Zur Ausgabe
Artikel 62 / 79

SPIEGEL Gespräch »Mehr Freiheit für den Patienten«

aus DER SPIEGEL 30/1976

SPIEGEL: Herr Minister, die Gesundheitskosten für 1975 liegen nun auf dem Tisch. Allein bei den Ersatzkassen ist eine Steigerung der Ausgaben um 22 Prozent zu verbuchen. Trotzdem konnte sich die sozialliberale Koalition in Bonn nicht auf Maßnahmen zur Dämpfung dieser Gesundheitsausgaben einigen. Ist der Staat unfähig, mit dieser Kostenflut fertig zu werden?

FARTHMANN: Wir dürfen nicht den Eindruck erwecken, als ob alle Steigerungen der Gesundheitskosten vermeidbar wären. Ich gehe sogar so weit: An eine Kostensenkung ist überhaupt kein Gedanke -- noch nicht einmal ein Kostenstopp ist möglich.

SPIEGEL: Es geht ja wohl nur darum, die Kostensteigerung tragbar zu machen.

FARTHMANN: Es geht darum, die Relation von Aufwand und Leistung in ein vernünftiges Verhältnis zu bringen und dadurch eine Kostendämpfung zu erreichen.

SPIEGEL: Nur, damit das gelingen kann. wäre es doch nötig gewesen, schon in dieser Legislaturperiode etwas zur Dämpfung zu tun. Doch davor hat man sich wieder einmal gedrückt.

FARTHMANN: Nein, das kann man nicht sagen. Es ist wirklich etwas geschehen. Ob es in ausreichendem Umfange geschehen ist, will ich im Augenblick dahingestellt sein lassen. Es sind Fehlentwicklungen in vielerlei Hinsicht und auf vielen Ebenen eingetreten. Und deswegen können auch die Gegenmittel nur ein ganzes Bündel von Maßnahmen sein, die bei Krankenhäusern, niedergelassenen Ärzten und der Pharma-Industrie ansetzen müssen.

SPIEGEL: Bisher ist das doch immer daran gescheitert, daß jeder gesagt hat, wir müssen ein Bündel von Maßnahmen verwirklichen. Und jeder einzelnen Maßnahme stand eine Interessengruppe oder eine politische Gruppe entgegen, die es verstand, eine Veränderung zu verhindern.

FARTHMANN: Das ist richtig, und es kommt noch hinzu, daß wir in diesem Bereich eine ungewöhnliche Verflechtung und Überlagerung haben von Bundes- und Landeskompetenzen sowie von staatlicher Exekutive und freier Selbstverwaltung.

SPIEGEL: Nun ist es ja gerade die Masse der Arbeitnehmer, die mit ihren steigenden Beiträgen für die Krankenkasse das Ganze finanzieren. Wenn wir heute in den Spitzen schon bei 14 Prozent des Einkommens allein für die Krankenkasse angekommen sind, dann bleibt ja wohl nicht mehr so sehr viel Zeit ...

FARTHMANN: Ich bin mit Ihnen der Meinung, daß wir nicht mehr weit von dieser Grenze entfernt sind. Andererseits erwarten die Bürger unseres Landes von der Gesellschaft ein immer dichteres Netz sozialer Sicherungen gegen alle Risiken des Lebens und sind im Grunde auch bereit, dafür zu zahlen.

SPIEGEL: Das mag ja sein, aber die 14 Prozent vom Einkommen für die Krankenkassen werden ja so uneffektiv ausgegeben wie kaum anderswo. Die deutschen Ärzte sagen zwar immer, wir hätten eine »international anerkannte hervorragende ärztliche Versorgung«, aber die Zahlen sprechen dagegen. Wir haben offenbar nicht das beste System, aber wohl das teuerste.

FARTHMANN: Ich will nicht behaupten, daß wir das beste Gesundheitssystem haben. Aber ich bin davon überzeugt, daß wir in der Bundesrepublik durchaus in der Spitze stehen. Sehen Sie sich etwa die Krankenhausversorgung an. Ich glaube kaum, daß es eine Region der Welt gibt, in der den Bürgern so viele, so gute Krankenhäuser zur Verfügung stehen wie bei uns. Wir haben auf der ganzen Welt kaum eine solche Arztdichte. Kaum irgendwo gibt es in einem solchen Umfang Vorsorgemaßnahmen, die für den Patienten kostenlos sind.

