zeichnungen«. Statt der Originale gab er zunächst nur Reproduktionen in den Handel, und den Klischeuren schärfte er ein, für den Druck alle Klebe-»Nähte« zu »verwischen«, um so das »Geheimnis« seiner Produktion zu wahren.
Mittlerweile hat Ernst, 83 und am eigenen Lebenswerk schon fast archäologisch interessiert, selber Schwierigkeiten, die absichtlich kaschierten Spuren wieder freizulegen.
»Wie oft«, so berichtet der Ernst-Freund und -Forscher Werner Spies. 37, »saßen wir zusammen, um mit den Fingerspitzen Collagen abzutasten
die unsichtbaren Narben verlaufen häufig dort, wo man es nicht vermutet.« Und weil der Meister auch kaum noch weiß, woher er einst das Material für seine Klebe-Graphiken genommen hat, unterzog sich Spies der Mühe, in Bibliotheken und Antiquariaten »Hunderte Bücher« nach den Vor-Bildern zu durchforschen.
Die Fahndung hat gelohnt. Als Ausbeute publiziert Spies nun weit mehr als eine reichhaltige, amüsante Sammlung von Ernst-Quellen, etwa aus Kaufhauskatalogen, Naturkundebüchern und Schauerromanen: Anhand derartiger Illustrationen, die sich bei Ernst schnipselweise wiederfinden, untersucht er auch zum erstenmal umfassend Sinn und Technik von dessen Collagenwerk, der »kopernikanischen Wendung« im OEuvre des Dada- und Surrealismus-Klassikers*.
Hundertfach kann der Leser und Betrachter des Spies-Buches überprüfen. wie virtuos Max Ernst zwei, drei und mehr disparate Bildelemente zusammenfügte.
Da kehrt etwa eine Gletscherhöhle, die den Bericht einer Wissenschafts-Gazette illustrierte, als Max-Ernst-Szenerie wieder, mit wenigen Handgriffen zur Unkenntlichkeit verfremdet. Die Vorlage nämlich ist um 90 Grad ge-
* Werner Spies: »Max Ernst -- Collagen«. Verlag M. DuMont Schauberg, Köln: 500 Seiten mit 757 Abbildungen; 148 Mark.
dreht, so daß aus dem senkrechten Schacht ein horizontaler Tunnel wird; die hängenden Eiszapfen erscheinen als bizarre Reflexe, die Leitern der »Höhlenforscher suggerieren Wasserspiegel.
Denn die zugehörigen Figuren sind verschwunden -- überklebt von einer knapp drapierten Frauengestalt, die aus einem gründerzeitlichen Psyche-Epos stammt. Ihrerseits so gedreht, daß sie die ursprünglich aufgestützten Arme wie balancierend oder abwehrend zur Seite streckt, scheint sie nun durch den düsteren Raum zu schweben. Von links hält eine Hand ein Buch mit Mäuse-Bildern herein -- einen Scherzartikel aus dem 18. Jahrhundert, den Ernst in einer französischen Zeitschrift wiedergegeben fand.
Erst ein Rück-Blick auf das Urmaterial kann recht die Leistung des Künstlers deutlich machen: Einzeln reizlose Blätter hat Ernst zu spannungsvoller Komposition von rätselhaftem Inhalt gemixt.
Solch ein Verfahren prägt, in mannigfachen Varianten, das Werk Max Ernsts, seit er laut eigenem Bericht 1919 »an einem Regentag in Köln am Rhein« einen illustrierten Lehrmittelkatalog für naturwissenschaftliche Demonstrationen aufschlug. Die »Absurdität dieser Ansammlung« rief ihm prompt »eine halluzinierende Folge von widersprüchlichen Bildern hervor«.
Dem pädagogischen Arsenal entnommen war eine Apparatur, mit deren Hilfe der »Dadamax« zwei Jahre später eine »Vergasung der vulkanisierten Eisenbraut zur Erzeugung der nötigen Bettwärme« bewerkstelligen wollte. 1954 enthüllten Berliner Schüler als vermeintlichen Skandal, daß dahinter, auf den Kopf gestellt und teilweise übermalt, ein ihnen aus dem Unterricht bekanntes Schema der Salpetersäurefabrikation steckte. Im übrigen griff der Ernst der frühen Jahre auch auf Maschinenteile, Hüte und anatomische Fragmente zurück.