* Mit Rolf S. Müller und Heiko Marten« auf dem Balkon des Düsseldorfer Landtags

SPIEGEL: Das mag wohl sein. Aber mit welchem Nutzeffekt? Sie nennen das Krankenhaus. Nur ist es ja wohl so. daß gerade innerhalb dieses Krankenhaussystems ein gewaltiger Leerlauf und eine Fehlleitung von Mitteln erfolgt. Wie wollen Sie dies ändern?

FARTHMANN: Der Krankenhaussektor ist kostenmäßig der gravierendste und auch der, der die höchsten Steigerungsraten in den letzten Jahren aufzuweisen hatte. Nach meiner Meinung gibt es mehrere Ansatzpunkte. um die Krankenhauskosten zu reduzieren; der erste hängt damit zusammen. daß wir in der Bundesrepublik eine ungewöhnlich hohe Verweildauer haben. das heißt, die Kranken halten sich bei uns ungewöhnlich lange im Krankenhaus auf

SPIEGEL: ... oder werden ungewöhnlich lange festgehalten.

FARTHMANN: Das will ich jetzt dahingestellt sein lassen. Jedenfalls beträgt die durchschnittliche Verweildauer um die 17 Tage. bei Pflegesätzen von etwa 150 Mark pro Tag. Das ist im internationalen Vergleich extrem hoch. In Schweden liegt sie bei 12 Tagen. Lind in den USA sogar um 8 Tage.

10 000 überflüssige Krankenhausbetten in Nordrhein-Westfalen.

SPIEGEL: Die Tatsache ist bekannt, wie wollen Sie das bekämpfen?

FARTHMANN. Zuerst noch eine Zahl dazu: Wenn es uns gelingen würde. die durchschnittliche Verweildauer uni einen einzigen Tag zu senken, würden allein in Nordrhein-Westfalen 8300 Krankenhausbetten frei.

SPIEGEL: Aber das würde zugleich bedeuten, daß Sie dafür eine entsprechende Zahl von Ärzten und Pflegern abbauen. Deren Bezahlung macht ja 75 Prozent der Pflegekosten aus.

FAHRTMANN: Genau so ist es. Das Problem. das Sie angesprochen haben, besteht darin, daß eine Reduzierung der Verweildauer kurzfristig sogar zu einer Kostensteigerung führen kann. Denn bei den Krankenhäusern gilt natürlich das gleiche. was auch in Wirtschaftsbetrieben zu beobachten ist: Eine Senkung des Auslastungsgrades bedeutet zunächst eine Erhöhung der einzelnen Stückkosten oder hier der einzelnen Fallkosten. Die zur Kostenminderung erforderliche Reduzierung des Arzt- und Pflegepersonals läßt sich bei Berücksichtigung sozialer Gesichtspunkte nur allmählich erreichen. Hierbei handelt es sich im übrigen um ein Problem, das wir in der Wirtschaft täglich zu lösen haben. Immerhin: In Nordrhein-Westfalen haben wir die durchschnittliche Verweildauer in den letzten zwei Jahren von 17,3 auf 16,7 Tage senken können.

SPIEGEL: Wie geht das? Sie können doch nicht dem Arzt sagen, schick' die Leute alle mal einen Tag früher nach Hause.

FARTHMANN: Wir versuchen zum einen, die Kleinstkliniken mit Belegärzten abzubauen. Denn nirgendwo ist die Verweildauer so hoch wie dort, wo Belegärzte bestimmen. Es wäre auch unrealistisch, von einem Belegarzt zu verlangen, daß er ein leeres Bett hätte.

SPIEGEL: Es wäre gegen seine wirtschaftlichen Interessen.

FARTHMANN: Ganz recht.

SPIEGEL: Was können Sie außerdem tun?

FARTHMANN: Die Krankenhausleistung ist in den letzten Jahren verbessert worden. Auch das hat dazu geführt. daß sich der Aufenthalt im Kranken haus verkürzt. Das hat wiederum zur Folge, daß es überflüssige Krankenhausbetten gibt. So haben wir zur Zeit in Nordrhein-Westfalen schon mindestens 6000 Betten zuviel, vielleicht sogar schon 10 000.

Die besondere Schwierigkeit besteht allerdings darin, aus dieser Erkenntnis die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Wer ist schon in der Lage, als politische Exekutive zu bestimmen: Hier oder dort werden Krankenhäuser aus dem Verkehr gezogen, mit all den daraus folgenden arbeitsrechtlichen Problemen für das angestellte Pflegepersonal und die Ärzte, und angesichts des ungeheuren Prestiges. das ein Krankenhaus für eine Kommune oder für einen konfessionellen Träger darstellt.

SPIEGEL: Politisch nur schwer durchzusetzen ...

FARTHMANN: Ja, wir bemühen uns nach Kräften. Wie ich bereits sagte, werden wir die Kleinstkrankenhäuser finanziell nicht mehr fördern. Ein zweiter Weg wird sein: Förderung von Investitionen nur noch, wenn sie der Kapazitätsverminderung dienen.

SPIEGEL: Geringeres Bettenangebot also, um dem -- vorwiegend wirtschaftlich bestimmten -- Interesse des Krankenhausträgers entgegenzuwirken, die Patienten unnötig lange im Haus zu halten.

FARTHMANN: Dabei muß allerdings eines noch bedacht werden: Es gibt auch gerade bei uns in Nordrhein-Westfalen häufig die sogenannte sozialindizierte Verweildauer: Damit sind alleinstehende, pflegebedürftige Personen gemeint, bei denen der Arzt es nicht für verantwortbar hält, sie aus dem Krankenhaus zu entlassen, obwohl überhaupt kein Bedürfnis besteht, hier das teure Akutkrankenhausbett zu belegen.

SPIEGEL: Patienten, die eigentlich in ein Pflegeheim gehören.

FARTHMANN: Altenpflegeheime -- das ist der große Engpaß, den wir noch haben. Deshalb versuchen wir auch, kleine Krankenhäuser in Altenpflegeheime umzuwandeln, in denen man dann mit einem sehr viel geringeren Pflegesatz auskäme. Aber hier gibt es ein neues Problem: Die Krankenkassen sehen sich nach dem Gesetz nicht in der Lage. Altenpflegeheime als Kassenleistung anzuerkennen. Das führt dazu, daß Ärzte aus für mich sogar verständlichen Gründen den Krankenhausaufenthalt des Patienten in dessen Interesse verlängern.

Nehmen wir zum Beispiel einen Rentner: Den Krankenhausaufenthalt bezahlt die Kasse, und seine Rente bekommt er dazu. Wenn er jetzt ins Pflegeheim kommt, zahlt die Krankenkasse nichts. Das bedeutet, daß seine Rente für den Pflegeaufenthalt voll in Anspruch genommen wird und in vielen Fällen nicht einmal ausreicht, so daß die Sozialhilfe den Rest abdecken muß. Der Patient behält in diesem Falle nichts als ein Taschengeld.

Dies ist ein Problem, das wir auf der letzten Arbeitsministerkonferenz ausführlich behandelt haben. Dabei haben wir gefordert, daß die Pflegekosten künftig als Kassenleistung übernommen werden.

SPIEGEL: Aber tragen nicht sowohl das Krankenhausfinanzierungsgesetz, das Neubau-Kosten dem Bund aufbürdet, als auch die Pflegesatzverordnung, wonach die Pflegekosten voll von den Kassen bezahlt werden, eher zur Kostensteigerung bei?

FARTHMANN: Ich bin der Meinung, daß das neue Krankenhausfinanzierungssystem besser ist als der alte Zustand. Früher hing die Qualität der Versorgung davon ab, ob ein Krankenhausträger finanziell in der Lage war, zu investieren. Wenn er es nicht konnte, blieben die alten Baracken stehen, und die Leute wurden in slumähnlichen Verhältnissen behandelt.

SPIEGEL: Das Ergebnis der Gesetzesänderung, also die totale Trennung zwischen Investition auf der einen Seite und Folgekosten auf der anderen Seite, ist doch auch negativ.

FARTHMANN: Ich räume ein: Das eigene Interesse des Trägers zur Sparsamkeit ist nicht mehr da. Darin sehe ich den Hauptmangel, sowohl bei den Investitionskosten als auch bei den Betriebskosten. Überspitzt formuliert könnte man sagen: Ein kommunaler Träger könnte bei einem Krankenhausneubau unter Umständen sogar ein Interesse daran haben, die Kosten zu treiben, weil dies den Handwerkern am Ort zugute kommt.