Seine Motive und die verrückten Situationen, in die er sie brachte, mochten gezeichnet, gemalt, übermalt, aus Photo-Elementen montiert, wiederum photographiert und dann noch übermalt sein -- typisch wurde schließlich die aus gedruckten Bildelementen zusammengesetzte und im Druck, als Strichätzung, wiedergegebene Collage.
In dieser Machart gab Max Ernst 1922 zwei Collage-Serien zu Gedichten seines Pariser Freundes Paul Eluard und zu einem Ernst-Eluardschen Mischtext heraus. Nach einer Collagen-Pause, in der er aber Collagier-Methoden für Gemälde und für das von ihm erfundene Durchreibe-Verfahren ("Frottage") nutzbar machte, publizierte er in den Jahren um 1930 drei umfangreiche »Collageromane« als Höhepunkte des Genres: alpträumerische Bilderfolgen voll Erotik, Grausamkeit und Naturkatastrophen, von vogel- und löwenköpfigen Figuren bevölkert.
Schon ehe der Künstler 1922 von Köln nach Paris umzog, hatte er sich von daher »Rohmaterial« verschafft. »Wenn Sie alte Kataloge von Warenhäusern u. Modezeitschriften, alte Illustrations usw. finden«, schrieb er an seinen Dada-Bruder Tristan Tzara, »so bitte sie mir zu schenken.« Selbst an der Quelle, sah sich Ernst dann offenbar fleißig bei den Seine-Bouquinisten um.
Was er vorzugsweise suchte und fand, waren, Spies, Nachforschungen zufolge, in Wort und Bild belehrende Schriften ("La Nature«, »Physique Populaire") und illustrierte Romane ("Les Damnées de Paris") von der bereits im Brief an Tzara gewünschten antiquarischen Beschaffenheit.
Gerade die alten Bilder-Blätter (bis weit in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück) boten eine für Ernsts Zwecke ideale Voraussetzung: Das vorherrschende Reproduktionsmedium jener Zeit, der von einem gleichmäßigen Druckraster überzogene Holzstich, erlaubte es, gegensätzliche Sujets in einheitlichem Stil zu koppeln; Farb-Unterschiede des Papiers verschwanden dann im Nach-Druck.
Die »technische Plausibilität« (Spies) verstärkt nur noch die komische bis beklemmende Fremdartigkeit Ernstscher Motivkonstellationen. Denn die Collage, scherzt Spies, »versetzt« den jeweiligen Kontext des Bildelements, »wie man -- cum grano salis -- ein Mädchen versetzt«.
Bei der Transplantation kann jeder Gegenstand, jede Form die Bedeutung gründlich ändern: Physikalische Experimente arten ins Übersinnliche aus, medizinische Apparate verwandeln sich in Mordinstrumente, ein andermal wird vexierbildhaft ein Arm als Schenkel eingesetzt. Entsprechend spielt der Titel dieser Collage, die in einer weiblichen Gesäßrundung gipfelt, mit einem doppelsinnigen Wortklang: »Mon petit Mont Blanc.«
Und »La femme 100 têtes«, wie Ernst seinen ersten Collageroman (1929) nannte, schillert in noch mehr Bedeutungen. Die schemenhafte Hauptfigur kann als hundertköpfige, kopflose, starrsinnige oder blutsaugende Frau (cent têtes, sans tête, s'entête, sang tète) verstanden werden. Geradeso hebt Ernst eben Formen und Sinn seiner Bildkunst in einen ironischen Schwebezustand. Die »pädagogische Hochstimmung« der lehrhaften Vorlagen wird durch das Romanmilieu parodiert, eine »Infragestellung des Realen anhand seiner eigenen Medien« (Spies) bewirkt und eine eigenständige Kunstwirklichkeit errichtet.
Dank der Collagetechnik kann der Künstler die Visionen und Sehnsüchte, die er veranschaulicht, zugleich als Zitate und Reproduktionen in Distanz rücken. Er greift -- ein Grundzug der Moderne -- nur noch wie »mit Handschuhen« (Spies) ein.
Die hat er bis heute nicht ausgezogen. Das Spies-Buch ist mit neuen, eigens für diesen Zweck entworfenen Ernst-Collagen geschmückt, und auch über deren Quellen wird der Leser gleich mitinformiert. Es sind, unter anderen, ein amerikanischer Biologie-Wälzer »Design in Nature« und ein 1849 in Stuttgart erschienenes »Kunstliches Fechtbuch zum Nutzen der Soldaten, Studenten und Turner«.