SPIEGEL: Und nimmt damit die hohen Folgekosten vorweg.

FARTHMANN: Das braucht nicht so zu sein. Aber bei den Betriebskosten gibt es auch keine Sparmotivation, weil der Träger nach dem System der Bundespflegesatz-Verordnung sämtliche Kosten zu 100 Prozent über den Pflegesatz abrechnet.

SPIEGEL: Also muß das Krankenhausfinanzierungsgesetz modifiziert werden.

FARTHMANN: Das Krankenhausfinanzierungsgesetz ist von der Vorstellung ausgegangen, daß alle Krankenhausträger gleiche Startchancen haben sollten. Und es ist davon ausgegangen. und das war wohl etwas unrealistisch. daß durch öffentliche Kontrollen uneffiziente Betriebsführung oder uneffiziente Investitionen vermieden werden könnten. Aber öffentliche Kontrolle kann hier wie auch in anderen Lebensbereichen nur sehr grobe Mißbräuche verhindern. Sie ist nie so effektiv wie eigenes Interesse. Und deswegen meine ich, daß wir das Krankenhausfinanzierungssystem ändern müssen, indem wir ein Eigeninteresse des Trägers sowohl bei den Betriebskosten als auch bei den Investitionskosten einbauen.

SPIEGEL: Aber sollen denn die Krankenhäuser zu gewinnorientierten Unternehmen werden, wie die Ärzte?

FARTHMANN: Das wollen wir weiß Gott vermeiden. Es soll nicht Wettbewerbsdenken einkehren, aber es soll rationelle Betriebsführung gewissermaßen belohnt werden können. Und deswegen schwebt mir vor, daß wir einen auf die Leistung und Aufgabenstellung des Hauses abgestimmten Richtwert sowohl für die Baukosten als auch für die Betriebskosten entwickeln und dann sagen: Wenn ihr den übersteigt, dann müßt ihr einen Teil selbst tragen, und wenn ihr den unterschreitet, dann kommt euch zumindest ein Teil davon zugute. Dieses schwierige Problem muß natürlich noch genauer durchdacht werden.

SPIEGEL: Gut. Aber wie steht es dann nun mit dem anderen vieldiskutierten Rationalisierungspunkt, der Einführung der vorstationären Diagnostik. Erst allmählich wird, gegen starken Widerstand der Ärzteschaft. mit ersten Modeliversuchen begonnen.

FÄRTHMANN: Auch dieser Punkt. die Aufhebung der starren Trennung zwischen ambulanter und stationärer Versorgung, gehört ja in den Bereich Verkürzung der Verweildauer.

SPIEGEL: Sie müßten dazu aber die Reichsversicherungsordnung ändern.

FÄRTHMANN: Ja, dabei müssen wir allerdings mit dem Widerstand der Ärzte rechnen. Diese haben mir gesagt, die Einführung der vorstationären Diagnostik und der nachstationären Behandlung wäre für sie der absolute Casus belli.

SPIEGEL: Denken Sie dabei auch an die Öffnung der Krankenhäuser für ambulante Behandlung?

FARTHMANN: Das wäre ein noch weitergehender Schritt, den ich als Fernziel ebenfalls bejahen würde. Die Ärzte sehen ja darin einen Schritt zum Abbau der Freiheit des Patienten. Aber für mich bedeutet gerade dieses: mehr Freiheit für den Patienten. Als Privatpatient nehme ich mir das Recht, wenn ich mir eine Zehe gebrochen habe, in eine Klinik zu gehen oder zu wem ich sonst möchte. Das ist heute für den Kassenpatienten nicht möglich. Hier ist seine Freiheit beschnitten.

SPIEGEL: Die Ärzte wollen umgekehrt noch ihre eigenen Freiheiten ausweiten und fordern jetzt, daß jeder Arzt praktisch als Belegarzt im Krankenhaus tätig werden kann.

FARTHMANN: Ich habe nichts dagegen, den niedergelassenen Ärzten die apparative Ausrüstung des Krankenhauses in Grenzen zur Verfügung zu stellen. Aber ich will keine Belegkrankenhäuser, in denen also der niedergelassene Arzt über eigene Betten verfügen würde. Ich glaube, daß bei Belegbetten das wirtschaftliche Motiv zu allzu unkontrollierbaren Vorgängen führen kann. Ein Blick in unsere Statistik beweist uns auch, daß der Ausnutzungsgrad bei Belegbetten immer nahezu bei fast 100 Prozent liegt -- das ist ja auch menschlich nicht anders zu erwarten.

SPIEGEL: Andererseits muß der Arzt doch nach wie vor darüber bestimmen dürfen, wie lange sein Patient im Krankenhaus bleibt.

FARTHMANN: Eben. Weil ich seine medizinische Verantwortung nicht antasten kann, ist mir lieber, ich bringe ihn gar nicht in diesen Interessenkonflikt.

SPIEGEL: Und wie klappt es nun mit den Modellversuchen?

FARTHMANN: Ich will nicht verschweigen, in Nordrhein-Westfalen gab es verschiedentlich den Verdacht, daß die Krankenhäuser, die sich zu dem Modellversuch bereit erklärt hatten. teilweise unter einer gewissen Boykottmaßnahme der Ärzte gelitten haben. Die Einweisungen gingen bei diesen Krankenhäusern zurück. Deshalb sind in Nordrhein-Westfalen im Gegensatz zum Beispiel zu Hamburg -- die Modellversuche noch nicht vorangekommen. Ich muß hier allerdings klarstellen, daß durch die vorstationäre Diagnostik und die nachstationäre Behandlung den niedergelassenen Ärzten nichts genommen, sondern nur der teure Krankenhausaufenthalt verkürzt werden soll.

SPIEGEL: Angenommen, die geplanten Rationalisierungsmaßnahmen hätten Erfolg -- was wollen Sie mit den Krankenschwestern und Ärzten tun, die Sie ja dann entlassen müssen?

FARTHMANN: Wenn wir tatsächlich zu einer Reduzierung der Bettenkapazität auf das notwendige Maß kämen, müßte das in der Tat zu einem Überangebot an Ärzten und Pflegepersonal führen. Ich glaube aber, daß der Arbeitsmarkt durchaus in der Lage ist. das aufzunehmen, denn wir haben einen erheblichen Bedarf an Pflegepersonal etwa im Bereich der Altenpflege.

SPIEGEL: Es kämen auch Ärzte zusätzlich auf den Ärztemarkt.

FARTHMANN: Ich würde das durchaus als eine erfreuliche Umstrukturierung ansehen, denn es gibt in anderen Bereichen des Gesundheitswesens durchaus noch Engpässe, zum Beispiel im öffentlichen Gesundheitsdienst und in der Versorgung ländlicher Gebiete mit niedergelassenen Ärzten.

SPIEGEL: Wenn allerdings diese Ärzte in die freie Praxis gehen und dort ihr Einkommen selbst bestimmen, wie es ein Großteil der Ärzte heute tut. würde die Kostenflut nur von einem Sektor auf den anderen verlagert.

FARTHMANN: Das darf natürlich nicht passieren. Wir müssen sogar auf dem Gebiet der kassenärztlichen Versorgung zu einer Bedarfsplanung kommen. in dem Sinne. daß überall genügend, aber nicht zu viele Ärzte vorhanden sind.

SPIEGEL: Aber dann protestieren die Ärzte sofort gegen »Einschränkung der Niederlassungsfreiheit«.

FARTHMANN: Es gibt Untersuchungen, nach denen dort, wo es eine hohe Arztdichte gibt, auch eine überproportionale Ausdehnung des Leistungsumfangs zu beobachten ist.

SPIEGEL: Anders gesagt, die Patienten werden länger durch die diagnostische Mühle gedreht.

FARTHMANN: Für den einzelnen Patienten werden mehr Leistungen aufgewendet.

»Der freipraktizierende Arzt hat eine Schlüsselfunktion.

SPIEGEL: Aber auch wenn Sie die Zahl der Ärzte beschränken -- es wird so lange nichts bringen, wie Sie die Selbstbestimmung der Ärzte über ihr eigenes Ein kommen nicht gleichzeitig einschränken. Sonst werden halt die, die übrigbleiben, den ganzen Kuchen unter sich aufteilen.

FARTHMANN: Ich sehe mich außerstande, die ärztliche Verantwortung zu beschneiden. Ich glaube, daß gesundheitspolitisch damit mehr Schaden als Nutzen eintreten würde. Der staatlich angestellte Arzt ist zur ambulanten Versorgung der Bevölkerung für uns nicht erstrebenswert. Es darf dabei freilich nicht verkannt werden, daß wir dem freipraktizierenden Arzt natürlich eine ungeheure Schlüsselfunktion zumessen. Kein Arbeiter kann das Lohnfortzahlungsgesetz in Anspruch nehmen, ohne daß ein Arzt daran mitwirkt. Kein rezeptpflichtiges Medikament kann eingenommen werden, ohne daß ein Arzt daran mitwirkt, keine Krankenhauseinweisung, ohne daß ein Arzt daran beteiligt ist.

SPIEGEL: Müßte nicht dieser Kostenfaktor transparenter werden? Es liegen doch in den Kellern der Krankenkassen zu Zehntausenden die Papiere darüber, was in der Praxis des deutschen niedergelassenen Arztes angeblich oder tatsächlich passiert -- wie er welche Krankheiten behandelt. Und nach allem, was wir von Einzelfällen wissen und worauf die Krankenkassen bei Einzelfällen immer stoßen, ist hier offenbar ein ganz erheblicher Spielraum teils für Mißbrauch, teils einfach für mangelndes Können.

FARTHMANN: Ich sehe diese Problematik durchaus. Ich habe mich bisher in meiner jetzigen Funktion auch immer wieder bemüht, von den Krankenkassen zu hören, was sie an zusätzlichen Kontrollmöglichkeiten wünschen. Es ist mir bisher kein Punkt von den Krankenkassen genannt worden.

SPIEGEL: Sie wollen die Autonomie der Ärzte und ihre Verantwortung nicht antasten. Andererseits wird beklagt, daß die niedergelassenen Ärzte mit, im vorigen Jahr, durchschnittlich 170 000 Mark Einnahmen nach Abzug der Praxiskosten doch zweifellos erheblich zur Kostenflut beigetragen haben. Die Zahnärzte übrigens liegen noch weit höher. Sollte nicht von politischer Seite eine Vorstellung darüber, auch in der Öffentlichkeit, entwickelt werden, mit welchem Jahreseinkommen ein Arzt angemessen bezahlt ist?

FARTHMANN: Es gibt in einer freien Gesellschaft wie der unsrigen keinen Maßstab dafür, was der gerechte Lohn für einen Arzt ist, ebensowenig wie für einen Facharbeiter. Wir haben uns daran gewöhnt und haben es akzeptiert, daß sich das nach dem freien Spiel der Kräfte richtet, ausgetragen durch die verschiedenen Interessenorganisationen.

SPIEGEL: Das ist kein freies Spiel der Kräfte mehr die Ärzte auf der einen Seite, deren Einnahmen sozialisiert sind durch die Krankenkassen, und auf der anderen Seite der klaglos zahlende Patient, der gar nicht weiß, wie teuer sein Arzt und seine Medizin sind. Und die Ärzte bedienen sich aus dem Topf, sie haben in diesem Jahr wieder den höchsten Tarifabschluß, acht Prozent -- höher als die Drucker.

FARTHMANN: Davon bleiben den Ärzten jedoch nur vier Prozent Einkommenssteigerung, da die restlichen vier Prozent für Sachkostensteigerungen verbraucht werden. Aber ich betone noch einmal, in diesem Fall gibt es den echten Interessenvertreter des Patienten in Gestalt der Krankenkassen. die bezahlen müssen.

SPIEGEL: Die Krankenkassen sind doch im Grunde nicht motiviert, für den Patienten zu sparen. Je größer der Einnahmetopf der Krankenkasse, um so mehr Posten gibt es da, um so höher auch der Status des jeweiligen Kassenvorsitzenden.

FARTHMANN. Der Maßstab hierfür ist die Zahl der Versicherten. Im übrigen will ich gerne zugeben, daß ich mir in der Vergangenheit oft mehr Selbstbewußtsein auf der Krankenkassenseite bei den Tarifverhandlungen mit den Ärzten gewünscht hätte. »Läuft in der Konjunktur alles wieder aus dem Ruder?

SPIEGEL: Solange wir ein Krankenkassensystem haben, das aus 1500 großen und kleinen Kassen besteht, die sieh gegenseitig die Mitglieder abspenstig machen müssen, um überleben zu können, werden sie kein echtes Gegengewicht zur Ärzte-Macht darstellen.

FARTHMANN: Ich glaube auch. daß tendenziell eine effektivere Stellung nur erreicht werden kann durch größere Einheiten. Das ist leichter gesagt als getan. So erleben wir zur Zeit in Nordrhein-Westfalen erhebliche Schwierigkeiten, da wir hier durch die Verwaltungsreform gehalten sind, die Zahl der Ortskrankenkassen zu reduzieren: da wird nun zum Beispiel mit der Gründung neuer Betriebs-Krankenkassen gedroht.

SPIEGEL: Der freiberufliche Arzt, der in den letzten 15 Jahren immer geklagt hat bei der kleinsten Maßnahme. seine Freiheit würde eingeschränkt, hat seine Freiheiten immer weiter ausgedehnt. Er hat die Vorsorgeuntersuchungen übernommen, die früher eigentlich dem öffentlichen Gesundheitsdienst zugeschrieben worden waren. Er kann heute jedes Medikament verschreiben, und sei es noch so wirkungslos. Es werden zum Beispiel Hunderte von Millionen Mark in Deutschland ausgegeben für unwirksame sogenannte Lipid- oder Blutfettsenker, die den Ärzten von der pharmazeutischen Industrie aufgeschwatzt werden. Müßte es nicht hier, ähnlich wie in der Schweiz. eine Liste von wirksamen Medikamenten geben, deren Verschreibung von den Kassen übernommen wird?

FARTHMANN: Ich wurde es als eine der wichtigsten Maßnahmen betrachten, daß wir diesen Riesenbereich von theoretisch zur Verfügung stehenden Medikamenten einschränken, daß wir die berühmte Rote Liste auf ein Minimum reduzieren und verlangen müssen, daß diese Rote Liste konkrete Angaben enthält über den Preis des Wirkstoffs. der bisher nicht ersichtlich ist.

SPIEGEL: Da hat es jüngst mit dem Arzneimittelgesetz eine Reform gegeben, aber wohl eher zugunsten der Arzneimittelindustrie.

FARTHMANN: Das Arzneimittelgesetz ist wieder ein Schritt näher zum Ziel, aber noch lange nicht die Erreichung des Ziels. Aber ich meine, daß auch die pharmazeutische Industrie inzwischen gemerkt hat, daß sie gleichfalls ein Interesse daran haben muß, unser Gesundheitssystem bezahlbar zu halten.

SPIEGEL: Sie vertrauen auf die Einsicht aller Beteiligten. Darin sind wir in den vergangenen Jahren enttäuscht worden. Denn die ersten Analysen über die Mängel des Gesundheitssystems gab es schon Ende der 60er Jahre.

FARTHMANN: Wobei wir naturlich sagen müssen, daß in den vergangenen Jahren nicht der massive finanzielle Druck über allen Beteiligten stand, wie er heute da ist.

SPIEGEL: Wir haben zu Anfang über die 14 Prozent Beitragssatz gesprochen. Wird das in den nächsten Jahren den nötigen politischen Druck erzeugen?

FARTHMANN: Ich glaube sogar. daß schon in diesem Jahr eine gewisse, sogar deutlich spürbare Senkung der Steigerungsrate erkennbar wird. Ich kann mir nicht denken, daß all die Äußerungen guten Willens, angefangen von der Bereitschaft der ärztlichen Organisationen, auf die Verschreibungspraxis ihrer Mitglieder einzuwirken, bis hin zur Werbungskosten-Selbstbeschränkung der pharmazeutischen Industrie -- daß all dies nur in den Wind gesprochen ist. Alle Beteiligten müssen wissen, daß andernfalls sehr viel härtere Maßnahmen unvermeidbar werden. Was ich vielmehr befürchte, ist folgendes: Wenn wir wieder eine anlaufende Konjunktur haben mit steigenden Löhnen und der Druck nicht mehr spürbar ist wie jetzt, daß dann erneut wieder alles aus dem Ruder laufen könnte.

SPIEGEL: Herr Farthmann, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Mehr lesen über

Zur Ausgabe
Artikel 62 / 79
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren